SoZ, Ausgabe Nr.2 / Januar 2013

" ... einen wichtigen Streik aus der Vergessenheit geholt"

Wenn heutige Linke die Stichworte „Ausländerstreik, Wilder Streik, 1973“ hören, woran wird da gedacht?  Mit Sicherheit an den Streik im Kölner Fordwerk,  der vor allem von Arbeitsmigranten getragen wurde und mit einer Niederlage der Streikenden endete. Dabei spielte eine erhebliche Rolle, dass Betriebsrat und IG Metall den Streik ablehnten und Versuche, den Streik auch auf  Teile der nicht-migrantischen  Belegschaft auszudehnen, fast komplett scheiterten. Die Schlagzeile von Springers „Bild“ ‚Deutsche Arbeiter kämpften ihr Werk frei‘ markierte  das Desaster dieses Arbeitskampfes.
Aber es gab in diesem bewegten Jahr 1973 nicht nur Niederlagen. Bei Pierburg im niederrheinischen Neuss fand ein bemerkenswerter Streik statt. In diesem Betrieb, in dem Vergaser für Autos und Flugzeuge gefertigt wurden, arbeiteten   fast 3000 Beschäftigte, überwiegend Frauen, darunter ca. 1700 Migrantinnen. Nach klassischemdeutschempatriarchalischem Gewerkschaftsverständnisbot diese Belegschaftszusammensetzung nicht die Voraussetzungen für einen gelingenden Arbeitskampf. Trotzdem endete in diesem  Betrieb ein fünftägiger Arbeitskampf mit dem Erfolg der Streikenden. Warum gelang hier etwas, was anderswo zum Desaster führte?
Dieter Braeg, 1973 stellvertretender Betriebsratsvorsitzender von Pierburg-Neuss, hat mit „Wilder Streik“ im Verlag „Die Buchmacherei“  diesen wichtigen Streik aus der Vergessenheit geholt. Ihm und dem Verlag gebührt ein großes Kompliment. Diese Publikation  ist im positiven Sinne ein „Lehr“- und Lese-Buch geworden.  Ich habe die 174 Seiten in einem Rutsch durchgelesen und die spannenden und gut geschriebenen Texte genossen.  Es beginnt mit dem Vorwortvon Dieter Braeg und einer Einführung von Peter Birke „Der Kampf ist mehr als Geschichte“, hier wird eine erste Einordnung des Arbeitskampfes in den historischen Kontext geleistet und die Nachwirkungen bis heute reflektiert. „Dieses Buch skizziert in der Sprache der 70er-Jahre Gewerkschafts- und Betriebsarbeit, die man als eine „linke“ bezeichnen kann. “
Der nächste Teil schildert die fünf Streiktage, den Verlauf und die Konflikte.  Integriert in die Darstellung sind Schilderungen von und Interviews mit Beteiligten, so mit einer damaligen Jugendvertreterin, die vierzig Jahre später auf „fünf Tage, die mein Leben beeinflussten“ zurückblickt. „Ein kluger Mann namens Ché hat mal gesagt, dass die Solidarität das Salz der Erde sei. Verstanden habe ich diesen Spruch erst in den fünf Tagen des August 1973.“ Solidarität braucht Bedingungen und Streiks werden auch dadurch gewonnen, dass vor dem Streik die Voraussetzungen für ein Gelingen geschaffen werden. Es gab auch 1973 eine Alternative zum Avantgardismus der marxistisch-leninistischen Studentenparteien und  zur gewerkschaftsbürokratischen Mitgliederverwaltung sozialdemokratischer Art. Und dafür  ist Pierburg ein Lehrstück, wie eine konfliktorientierte emanzipatorische Gewerkschaftsarbeit Lernprozesse befördern (nicht schaffen!) und unterstützen kann und wie die Selbstbewusstwerdung von Arbeiterinnen und Arbeitern verläuft. Ein schönes und berührendes Beispiel ist die Schilderung der Entwicklung einer griechischen Bandarbeiterin zur Streikaktiven. Es stammt aus dem Band „Elephteria oder die Reise ins Paradies“, der  ursprünglich 1975 in der Werkkreis-Reihe bei Fischer erschien. Ich habe diesen Band als Mut-Macher oft in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit eingesetzt. Pierburg machte deutlich, dass es kein Naturgesetz ist, dass deutsche und ausländische Arbeiter in unterschiedlichen Kampffronten stehen. Dass Frauen und selbst Un- und Angelernte in der Lage und bereit sind, für ihre tatsächlichen Interessen wie die Abschaffung von Leichtlohngruppen zu kämpfen, erstaunte viele Repräsentanten der „männlichen Facharbeitergewerkschaft“.Und dass es möglich ist, dass alle diese unterschiedlichen Schichten und Teile einer Belegschaft  einen Arbeitskampf durchstehen und gewinnen. Und dazu gehört auch, dass Lernprozesse mit dem „neutralen Staat“ und seinen Organen und der Justiz gemacht werden.
Für den Polizeipräsidenten von Neuss war von Anfang an klar worum es ging. „Wilder Streik – das ist Revolution!“In der obrigkeitsstaatlichen Tradition der Adenauer-Ära helfen gegen Demokraten nur Soldaten.  Ersatzweise darf auch die Polizei ran. Aber in Neuss bei Pierburg gelang den Herrschenden nicht, was bei Ford Köln gelungen war. Die Belegschaft war sich einig, sie hatte die Gewerkschaft und den Betriebsrat hinter und nicht gegen sich und auch in der Öffentlichkeit war die Legitimität des Streiks vermittelt.
Dass Arbeitgeber ihre „Niederlagen in Siege verwandeln“ wollen, ist bekannt und bei Pierburg wollte er nach dem Streik die Führung des Betriebsrates (unter ihnen auch Dieter Braeg) fristlos kündigen. Eine Begründung :Verletzung der Betriebsverfassung.  Damit kam er allerdings nicht durch. Hierzu sind im Anhang einige Dokumente abgedruckt.
Als Sahnehäubchen mit ausreichend Schokostreuseln ist dem Buch eine DVD beigefügt mit dem 42 Minuten- Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“aus dem Jahr 1973. Erstellt hatte ihn die Fernsehjournalistin Luc Jochimsen, heute eher als Politikerin der „Linkspartei“ bekannt.
Braeg versteht Buch und DVD als „Anregung dazu, eine Diskussion über jene Demokratie zu führen, die endlich nicht an den Betriebstoren enden, sondern gesellschaftsverändernd in die Betriebe zurückkehren muss.“ (S. 9)
Ich möchte hinzufügen, dass beide auch anregen darüber nachzudenken, wann und unter welchen Bedingungen Menschen anfangen, für ihre Interessensolidarisch zu kämpfen und was heute daraus zu lernen ist. Die österreichische Gruppe „Schmetterlinge“ war in den Siebzigern oft bei Streiks mit ihren Liedern präsent. Ein Refrain passt als Resümee dieser Besprechung:
„Nichts kann uns dazu bringen,  habacht am Fleck zu stehen,  und niemand kann uns zwingen,  einen Fehler zweimal zu begehn. Wir lernen im Vorwärtsgehn, wir lernen im Gehn.“(1)

Verfasser: Ulrich Peter, Berufsschullehrer und Gewerkschafter in Berlin, 1973 gewerkschaftlicher Jugendfunktionär im Ruhrgebiet

(1) Zum Pierburg-Streik sind noch zu empfehlen:

