Zurück zu allen Rezensionen zu Sechs Tage der Selbstermächtigung

ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 501 / 16.12.2005

Die Rückkehr der Wildkatze
Ein Buch zum wilden Streik bei Opel Bochum im Oktober 2004

Eine gute Woche lang hatten sie allen einen gehörigen Schrecken eingejagt: der Konzernleitung von GM/Opel, genauso wie den Vorstandsetagen von IG Metall und den Co-Managern der Betriebsratsmehrheit: Mit ihrem wilden Streik im Oktober letzten Jahres hatten die Opel-ArbeiterInnen in Bochum für kurze Zeit die Machtfrage im Betrieb gestellt. Ein Jahr ist das jetzt her; nicht der schlechteste Zeitpunkt für einen Rückblick.
Anfang Dezember 2005 hieß es in der Kölner Lokalpresse, bei Ford kursierten Aufrufe zu wilden Streiks. Eine interne Streichliste war bekannt geworden, die nicht nur den Abbau von 1.200 Jobs, sondern längere Arbeitszeiten, Streichung von Zulagen und einen Lohnstopp vorsieht. Für die Produktion von derzeit knapp 2.000 Autos pro Tag will Ford verstärkt LeiharbeiterInnen einsetzen – bis zu zehn Prozent der Belegschaft. Ähnliche Bilder bei Opel in Bochum: Auch hier läuft die Produktion auf Hochtouren, obwohl sich bereits 2.000 ArbeiterInnen abfinden ließen. Bis Frühjahr 2006 sollen weitere 900 gehen, sonst drohen betriebsbedingte Kündigungen. Die verbliebenen ArbeiterInnen machen Überstunden ohne Ende, und Opel stellt massenhaft LeiharbeiterInnen an die Bänder.
Ein Gespür von Macht und eigener Stärke
In beiden Fällen steht aktuell nicht der verlagerungsbedingte Abbau von Arbeitsplätzen im Vordergrund. In diesen Autofabriken steckt zu viel fixes Kapital, als dass die globalen Konzerne auf dessen Verwertung verzichten könnten. Die Angriffe zielen auf eine neue Durchmischung der Belegschaften, um deren alltägliche Widerstandskraft gegen zunehmende Arbeitsverdichtung zu brechen. In der offiziellen Statistik taucht dies als Übergang in die ominöse „Dienstleistungsgesellschaft“ auf, denn Leiharbeit wird als Dienstleistung gezählt. Es nimmt daher auch kein Wunder, dass der eigentliche Dienstleistungsboom ausschließlich in den „unternehmensnahen Dienstleistungen“ stattfindet, hinter denen sich zu einem großen Teil die bloße Umetikettierung industrieller Tätigkeiten verbirgt. „Konsumnahe Dienstleistungen“ wie Handel, Gastgewerbe oder Verkehr sind hingegen seit Jahren rückläufig, befördern aber das Bild einer zersplitterten und kampfunfähigen ArbeiterInnenklasse. Die Klassenkämpfe von heute werden immer mit dem strategischen Blick darauf geführt, den ArbeiterInnen ihre Ohnmacht vorzuführen. Nur so lässt sich die Paradoxie verstehen, dass die ArbeiterInnen in Bochum die gute Produktionsauslastung nicht schnurstracks für eine Wiederaufnahme ihres Kampfes vom Oktober 2004 ausnutzen.

Durchmischung statt Arbeitsplatzabbau
Als am 14. Oktober 2004 die Opel-ArbeiterInnen die Arbeit hinschmissen, schauten Millionen gequälter Arbeitskräfte nach Bochum: endlich! Nicht das Maul halten, nicht den Betriebsrat über weitere Zumutungen, Verschlechterungen, Lohnkürzungen unter dem salbungsvollen Titel „Standortsicherungsvertrag“ verhandeln lassen. Pünktlich zum Jahrestag dieses Streiks ist dazu ein Buch erschienen: „Sechs Tage der Selbstermächtigung“. Die Herausgeber schreiben darin: „Für wenige Tage konnte man den Eindruck gewinnen, als sei der Korken aus der Flasche geflogen. Der deprimierende Mehltau erzwungener Anpassung war für einen Moment wie weggeblasen, und Menschen wurden sichtbar, die Widerstand leisten anstatt sich anzupassen. Und sie haben dabei auch noch ein gutes Gefühl.“ Doch dieses Drehbuch, so fügen sie gleich hinzu, wurde „so schnell wieder geschlossen“.
Den Hauptteil des Buchs machen zahlreiche Interviews mit aktiv beteiligten Arbeitern aus. Darin werden die politische Vorgeschichte in dieser Fabrik, die besondere Bedeutung der außergewerkschaftlichen Gruppe GoG (Gegenwehr ohne Grenzen) und die euphorische Stimmung der Selbsttätigkeit während des Streiks lebendig sichtbar. Hier wird klar, wie der von den ArbeiterInnen selbst organisierte Massenstreik nicht nur ein Angriff gegen die sie beherrschenden Mächte ist, sondern selbst schon die Herstellung einer anderen Gesellschaftlichkeit bedeutet, wenn auch nur für wenige Tage. Beides hängt zusammen: Gegenmacht und die Produktion von Kollektivität. „Es herrschte eigentlich damals in den sechs Tagen die Vorstellung: Man kann Europa lahm legen, weil ja in Bochum auch für andere Werke Komponenten gefertigt werden“, erklärt einer der Interviewten. Kollektive Subjektivität stellt sich darüber her, durch das gemeinsame Handeln den „höheren Mächten“ den eigenen Willen aufzuzwingen und sie damit als solche in Frage stellen zu können. Dies zu verhindern, war dem vereinten Lager aus Management, Staat, Kirche und Gewerkschaft an diesem Punkt so wichtig, dass IG Metall und Betriebsrat sogar den Legitimationsverlust in Kauf nahmen, den ihre groteske Abstimmungsinszenierung hervorrufen musste. Denn es fehlten nur noch wenige Tage, und die Produktion bei GM hätte tatsächlich in ganz Europa stillgestanden. Die damit verbundene Wiederentdeckung der eigenen Macht, weit über die beteiligten Opel-ArbeiterInnen hinaus, musste unter allen Umständen verhindert werden.
Trotzdem hat dieser Streik die Debatte unter betrieblichen AktivistInnen in einer Weise vorangetrieben, wie es jahrelange theoretische Erörterungen nicht vermocht hätten. Auch davon zeugt das Buch. In einem einleitenden Beitrag zur Geschichte der wilden Streiks wird das schiefe Bild korrigiert, Arbeiterkämpfe würden sich vorrangig in der gewerkschaftlich organisierten Form abspielen. Und ein Aktivist der GoG stellt das hundertjährige vergebliche Abarbeiten der linken Kräfte an den Gewerkschaften mal ganz radikal in Frage und hält es für eine gute Idee, die Gewerkschaften sich selbst zu überlassen. Für die Beförderung von Selbstorganisation sei es „ein befreiender Schritt, das ,Prinzip Hoffnung Gewerkschaft` zu zerstören“. Noch vor ein paar Jahren wäre so etwas in linksgewerkschaftlichen Publikationen nicht ernsthaft diskutiert worden.
Schon der olle Marx wusste, dass es die Klassenkämpfe sind, die der theoretischen Kritik auf die Sprünge helfen – und nicht umgekehrt.

Christian Frings


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