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„Gaidao“ Nr. 25 /2012

“ … nur weil mensch sich am Bart wahlweise Marx‘ oder Bakunins festklammert, ist mensch längst noch nicht auf der richtigen Seite.“

Erneut serviert uns Phillippe Kellermann ein spannendes Buch. Wie mensch es inzwischen von ihm kennt, verfolgt er auch hier sein Programm: das Erforschen der widersprüchlichen und gar nicht so glorreichen Geschichte des Sozialismus, um überhaupt dessen Gegenwart zu verstehen, geschweige denn irgendwas über seine Zukunft aussagen zu können. Ja, stellt euch vor, ihr eventorientierte „Machmenschen“ und schwarz gekleidete Hippies, so verhält es sich nämlich (Der Herausgeber muss es ja wissen, gehört er doch zu einer richtig seltenen Spezies! – siehe Fußnote 24, S. 67). Angesichts des kolossalen Scheiterns aller emanzipatorischen sowohl marxistisch als auch anarchistisch inspirierten Groß- und Kleinprojekte im 20. Jahrhundert gerät jedeR, der/die heute von Freiheit und Selbstverwaltung redet, in eine ziemliche Erklärungsnot. Nicht nur vor den zu Ich-AGs degradierten Mitmenschen, sondern zuallererst vor sich selbst. Dieses Kellermann-Büchlein leistet einen Beitrag dazu – hm, wozu denn eigentlich? Eher zum Fragen und Immer-wieder-Nachfragen als zum Beantworten von Fragen und das ist gut so. Vorausgesetzt mensch bringt genug Kraft und Geduld auf, um Gelehrtenkonversationen zu horchen und sich durch unzählige Fußnoten durchzubeißen.

Im Unterschied zum Sammelband „Die Begegnungen feindlicher Brüder“ (Unrast, 2011) besteht das Büchlein aus Gesprächen mit verschiedenen Autor*innen, die sich mehr oder weniger explizit als marxistisch verstehen. An jedeN hängt sich Kellermann mit der Frage „Und was ist mit dem Anarchismus?“ und dann ufern die kritisch-solidarisch gemeinten Streitgespräche aus, wobei die jeweiligen Schwerpunkte oder für die Autor*innen interessanten Themen zur Sprache kommen. Ans Land gespült werden unzählige Literaturverweise für jedeN, der/die weiter selbstständig den angesprochenen Sachverhalten nachgehen möchte.

So spricht Bini Adamczak vom Erbe der Oktoberrevolution, von der Revolution als einem Ensemble von Missverständnissen und wiederholt somit Landauers These, dass der revolutionäre Prozess jeder Theorie nur eins ist und bleiben wird: eine Black Box. Die Geschichte „der Linken“ (Differenzen zwischen unterschiedlichen Strömungen hin oder her, ein schwammiger und nicht wirklich was aussagender Begriff; jedeR weiß, was das ist, und niemand weiß es so genau) wird sich in ihrer Ganzheit nur am Ende der Geschichte offenbaren (offensichtlich sind wir noch nicht so weit), plädiert jedoch Adamczak für eine Dekonstruktion der historisch längst überholten Rollen „Marxismus“ und „Anarchismus“.

Jochen Gester betrachtet die „linke“ Geschichte wesentlich pragmatischer, stellt Fragen nach einer angemessenen Organisationsform der emanzipatorischen Bewegung, der es gelingen würde, der schädlichen Staatsgläubigkeit der „Linken“ zu entgehen. Die Frage nämlich, die sich der Anarchismus seit jeher gestellt hat – nicht, dass er sie auch überzeugend beantwortet hätte: Selbstorganisation und direkte Demokratie sind bekanntlich nicht besonders spaßige, sondern nervtötende und kraftraubende Unterfangen. Die von Gester angedeuteten Lösungen muten merkwürdig an: eine repräsentative Organisation, die ihren Mitgliedern die Last der Selbstorganisation wenigstens zum Teil abnimmt und das staatliche Terrain in Poulantzas´ Sinne als ein vermeintlich neutrales „Kräfteparallelogramm“ versteht, nur um nach gescheiterten Kämpfen um Verrechtlichung den Massen den Unfug der Staatsgläubigkeit zu demonstrieren. (S. 61) Ist das eine poulantzische Einladung, nun auf eine anarchistische Weise den Weg der SPD, der Grünen, der Linken und der Piraten einzuschlagen? Oh…

Gerhardt Hanloser, „ein Libertärer mit Interesse an Marx“ (S. 91), erklärt den klassischen Anarchismus sowie den (Arbeiterbewegungs-)Marxismus zur Ideologie, die im 19. Jahrhundert gereift und seitdem verknöchert ist. Nun, was z. B. auf dem Gebiet der Theorie im russischsprachigen Anarchismus nach Oktoberrevolution und nach Kropotkin geschehen ist, das weiß leider auch in Russland kaum jemand, die von Marx beeinflussten emanzipatorischen Strömungen sind immer noch marginal, die Diagnose stimmt so weit. Die Bestimmungen des Kommunismus nach Marx (S. 91f.) wenden sich dann nicht nur gegen die romantischen Landkommune-Anarchist*innen, sondern auch gegen die so genannten Marxist*innen. Um das zu wissen, müsste mensch eben Marx kennen (lernen), statt in periodischen Abständen den neo-proudhonistischen Unfug zu bejubeln. Interessantes äußert er auch zum umstrittenen Buch „Gegen die Arbeit“ von Michael Seidman: Könnten sich die Herrschaften von syndikalismus.tk vorstellen, dass ausgerechnet ein „Marxist“ die Vorwürfe des Arbeitsfetischismus gegen die CNT zu entkräften versucht?

Der bekannte Politologe Joachim Hirsch attestiert der anarchistischen Staatskritik einen schweren Mangel an Aktualität. Was zwar nichts Neues sein dürfte: eine unpersönliche Herrschaft der Verwertungslogik lässt sich nicht einmal mehr als Herrschaft der bösen Banker*innen und Kapitalist*innen beschreiben. Hier wird das theoretische Erbe des Anarchismus ihm selbst zur Last. Ähnlich wie Gester formuliert Hirsch einen „radikalen Reformismus“, der evolutionär die Gesellschaft transformiert, was auch auf den Staatsapparat abfärbt. Aber ohne den Wert kleiner freiheitlicher Veränderungen zu schmälern: wie lassen sich Staat und Kapital wegreformieren?

Beim Gespräch mit Hendrik Wallat erreicht die akademische Sprache in diesem Band ihren Höhepunkt. Ungenießbar wird es trotzdem nicht. Er spricht über die inneren Widersprüche des Wissens, über das unversöhnliche Verhältnis zwischen Praxis und Theorie, das Verweigern von Utopien und den Wert alternativer Lebensentwürfe, kritisiert wieder reichlich an der anarchistischen Staatskritik rum und leitet aus der Moralphilosophie Adornos die politische Philosophie der Emanzipation ab.

Auch wenn mensch sich beim Lesen über große Abschnitte vorkommt, als würde mensch einem theoretischen Pimmelvergleich unter Gelehrten beiwohnen, hat mensch was davon. Nämlich Fragen über Fragen, denn klar und deutlich wird nur eins: nur weil mensch sich am Bart wahlweise Marx‘ oder Bakunins festklammert, ist mensch längst noch nicht auf der richtigen Seite.

Übergens, inzwischen darf mensch sich auf den zweiten Band der „Begegnungen feindlicher Brüder“ freuen.

ndejra

 


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