  • Redaktionskollektiv „EXPRESS“ Spontane Streiks 1973 – Krise der Gewerkschaftspolitik“, Offenbach 1974, bes. S. 78 – 81
  • Pierburg-Autorenkollektiv „Pierburg-Neuss:Deutsche und ausländische Arbeiter- Ein Gegner-Ein Kampf“, ISP-Verlag 1974

 

analyse & kritik Ausgabe 480, Februar 2013

„Der Kampf ist mehr als Geschichte“

Vom 13. bis 17. August des Jahres 1973 legten bis zu2.000 Arbeiter_innen in der Firma Pierburg in Neuss ohne gewerkschaftliche Unterstützung die Arbeit nieder. Als „wilder“ Streik war dies nach bundesdeutschem Recht einkrimineller Akt. Für die migrantischen Arbeiterinnen, die den Streik initiierten, war es hingegen der einzige Weg, die ihnen vorenthaltenen Rechte einzufordern und gegen eine doppelte Lohndiskriminierung als Frauen und Migrantinnen zu protestierten. Die kompromisslose Haltung des autoritär-patriarchalen Unternehmers Alfred Pierburg und das brutale Vorgehen der Polizei gegen die streikenden Frauen konnten nicht verhindern, dass er zu einem der erfolgreichsten Streiks der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte wurde – nicht nur, weil innerhalb von fünf Tagen nahezu alle Forderungen durchgesetzt werden konnten. Das eigentlich Bemerkenswerte war die übergreifende Solidarisierung innerhalb der Belegschaft, die sich zu 70 % aus migrantischen und zu 30 % aus deutschen Arbeitern und vor allem Arbeiterinnen zusammensetzte. Der Streik bei Pierburg wurde zu einem international bekannten Symbol der Solidarität als Basis für einen erfolgreichen Arbeitskampf, geriet jedoch im Zuge voranschreitender Neoliberalisierung in Vergessenheit.

Das Wissen um den Streik bei Pierburg wieder in Erinnerung zu bringen, macht die große Bedeutung der von Dieter Braeg herausgegebenen Materialien-Sammlung aus. In dem beim Verlag „Die Buchmacherei“ erschienenen Band sind vorrangig historische Dokumente aus dem Zeitraum 1973 bis 1977 abgedruckt. Sie ermöglichen es, der/dem Lesenden sich dem Ereignis vorrangig aus der Perspektive eines linken Betriebsratsmitglieds zu nähern, da der Herausgeber selbst von 1971 bis 2004 bei Pierburg in Neuss angestellt und in der betreffenden Zeit stellvertretender Betriebsratsvorsitzende sowie als Autor oder Mitautor an fast allen im Buch abgedruckten historischen Dokumenten beteiligt war. Ergänzt werden die Texte durch einen auf DVD beigelegten Dokumentarfilm, der unter dem Titel „Ihr Kampf ist unser Kampf“ den Streikverlauf in Bildern festhält und von Edith Schmidt und David Wittenberg zusammen mit den streikenden Arbeiter_innen von Pierburg erstellt wurde.

Das Buch dokumentiert chronologisch die betrieblichen Auseinandersetzungen zwischen Unternehmensleitung und Teilen der Belegschaft, die im August 1973 weder begannen noch endeten. Der Streik war nicht spontan, sondern Höhepunkt von seit Jahren sich zuspitzenden Konflikten und Resultat eines kollektiven Lern-, Kommunikations- und Mobilisierungsprozesses innerhalb der Belegschaft. Zudem war die Firma Pierburg einer der wenigen Betriebe in der Bundesrepublik in dem sich ein zur Hälfte migrantisch besetzter, linker Betriebsrat etablierte. Braeg zeigt in seinen Texten die Handlungsspielräume auf, die es für einen Betriebsrat durchaus geben konnte, sich trotz der Einschränkungen durch Betriebsverfassungsgesetz und der darin verordneten Friedenspflicht solidarisch mit den Streikenden zu zeigen und sich für die Interessen der migrantischenArbeiter_innen einzusetzen, die von den Gewerkschaften kaum repräsentiert wurden.

Die große Stärke dieser Materialiensammlung ist, den Streik bei Pierburg als Teil einer Geschichte migrantischen Widerstandes in der Bundesrepublik wieder in Erinnerung zu bringen. Der Pierburg-Streik ist im Kontext einer Reihe wilder Streiks zu betrachten, die überwiegend migrantisch geprägt waren und im Jahre 1973 ihren Höhepunkt erreichten. Aufgrund des erfolgreichen Ausgangs und der zeitweilig breiten gesellschaftlichen Solidarisierung stellt der Pierburg-Streik in dieser Streikwelle allerdings eine Ausnahme dar. Durch unermüdliche Anstrengungen konnten die migrantischen Arbeiterinnen ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen in den Protest einbinden. Strategisch gelang ihnen dies, in dem sie Forderungen formulierten, die auch die deutschen Arbeiterinnen und Facharbeiter betrafen: „Abschaffung der Lohngruppe 2“ und „Eine Mark mehr für alle!“ Kritik am Rassismus in und außerhalb der Fabrik wurde – obwohl mitunter entscheidender Auslöser der Arbeitskämpfe – explizit nicht in den Vordergrund gerückt.

Der Kampf bei Pierburg konnte nur erfolgreich geführt werden, „weil Herkunft und Position keine Rolle spielten“ (S. 8) schlussfolgertder Herausgeber. Die rassistische Spaltung der Pierburg-Belegschaft konnte für den Moment des gemeinsamen Kampfes überwunden werden – wie fragil diese Solidarität allerdings war, zeigte sich als mit zunehmender Arbeitsplatzunsicherheit im Kontext der Krise die deutschen Facharbeiter begannen „sich so langsam zu distanzieren“ (S. 112). Aufgeworfen ist damit die nicht nur historische Frage, ob Rassismus eben doch nicht auch Thema von Arbeitskämpfen sein muss, um Solidarität zu praktizieren.

Verstanden als Quellenedition eröffnet dieser Band neue Perspektiven auf die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung nach 1945 und ist eine wertvolle Ergänzung zu bereits vorliegenden Untersuchungen der migrantischenKämpfe von Manuela Bojadžijev (2008) und der wilden Streiks von Peter Birke (2007). Es kann zudem als Aufforderung verstanden werden, die bislang nur schwer zugänglichen Materialien zum Ausgangspunkt weiterer Diskussionen über die andere Arbeiter_innenbewegung zu machen. Empfohlen sei das Buch allen, die sich für eine genealogische Betrachtung sozialer Kämpfe in der Bundesrepublik interessieren: Denn – wie Peter Birke betont – dieser Kampf ist mehr als Geschichte!

Christiane Mende

Bojadžijev, Manuela 2008:Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster: Westfälisches Dampfboot.

Birke, Peter 2007: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main: Campus Verlag.

 

contraste Nr. 341 / Februar 2013

Auch aus heutiger Sicht noch sehr spannend

Im Jahre 1973 fand in der Automobilzulieferungsfirma Pierburg in Neuss ein Streik statt, der in vielen Hinsichten besonders war. Einerseits handelte es sich um einen erfolgreichen wilden Streik, andererseits war es auch ein Streik von ausländischen Arbeiterinnen, die bislang in der Forschung zu Streiks in der Bundesrepublik weitgehend marginalisiert wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund ist die Beschäftigung mit jenem Streik auch aus heutiger Sicht noch sehr spannend – und in mancherlei Hinsicht sicherlich auch sehr lehrreich. Dieter Braeg, der damals als Mitglied des Betriebsrates in jenem Werk diesen Streik miterlebte, hat nun eine Reihe von zeitgenössischen Texten (einer literarischen Verarbeitung des Streiks, gewerkschaftliche und sozialistische Publikationen, Interviews) zusammengetragen und gemeinsam mit der damals entstandenen Dokumentation »Ihr Kampf ist unser Kampf« publiziert. Eine Ausnahme bildet dabei lediglich der Beitrag der damaligen Jugendvertreterin Gabi Schemann, die diesen erst kurz vor Erscheinen des Buches verfasste.

Obwohl diese Zusammenstellung, wie der Herausgeber selber selbstkritisch bemerkt, im damaligen gewerkschaftlichen und sozialistischen Jargon verfasst ist, bietet die Lektüre einige Anregungen. Es ist eine Dokumentation und ein Zeugnis der daran Beteiligten. Auf wissenschaftliche Analysen dessen wird zu Gunsten des dokumentarischen Gehalts des Buches verzichtet.

Erschienen ist jenes Buch beim Verlag »Die Buchmacherei«, der einer Berliner Medienwerkstatt angehört, die sich auf soziale Kämpfe, konkrete Utopien und Lebenswege gegen den Strom spezialisiert hat. Neben jenem Titel finden sich weitere zu Selbstorganisation und betrieblichen Arbeitskämpfen im Sortiment des Verlages.

Maurice Schuhmann

 

express 1-2 / 2013

"Das Buch des Winterhalbjahres 2012/13"

Ein Schatz-Buch inclusive DVD für 13,50 Euro! – Dieter Braeg, der ehemalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende von Pierburg Neuss, hat uns diesen Schatz wieder zugänglich gemacht. Ich halte dieses Buch und die dazu gelieferte DVD über einen der großen, »wilden« Streiks für das Buch des Winterhalbjahres 2012/13. Soviel an Kritik, hier als Lob verstanden, gleich vorweg.

Als »wilder Streik« oder »spontaner Streik« wird in der BRD ein Streik bezeichnet, bei dem die Gewerkschaft weder die »Führung« noch die juristische und finanzielle Verantwortung hat. Diese »wilden«, »spontanen« Streiks sind von der Gewerkschaft nicht getragen, oft gegen ihren Willen zustande gekommen und zumindest ohne ihre »offizielle« Unterstützung organisiert. So auch beim Autozulieferer Pierburg, wo es vor allem Frauen waren, die die Initiative zum Kampf gegen diskriminierende ›Leichtlohngruppen‹ aufgenommen und getragen haben.

Was macht dieses Buch und die DVD zum Schatz?

Am Beispiel dieses Arbeitskampfes von 1700 Frauen – überwiegend aus Griechenland, Spanien, Türkei, Jugoslawien, Italien – und ca. 300 Männern wird ein gutes Stück bundesdeutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte den einen in Erinnerung gerufen, den anderen, hoffentlich vielen Jüngeren in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, als ein Teil oft verschwiegener Geschichte der hiesigen ArbeiterInnenbewegung erstmals vermittelt. Der Begriff »Gastarbeiter« hatte wenige Jahre vorher den bis dahin für die Arbeitsimmigranten gebrauchten Begriff »Fremdarbeiter« ersetzt. Zu sehr hatte das Wort »Fremdarbeiter« dann doch, 20 Jahre nach 1945, an das leidvolle Schuften der »Fremdarbeiter« in der nazideutschen Kriegswirtschaft erinnert. Diese »Gastarbeiter« hatten in den »wilden« Streiks 1973 eine bedeutsame Rolle gespielt. Es war ihr Kampf um besseres Leben und Arbeiten im Land des Wirtschaftswunders – und zu einem Zeitpunkt, wo der ersten ›großen‹ Wirtschaftskrise und steigenden Arbeitslosenzahlen u.a. mit einem  »Anwerbestopp«  begegnet wurde.

Bei Pierburg in Neuss war der Kampf erfolgreich, auch weil er die Unterstützung von IGM-Vertrauensleuten und -Betriebsräten fand und sich nach wenigen Tagen die deutschen Facharbeiter solidarisierten. Bei Ford in Köln hingegen wurde 1973 der vorwiegend von türkischen KollegInnen geführte Arbeitskampf brutal zerschlagen. Im Buch wird dies eindrücklich geschildert, der Film auf der beiliegende DVD (Laufzeit: 42 Minuten) veranschaulicht die Hintergründe und den Verlauf des Konflikts anhand von Originalszenen.

Der Autozulieferer Pierburg war mit 3000 Beschäftigten Teil einer Firmengruppe, die Eigentum der Familie von Alfred Pierburg war. Geschäfte wurden vor und nach 1945 gemacht. Bis 1972 bestand zwischen Firmenleitung und Betriebsrat ein sehr enges, partnerschaftliches Verhältnis. Die Betriebsratswahl 1972 brachte aktiven IGM-Mitgliedern eine solche Mehrheit und damit neue Vorsitzende, dass die sechs wiedergewählten, langjährigen BR-Mitglieder (ebenfalls Mitglied der IGM) ihr Mandat niederlegten. Dabei hatte eine seit 1968 erfolgte Organisierung wohl die entscheidende Rolle gespielt. 1968 gab es in dem Betrieb 200 IGM-Mitglieder, Ende 1974 waren es 2 300. Durch einen ersten »wilden« Streik von jugoslawischen und deutschen Frauen konnte im Mai 1970 die Niedriglohngruppe 1 abgeschafft werden. In den Aufbau eines gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers, der dann erstmals 1973 gewählt (vorher ernannt) wurde, wurden seit 1970 die ausländischen KollegInnen einbezogen. Für die Entwicklung der Kampfkraft der Belegschaft waren die Erfahrungen eines wenig erfolgreichen, »wilden« Streiks am 7. und 8. Juni 1973 bedeutsam: Der 13-Punkte-Katalog zur Beseitigung von Missständen war, so die spätere Einschätzung der Streikleitung, zwar berechtigt, doch insgesamt waren es zu viele und zu differenzierte Forderungen. Diese »Fehler« konnten bei dem knapp einwöchigen »wilden« Streik vom 13.-17. August 1973 vermieden werden. Hier wurde nur noch 1 DM Stundenlohn für alle und Abschaffung der Frauen-Lohngruppe 2 gefordert. Nachvollziehbar wird auch, warum »wilde« Streiks nicht als »spontane« Streiks bezeichnet werden dürften. Ohne zahlreiche Vorbereitungen gäbe es sie nicht. Die Einzelheiten dieses Arbeitskampfes und dessen Erfolge werden in verschiedenen Beiträgen geschildert.

Nicht unerwartet gab es zahlreiche Repressalien gegen die Belegschaft und ihre Aktiven. Im Oktober 1973 gab das Management die Verlagerung von Arbeitsplätzen bekannt. Durch innerbetriebliche Aktionen sowie eine Demonstration in der Neusser Innenstadt konnte dieser Racheakt verhindert werden.
Der Versuch, eine Reihe von FunktionsträgerInnen zu kündigen, erregte damals großes öffentliches Aufsehen: Die JAV-Vorsitzende, die beiden BR-Vorsitzenden sowie mehrere BR-Mitglieder sollten fristlos ihre Arbeitsplätze verlieren. Eine breite Solidaritätskampagne von »großen und kleinen Leuten«, darunter u.a. Günter Walraff, Ernst Bloch, Arno Klönne und Eberhard Schmidt, konnte großen Druck auf Pierburg erzeugen. Trotzdem vereitelte erst das Arbeitsgericht die Kündigung. Eines der im Anhang versammelten Dokumente ist die zehnseitige Urteilsbegründung. Es ist eigentlich nur bedingt vorstellbar, mit welchen Methoden die Kündigungen begründet wurden. Die belastenden Aussagen eines gekauften, ehemaligen BR-Mitglieds waren der Firmenleitung 25000 DM wert.

All das und noch viel mehr (z.B. passive Widerstandsformen, Sex als Waffe, Erotik und Zärtlichkeit, Gewerkschaftsarbeit mit den ausländischen KollegInnen) wird auf 175 Seiten dargestellt. Zu dem »mehr« gehört auch eine Einführung von Peter Birke in die damalige Zeit. Nach den ersten »wilden« Streiks im September 1969 gab es 1973 zum zweiten und bisher letzten Mal eine öffentlich bedeutsame »wilde« Streikwelle, mit ca. 300 000 Streikenden in mehr als 100 Betrieben. Diese Streiks dauerten oft mehrere Tage. Polizei und Werkschutz kannten meist kein Pardon! Erwähnen können hätte man in dem Buch die 1973 erstmals erfolgte Besetzung der Uhrenfabrik LIP in Besançon/Frankreich (verfilmt von Christian Rouaud: »LIP oder: Die Macht der Phantasie«, Frankreich 2007), die den spektakulären Auftakt zu über 200 Betriebsbesetzungen allein in Frankreich bildete, ebenso wäre ein Hinweis auf Bezüge zu den Fabrik- und Arbeitskämpfen in Italien sinnvoll gewesen. Insbesondere im Zusammenhang mit der – vielfach unterschätzten – Rolle von Frauen in diesen Arbeitskämpfen sei hier auch noch »We want Sex«, der Film über den Arbeitskampf der NäherInnen bei Ford Dagenham, von Nigel Cole empfohlen. Auch hier ging es, wie bei Pierburg, um die Abschaffung der diskriminierenden Leichtlohngruppen in der Autoindustrie – zwei Jahre später wurde in Großbritannien ein Gesetz zur Lohngleichheit verabschiedet.
Aber auch diese Hinweise sollen nicht als Kritik an den Verfassern verstanden werden. Ihnen gebührt als den Schatzgräbern Lob und Dank!

Anton Kobel

 

Wildcat 94, Frühjahr 2013

"Lassen wir uns von den Pierburg-ArbeiterInnen inspirieren! "

In der BRD gab es im Gefolge der 68er Revolte zwei historische Streikwellen: Die Septemberstreiks 1969 und die Flut an militanten Kämpfen der migrantischen und größtenteils weiblichen Massenarbeiter im Jahr 1973. Im August 1973 befanden sich 70 000 MetallarbeiterInnen im Streik. Im Zentrum standen dabei die ArbeiterInnen der Autoindustrie, die in Bochum, Köln und Mannheim ( John Deere) streikten. Einer der schlagkräftigsten Kämpfe in dieser Situation war der einwöchige Streik der 2000 ArbeiterInnen der Neusser Vergaserfabrik »Auto- und Luftfahrt-Gerätebau KG A. Pierburg«, »allen voran [die] 900 Griechinnen, 500 Türkinnen, 200 Italienerinnen, Spanierinnen und Jugoslawinnen«.(S. 15) Nachdem sie sich drei Jahre zuvor aus der untersten Lohngruppe 1 heraus kämpften, gelang ihnen unter der Parole »Eine Mark mehr!« die Abschaffung der Lohngruppe 2 und damit Stundenlohnerhöhungen von 53 bis 65 Pfennig. Das Buch von Dieter Braeg, beim Streik aktiver Betriebsrat und seit jeher Gewerkschaftsaktivist in der IG Metall, dokumentiert Beiträge aus der unmittelbaren Zeit nach dem Streik, die schon in anderen Schriften veröffentlicht wurden. Neu sind nur die Einleitung von Peter Birke und ein Beitrag der damaligen Jugendvertreterin in der Fabrik. Braeg will mit dieser (Wieder-)Veröffentlichung vorschlagen, »eine Diskussion über jene Demokratie zu führen, die endlich nicht an den Betriebstoren enden, sondern gesellschaftsverändernd in die Betriebe zurückkehren muss.« (S. 9) Das gelingt nur ansatzweise. Erstens ist es mehr als schade, dass keine einzige streikende Arbeiterin selbst zu Wort kommt (außer in vereinzelten Zitaten; der auf dvd beiliegende Film ist in der Hinsicht viel besser und zu empfehlen). Zweitens, weil Braeg nur schwer aus der Rolle eines mit Funktionärsarbeit überschütteten Organisators heraustreten kann (siehe sein Tagebuch, S. 79ff ) – obwohl er selber sehr klar über die »Abschaffung der Arbeit« nachdenkt.(S. 118f ) Dieses Organisieren der Organisation verhindert, über die offensichtlichen Grenzen der institutionellen Strukturen der Arbeitervertretung hinauszutreten. Aber genau das haben die Arbeiterinnen getan! So ist seine Beschreibung der gewerkschaftlichen Strategie zwar sympathisch. »Es gehört mit zur Planung und Strategie [der Gewerkschaft/des br], …dass sich der Arbeitgeber rechtsbrecherisch verhält. Man muss ihm nachsagen können, dass er tarifvertragliche oder gesetzliche Bestimmungen missachtet«.(S. 45) Sie bleibt aber oberflächlich. Die tägliche Ausbeutung in der Produktion, der ungleiche Tausch zwischen Kapitalist und Arbeiter, der länger arbeitet, als für ihn notwendig, verstößt bekanntlich gegen kein Gesetz. Es war weniger der kämpferische Betriebsrat in Neuss, der sich zweifellos besonders schlau auf dem feindlichen Terrain des Rechts bewegt hat, sondern die kollektive Macht der weiblichen Massenarbeiter, die ihre deutschen Facharbeiterkollegen mitreißen konnten, was den Streik so effektiv machte. Genau darauf müssen wir hinweisen, wenn wir »gesellschaftsverändernd in die Betriebe zurückkehren« wollen, aber Braeg und auch Birke binden von heute aus den Kampf wieder in die gewerkschaftliche Logik ein. Unglaublich ärgerlich! Heute gibt es zwar keine (Frauen-)Lohngruppe 2 mehr, aber nach wie vor sind uns »viele der Punkte, die 1973 auf der Tagesordnung standen, leider allzu bekannt … die Niedriglohngruppen haben sich mittlerweile in einen veritablen Niedriglohnsektor verwandelt.« (Birke, S. 14) Und gerade dabei haben die Gewerkschaften und Betriebsräte dem Kapital assistiert. Höchste Zeit also, den Pierburg-Frauen, »die [1973] noch immer nach den Prinzipien von Ford und Taylor ausgebeutet wurden« (S. 7), in ihrem Kampf zu folgen, die Spaltungen im Betrieb in den Blick zu nehmen und Mut zu fassen. Wir ArbeiterInnen [werden 2013] »noch immer nach den Prinzipien von Ford und Taylor ausgebeutet« - lassen wir uns von den Pierburg-ArbeiterInnen inspirieren!

 

Jungle World 15-2013

Streiken geht auch anders

Der Streik migrantischer Arbeiterinnen bei einem Automobilzulieferer im Jahr 1973 erhält zum Jubiläum wieder Aufmerksamkeit.

 Wer an Streiks in Deutschland denkt, dem kommen bunte Plastikleibchen, Trillerpfeifen, hohle DGB-Rhetorik und Tarifabschlüsse in den Sinn, die man nur mit viel Mühe als Erfolg verkaufen kann. Dass auch in Deutschland Arbeitskämpfe möglich sind, die anders verlaufen, zeigt der Pierburg-Streik. 1973 streikten die Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg im nordrhein-westfälischen Neuss für die Abschaffung aller Leichtlohngruppen, die dafür sorgten, dass Frauen weniger als Männer verdienten, und für eine Erhöhung des Stundenlohns um eine Mark.

Wie groß das Interesse an dem Streik damals war, zeigt sich an den zahlreichen Büchern und Filmen, die sich dem Ausstand widmen. Anfang der achtziger Jahre, als ein Großteil der Linken seinen Abschied vom Proletariat nahm, geriet auch der Pierburg-Streik in Vergessenheit. Doch nun macht ein Buch mit dem Titel »Wilder Streik, das ist Revolution«, das im Berliner Verlag »Die Buchmacherei« erschienen ist, wieder auf den Arbeitskampf aufmerksam. Der Herausgeber Dieter Braeg, damals einer der oppositionellen Betriebsräte in dem Unternehmen, hat das anstehende Jubiläum zum Anlass genommen, einige Dokumente erneut zu veröffentlichten.

Dazu gehört auch der 40minütige Film »Pierburg – ihr Kampf ist unser Kampf«, der immer noch sehenswert ist, vor allem aus einem Grund: Es ist sinnvoll, daran zu erinnern, dass es in Deutschland auch Kämpfe von Lohnabhängigen gab, die sich nicht in den von den DGB-Vorständen vorgegebenen Bahnen bewegen. Bei Pierburg war das der Fall: »Wilder Streik, das ist Revolution« – so begründete der Neusser Polizeipräsident Günther Knecht damals den Einsatz von knüppelnden Polizisten gegen die Streikenden.

Braegs Einschätzung, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für »eine andere deutsche Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung«, kann man allerdings Skepsis entgegenbringen. Mit einer viel größeren Berechtigung kann der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Sie traten nicht nur gegen den Unternehmer Alfred Pierburg an, der eine einflussreiche Stellung in der Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus inne gehabt hatte und in der Bundesrepublik Träger zahlreicher Orden inklusive des Bundesverdienstkreuzes war. Die Dokumente verdeutlichen auch, wie die streikenden Frauen mit dem Rassismus der im NS sozialisierten Vorarbeiter konfrontiert wurden. »Ihr seid doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist, ihr Scheißweiber«, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich beim Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen aber auch die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger war als die Interessenvertretung der Kolleginnen. Auch die Taktik der IG-Metall-Führung wird deutlich. Sie tat alles, um den Streik wieder in die institutionellen Bahnen zu lenken, und die Justiz überzog die oppositionellen Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen.

Dieter Braeg ordnet den Pierburg-Streik in das politische Geschehen jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr von DGB-konformen Instanzen vertreten lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt waren der Streik und die Besetzung der Kölner Ford-Werke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere migrantische Arbeiter als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Bild-Zeitung: »Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei«. Zuvor hatten Bürgerwehren die Streikenden mehrmals angegriffen. So wurde unter tatkräftiger Mithilfe von Betriebsräten der proletarische Eigensinn gebrochen.

Peter Nowak


 

Streifzüge 57 / 2013 (Österreich)

„Arbeiterbewegung von ihrer frischesten Seite“

Der von Dieter Braeg herausgegebene und auch großteils verfasste Band führt in die Jahre nach 1968, in eine Zeit, wo die Arbeiterbewegung noch einmal erwachte. In diesem Buch zeigt sie sich in manchen Belangen von ihre frischesten Seite. 1973 erreichte die Streikbewegung ihren Höhepunkt, fast 300.000 Arbeiter traten in den Ausstand. Der hier in Druck und DVD dokumentierte Arbeitskampf bei Pierburg war sogar einer der erfolgreichsten der sonst an Erfolgen eher traurigen bundesrepublikanischen Arbeiterbewegung.

„ … und eines Tages gehören sie uns, die Fabriken“, sagt eine Stimme auf der DVD. „Wilder Streik – das ist Revolution“, so sah es der Polizeipräsident von Neuss, als im Sommer 1973 fast die gesamte Belegschaft rebellierte.

Braeg, damals stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, belegt, wie aufgrund von Radikalität und Entschlossenheit einerseits, aber auch von Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter diverser Nationalitäten andererseits, diese ihre Forderungen weitgehend durchsetzen konnten. Von großem Interesse ist, dass es sich bei den Betroffenen wie Beteiligten hauptsächlich um ausländische Kräfte, insbesondere um Frauen handelte. Selbst die vom Autozulieferer versuchte Verlagerung der Betriebsstätten konnte letztlich verhindert werden und auch das gerichtliche Nachspiel wurde gewonnen.

Ebenso analysiert wird die Frage „Wie organisiert man wilde Streiks?“, denn die Gewerkschaften legitimierten die Pierburger Konfrontation erst im Nachhinein. Teilweise spielte die IG Metall eine üble Rolle. Reflektiert wird unter anderem auch, was das immense Engagement etwa eines männlichen Betriebsrates für Privatleben und Beziehung bedeutet.

Franz Schandel

 

TAZ Blogs vom 18.09.2013

"Sein Erfolg war ein Fanal für die folgenden Arbeitskämpfe im welkenden deutschen Wirtschaftswunder ..."

 
Dieter Braeg machte uns auf eine Veranstaltung in Neuss aufmerksam, und schrieb: »40 Jahre nach dem Streik ist es doch wohl unglaublich, dass man mehr Vorstands- und Aufsichtsratsposten für Frauen fordert und dort, wo wirklich Arbeitskraft verkauft wird, noch immer Lohn-Gehalts-Ungerechtigkeit herrscht.«

Donnerstag, den 19. September 2013, 18 Uhr im Theater am Schlachthof, Blücherstraße 31 bis 33 in Neuss. Nach der Begrüßung der IG-Metaller wird um 18:15 Uhr der Kurzfilm über den Streik in Pierburg gezeigt, Dieter Braeg (ehemaliger Betriebsratsvorsitzender) war dabei und andere Augenzeugen kommentieren den Film.

 Wir empfehlen: ›Wilder Streik – das ist Revolution. Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973‹ herausgegeben von Dieter Braeg. 176 Seiten, 13,50 Euro.

 Der Arbeitskampf bei Pierburg war der einzige erfolgreiche ›wilde‹ Streik während der Streikwelle des Jahres 1973. Griechinnen, Italienerinnen, Jugoslawinnen, Spanierinnen, Türkinnen sowie auch deutsche Fließbandarbeiterinnen hatten fünf Tage die Arbeit niedergelegt.

 Wie war es dazu gekommen? Die Pierburg GmbH, gegründet von Alfred Pierburg in Neuss, an der Stadtgrenze zu Düsseldorf, beschäftigte damals dreitausend Arbeiterinnen und Arbeiter, die Vergaser, Benzinpumpen und Steuerventile für Autos herstellten. Jeder, der in seiner Jugend mal an einem Auto herumgeschraubt hat, kennt die Solex-Vergaser von Pierburg. Diese wurden am Fließband von ausländischen Arbeiterinnen zusammengebaut, die nach Sätzen der sogenannten »Leichtlohngruppe« bezahlt wurden. Sie erhielten 4,70 DM pro Stunde, kamen also auf einen Nettolohn von monatlich sechshundert Mark. Dabei weiß jeder, dass Fließbandarbeit im Akkord schwere körperliche Arbeit ist. Bereits mehrfach hatten die Frauen die Abschaffung der Leichtlohngruppe gefordert, sie verlangten eine Mark mehr Stundenlohn, aber die Pierburg-Geschäftsleitung blieb stur und der Betriebsrat untätig.

 Nachdem ein neuer Betriebsrat gewählt worden war, der sich mit den Arbeitern solidarisierte, eskalierte die Situation. Am 13. August 1973, gegen 5:30 Uhr, als die Arbeiterinnen und Arbeiter zur Frühschicht kamen, verteilten zwanzig Frauen am Werktor Flugblätter, die zum Streik aufriefen und die Abschaffung der »Leichtlohngruppe« forderten. Etwa dreihundert Arbeiterinnen und Arbeiter schlossen sich spontan dem Streik an und skandierten: »Eine Mark mehr! Eine Mark mehr!«

 Die Vorarbeiter forderten die Frauen zur Arbeit auf – vergeblich. Um 6:30 Uhr rückten drei Polizeiwagen an, die Beamten verlangten, dass die Streikenden das Werkstor räumen. Dabei kam es zum Wortgefecht mit der neunundzwanzigjährigen Eleftheria Mermela, die zusammen mit ihrem Mann streikte. Die Polizisten versuchten das Ehepaar zu verhaften, ein griechischer Kollege fotografierte die Szene, da nahm ein Beamter ihm die Kamera ab, ein anderer Grieche entwand wiederum dem Polizisten die Kamera und warf sie einem Kollegen zu. Ein Polizist zog die Pistole und brüllte: »Zurück!« Eine Griechin trat vor und schrie: »Schieß doch! Oder hast du Angst?« Der Beamte ließ die Waffe sinken, seine Kollegen versuchten die Frau zu verhaften, sie wehrte sich und wurde dabei verletzt. Die Frauen drangen jetzt auf die Polizisten ein, diese flüchteten in ihre Wagen, einer schrie den Streikenden zu: »Dreckige Ausländer! Ich mache euch kalt!« Eine Stunde später kam Verstärkung, drei Polizeibusse fuhren vor, Polizisten kreisten die Streikenden ein, verhafteten zwei Griechinnen und einen Griechen. In der Frühstückspause solidarisierten sich weitere Arbeiterinnen und reihten sich vor dem Fabriktor bei den Streikenden ein. Die Produktion war lahmgelegt.
Am nächsten Morgen standen wieder 350 Streikende vor dem Werkstor, wieder fuhren drei Polizeibusse vor. Dieses Mal prügelten die Polizisten sofort auf die Streikenden ein. Ein Übertragungswagen des Fernsehens traf ein und filmte die Prügelszenen, daraufhin zog die Polizei ab. Es war ein heißer Augusttag, Anwohner brachten Getränke und öffneten ihre Häuser, damit die Streikenden die Toiletten benutzen konnten. Jungsozialisten und Leute aus Kirchenkreisen verteilten in Düsseldorf und Neuss Flugblätter, die den Polizeieinsatz anprangerten. Die Produktion bei Pierburg war auch am zweiten Streiktag lahmgelegt.

 Am dritten Tag weigerte sich die Firmenleitung noch immer, Verhandlungen mit dem Betriebsrat zu führen. Der Neusser Polizeipräsident hetzte in einem Interview: »Wilder Streik, das ist Revolution!« Trotzdem hielt sich die Polizei wegen des Fernsehteams, das weiter über den Streik berichtete, zurück. Die Stimmung der Streikenden war zum Zerreißen gespannt, der türkische Arbeiter Eroglu Galip drohte, sich vor dem Werkstor zu verbrennen, wenn die Streikforderungen nicht erfüllt würden, er hantierte mit einem Kanister. Die Betriebsräte zogen Galip hinter das Tor und beruhigten ihn.

 Der vierte Streiktag brachte den Umschwung, weil sich die privilegierten deutschen Facharbeiter mit den prekären Migrantinnen solidarisierten. Die Hella Werke in Lippstadt, die Autobeleuchtungen herstellen, traten in einen Sympathiestreik. Die Produktion der gesamten deutschen Automobilindustrie stockte, denn ohne Solex-Vergaser, für die Pierburg ein Monopol hatte, konnten keine Wagen von den Bändern laufen. Solidaritätstelegramme aus allen Regionen Deutschlands trafen ein, auch Joseph Beuys schickte Grüße.

 
In seinem Buch zum ›Wilden Streik‹, das Dieter Braeg herausgegeben hat, beschreibt ein Augenzeuge die Szenen auf dem Werkshof: »Am 16. August 1973 um 8:45 Uhr füllte sich langsam der Hof vor den Werkshallen, Frauen schwenkten Rosensträuße und riefen: ›Eine Mark mehr!‹ Kolleginnen und Kollegen fielen sich um den Hals. Immer mehr Menschen sammelten sich im Hof, und die Parolen wurden lauter. Neusser Bürger brachten den Streikenden belegte Brötchen, Obst, Sprudel und Bier, unter strahlender Sonne wurde diskutiert. Und plötzlich war ein türkischer Dudelsackspieler da, Frauen und Männer aller Nationalitäten begannen zu tanzen. Manche Deutsche waren am Anfang etwas tollpatschig, die Ausländer zeigten ihnen, wie man die Füße setzt.« »Dies ist der schönste Tag meines Lebens«, sagte ein deutscher Arbeiter, »heute halten wir alle zusammen, das habe ich noch nie erlebt. Pierburg kann uns nicht schaffen!« Und wirklich, die Pierburg GmbH stimmte endlich Verhandlungen zu, am fünften Streiktag einigten sie sich mit dem Betriebsrat. Die Leichtlohngruppe fiel weg, und den Frauen wurde ein Lohnzuschlag von 65 Pfennig pro Stunde garantiert.

 Der Streik bei Pierburg und sein Erfolg waren ein Fanal für die folgenden Arbeitskämpfe im welkenden deutschen Wirtschaftswunder. Erstmalig hatten sich Migrantinnen und Migranten über alle Vorurteile hinweg mit deutschen Arbeiterinnen und Arbeitern solidarisiert. Dieter Braeg, einer der Betriebsräte, die den wilden Streik bei Pierburg begleiteten, hat das alles in seinem Buch ›Wilder Streik‹ dokumentiert. So ist es nämlich, wir erzählen nicht nur, wir lassen uns auch Geschichten erzählen, ein Dialog im Feld der operativen Literatur.

Barbara Kalender / Jörg Schröder
 

Marx 21 No 32 / 2013

Freudentänze mit Facharbeitern oder
»Ein Betriebsrat, auf sich allein gestellt, kann nichts erreichen«

Vor vierzig Jahren traten die Arbeiterinnen der Neusser Vergaserfabrik Pierburg in den Ausstand. Der damalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende erinnert sich an einen der legendärsten Streiks der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte

Interview: Martin Haller und Yaak Pabst

Dieter Braeg arbeitete von 1971 bis 2004 beim Automobilzulieferbetrieb Pierburg in Neuss. Hier war er zehn Jahre im Betriebsrat tätig. Zum vierzigsten Jahrestag des Pierburg-Streiks hat er einen Sammelband mit historischen Dokumenten zum Streik von 1973 herausgegeben.

Dein Buch über den Arbeitskampf bei Pierburg heißt »Wilder Streik – Das ist Revolution«. Was hat es mit dem Titel auf sich?
Der Titel geht auf eine Aussage des damaligen Polizeidirektors von Neuss gegenüber einem Journalisten zurück. Mit dem Verweis auf den »revolutionären Charakter« des Streiks versuchte er, die brutalen Übergriffe der Polizei gegen die Arbeiterinnen zu rechtfertigen. Bereits unmittelbar bei Streikbeginn zur Montagsfrühschicht um sieben Uhr hetzte die Firmenleitung über Notruf die Polizei auf die Arbeitsunwilligen vor den Werktoren. Die setzte Knüppel gegen die Kolleginnen ein. Die Staatsmacht schätzte die Streikbewegung als so gefährlich ein, dass sie bereit war mit repressivsten Methoden dagegen vorzugehen. 

Der Streik bei Pierburg war Teil einer ganzen Welle von »wilden« Streiks, die im Frühjahr und Sommer 1973 durch die Bundesrepublik rollte. Über 300.000 Arbeiterinnen und Arbeiter waren daran beteiligt. Wie kam es dazu?
Die SPD-Regierung unter Brandt war aus den Wahlen 1972 gestärkt hervorgegangen. Viele ihrer Wähler hatten große Erwartungen und erhofften sich eine wesentliche Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Doch ihre Hoffnungen wurden entäuscht und die SPD nutzte ihren Einfluss in den Gewerkschaften, um die Lohnforderungen niedrig zu halten. Auch die IG-Metall-Führung schloss entgegen den Erwartungen ihrer Basis verhältnismäßig niedrige Tarifverträge ab. Angesichts der hohen Inflation bedeutete das in Bezug auf die Reallöhne die erste Nullrunde seit dem Wirtschaftswunder. Eine Serie von betrieblichen Arbeitskämpfen, die nicht von den Führungen der Gewerkschaften getragen wurden, hebelten diesen Abschluss bis zum Spätsommer faktisch aus. 
Es ging aber nicht nur um Lohnerhöhungen. Gerade in Unternehmen, in denen viele ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt waren, gab es weitere Forderungen. Die Wohnungssituation, hoher Arbeitsdruck, ungleiche Behandlung und Bezahlung waren wichtige Themen.

Bei Pierburg arbeiteten damals fast 3000 Beschäftigte, überwiegend Frauen, darunter etwa 1700 Migrantinnen. Wie sah der Alltag im Betrieb aus?
Meister, Vorarbeiter und Einrichter – natürlich alles Männer – bestimmten den Arbeitseinsatz der Frauen an den Fließbändern. Die erhielten zwar Zeitlohn, aber je nach Auftragslage wurden immer höhere Stückzahlen verlangt. Zeitnehmer setzten alle Vierteljahre neue Normen. Dabei spielte die Grenze des menschlichen Leistungsvermögens keine Rolle. Fertigte eine Fließbandeinheit im Jahr 1970 noch 800 Vergaser pro Schicht, waren es 1973 bereits 1.300. Am stärksten betroffen waren die ausländischen Frauen. Bis auf wenige Ausnahmen mussten sie – wegen der angeblich »geringen körperlichen Belastung« –  in der Lohngruppe zwei für 4,70 DM pro Stunde im Akkord schuften.

Wie konnte die Geschäftsführung solche unmenschlichen Arbeitsbedingungen durchsetzen?
Wer nicht mitzog, musste mit Bestrafung rechnen. Also: keine Überstunden, ständige Einteilung an besonders unbeliebten und schwierigen, schmutzigen Arbeitsplätzen. Wenn eine der Frauen zu oft auf die Toilette ging, gab es dafür Verwarnungen und die Androhung der Entlassung.

Der Streik erfolgte ohne Urabstimmung und ohne formale Genehmigung der Gewerkschaft. Wer hat ihn organisiert?
Ausländische und deutsche Vertrauensfrauen und -männer organisierten gemeinsam mit dem Betriebsrat den Streik. Dabei mussten die Betriebsräte besonders geschickt taktieren, weil die Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes die »vertrauensvolle Zusammenarbeit zum Wohle des Betriebes« fordert.

Viele Betriebsräte begreifen das »Co-Management« ja auch heute noch als ihre eigentliche Aufgabe. War das bei Pierburg schon immer anders?
Nein, ganz im Gegenteil. Der Betriebsrat war lange Zeit ein echter »Partner« der Geschäftsleitung. Die gingen auch mal gemeinsam ein paar Bierchen trinken. Es gab Aufrufe, in denen der Betriebsrat gemeinsam mit der Geschäftsleitung Maßnahmen für diejenigen androhte, die unpünktlich mit der Arbeit begannen.
Um die Probleme der Beschäftigten kümmerte er sich hingegen wenig. Vor allem nicht um die der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Obwohl 75 Prozent der Belegschaft aus dem Ausland kamen, waren alle Betriebsratsmitglieder Deutsche.

Wie begann sich dieses Verhältnis zu verändern?
Eine wichtige Rolle spielte der Aufbau des gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers durch die IG-Metall-Ortsverwaltung. In ihm waren die ausländischen Kolleginnen und Kollegen zu 50 Prozent vertreten. Die ungefähr 30 bis 40 Vertrauensleute konnten gute Erfolge vorweisen. Innerhalb weniger Jahre stiegen die Mitgliederzahlen von etwa 200 auf über 2000 an. Im Jahr 1970 begann der Vertauenskörper, offensiv den damaligen Betriebsrat zu bekämpfen. Bei der Betriebsratswahl 1972 gelang es schließlich, über die Hälfte der Sitze mit Vertrauensleuten zu besetzen. Als auch der ehemalige Betriebsratsvorsitzende bei der Wahl knapp unterlag, traten die letzten alten Betriebsräte zurück.

Was machte der neuen Betriebsrat anders?
Er ignorierte die Unterdrückungsmethoden der Vorgesetzten nicht länger. Korrupte Dolmetscher zog er zur Rechenschaft. Seit der Betriebsratswahl 1972 gab es keine Zustimmung der Betriebsräte mehr zu geplanten Entlassungen. Die gewerkschaftliche Arbeit wurde noch aktiver. Vertrauensleute und Betriebsräte diskutierten die geleistete Arbeit und die anfallenden Probleme. Vereinbarungen erarbeiteten beiden Gremien gemeinsam. Das gewerkschaftliche politische Schulungsprogramm wurde ausgenutzt, Tarifbewegungen offensiv eingeleitet und durchgeführt, Chile-Resolutionen und Geldsammlungen für gekündigte Kollegen bei Mannesmann organisiert. Das Wichtigste war aber, dass alle Konflikte nun immer öffentlich ausgetragen wurden, vor den Augen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Wir haben regelmäßige Betriebsversammlungen durchgeführt, in allen Sprachen, die im Betrieb gesprochen wurden. Diese Versammlungen gingen durch die vielen Diskussionsbeiträge teilweise bis zu fünf Stunden. In akuten Konfliktsituationen versuchten wir, so rasch wie möglich zusätzliche Abteilungsversammlungen durchzuführen.

Warum war diese Kursänderung wichtig?
Wir wussten, dass wir ohne offene Information der Kollegen schwach sind. Deswegen durfte unsere Arbeit als Betriebsräte nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter mussten lernen, dass ein Betriebsrat, auf sich allein gestellt, nichts erreichen kann. Wir mussten begreifen, dass wir dazu da waren, die Meinungsbildung innerhalb der Belegschaft anzustoßen und umzusetzen. Wir verstanden uns nicht als Integrationsfunktionäre, sondern wollten die Beschäftigten dabei unterstützen, eigenständig zu handeln. Denn letztendlich sind Interessen nicht »vertretbar«. Ihre Durchsetzung lässt sich nur gemeinsam erkämpfen.

Welchen Effekt hatte diese Strategie des Betriebsrates?
Die Arbeiterinnen und Arbeiter gewonnen an Selbstvertrauen und es kam vermehrt zu Aktionen. Ganze Abeilungen zogen in die Kantine und diskutierten mit ihren Vorgesetzten über die Arbeitsbediungen. Unterschriftenaktionen der Belegschaft stellten sich als ein wichtiges Mittel heraus, um Kampfbereitschaft zu entwickeln. Wir als Betriebsrat haben die so entstandene Unruhe im Betrieb weiter politisiert, bis die Streikbereitschaft unter den Kolleginnen und Kollegen gegeben war.

Was waren die Forderungen des Streiks?
Schon im Juni 1973 war es erstmals zu einem spontanen Streik gekommen. Etwa 300 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten sich daran und verlangten die Erfüllung einer ganzen Reihe von Forderungen, die sie selbst in einer längeren Diskussion mit dem Betriebsrat zusammengetragen hatten. Genau daran ist der Streik dann aber auch gescheitert. Denn zum Schluss war das ein Katalog von dreizehn Punkten, die kein Mensch mehr durchschauen konnte. Es fehlte das Vertrauen, diese Forderungsliste auch durchgesetzt zu bekommen, und keiner war mehr bereit, dafür überhaupt zu streiken. Nach zwei Tagen brach der Streik zusammen.
Daraufhin haben wir gemeinsam diskutiert, mit welchen Forderungen man einen Streik über eine längere Zeit zum Erfolg führen kann. Die beiden wichtigsten Forderungen waren eine Stundenlohnerhöhung um eine Mark und die sofortige Streichung der sogenannten Leichtlohngruppe zwei. Die Forderung nach einer Mark mehr war für die gesamte Belegschaft aufgestellt worden. Die zweite Forderung war speziell für die Frauen, die im Streik ja auch eine führende Rolle gespielt haben.

Wie reagierte die Geschäftsführung?
Die Geschäftsleitung war nicht bereit, auf die Forderungen der Streikenden einzugehen. Ruhe im Werk war stets erste Pierburg-Pflicht. Um jeden Preis sollte die Leichtlohngruppe zwei über den Sommer hinweg gerettet werden. Im Herbst gedachte man dann 300 neue Migrantinnen einzustellen und die länger Beschäftigten abzuschieben. Das erklärt auch die kompromisslose Härte, mit der die Pierburg KG den Arbeitskampf führte und streckenweise bis ins Unerträgliche zu eskalieren trachtete.
Mit Hilfe eines Werkschutzes, der sich aus leitenden Führungskräften der Firma zusammensetzte, versuchte das Unternehmen die Streikenden zur Aufgabe des Kampfes zu zwingen. Doch weder die Kündigungsandrohungen noch brutale Polizeieinsätze beendeten den Streik. Es gab keine Minute, in der wir hätten befürchten müssen, dass dieser Arbeitskampf wegen der Einschüchterungen an Kraft verlieren würde.

Der Streik im Kölner Fordwerk 1973, der ebenfalls von migrantischen Arbeitern getragen wurde, endete in einer Niederlage. Die Aktivisten wurden als angebliche Rädelsführer abgeschoben und die Springerpresse titelte: »Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei«. Wie gelang es in Pierburg, die Spaltung der Belegschaft aufzuheben und auch die deutschen Facharbeiter für den Kampf zu gewinnen?
Der Arbeitskampf bei Ford konnte niedergeschlagen werden, weil es nicht gelang, eine einheitliche Streikfront zu errichten. Unterstützt durch rassistische Hetze in der Presse und massiven Polizeieinsatz konnte die Geschäftsleitung die Streikenden spalten.
Der Betriebsrat und der Vertrauenskörper bei Ford bestanden fast ausschließlich aus Deutschen. Sie sahen durch die spontanen Aktionen ihre Autorität und damit ihre Stellung als anerkannte Vermittler gefährdet. Um ihre Privilegien zu sichern, halfen die Betriebsräte aktiv mit, den Streik abzuwürgen. Der Personalrat lobte sie später für ihren »vorbildlichen körperlichen Einsatz«.

Was war bei Pierburg anders?
Dass sich die Belegschaft bei Pierburg nicht spalten ließ, liegt sicherlich auch daran, dass die betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen voll hinter dem Streik standen und ihn mit allen Mitteln unterstützten. Natürlich gab es auch hier Probleme mit Rassismus und Spaltungsversuchen. Aber es gelang nicht, den Streik zu brechen. Am vierten Streiktag überreichten die Streikenden jedem Arbeiter, der ins Werk ging, eine rote Rose. Eine Gruppe streikender Frauen brachte einen riesigen Strauß zu den Facharbeitern im Werkzeugbau. Auf der Karte stand: »Viele Grüße von den streikenden Frauen an den Werkzeugbau. Helft uns!« Als die Kollegen mit dem hocherhobenen Strauß aus dem Werk kamen und sich dem Streik anschlossen, kam es zu Tränenausbrüchen, Umarmungen und Freudentänzen. Erst als auch die Facharbeiter in den Streik eingriffen, war die Geschäftsleitung bereit, sich mit dem Betriebsrat auf Verhandlungen einzulassen. Letztlich wurden die Forderungen weitgehend erfüllt. Die Lohngruppe zwei wurde restlos gestrichen und zudem Lohnzuschläge von 53 bis 65 Pfennig pro Stunde erkämpft.

Wie ging es in den folgenden Jahren weiter?
Es gab Versuche, das Werk zu verlagern und die »Rädelsführer« des Streiks fristlos zu entlassen. Beides glückte der Geschäftsleitung jedoch nicht. Die kritische Betriebsarbeit wurde viele Jahre fortgesetzt und führte zu einer entsprechend kritischen Belegschaft, die sich wehren konnte.

Welche Lehren ziehst du aus dem Streik bei Pierburg für heute ?
Der Pierburg-Streik ist ein Beispiel  für den erfolgreichen Widerstand gegen Kapitalinteressen. Er zeigt das gewaltige Potenzial von Solidarität. Ausgangspunkt dieser Solidarität war dabei das selbstbewusste und mutige Handeln der Arbeiterinnen und ein Betriebsrat, der sich nicht als Co-Manager verstand, sondern als Werzeug zur Selbstermächtigung der Beschäftigten. Wenn ich heute sehe, wie widerstandlos die Frauen von Schlecker in die Arbeitslosigkeit getrieben werden, dann frage ich mich: Haben die Gewerkschaften verlernt, sich wirkungsvoll gegen solche Übergriffe des Kapitals zu wehren? Viele der Punkte, die schon 1973 auf der Tagesordnung standen, sind heute leider immer noch aktuell. Die Frauenlohngruppen sind zwar abgeschafft, aber die Niedriglohngruppen haben sich mittlerweile in einen veritablen Niedriglohnsektor verwandelt. Die Kämpfe der Beschäftigten dort haben Ähnlichkeit mit dem der Pierburg-Frauen. Das sieht man zum Beispiel bei den streikenden Gebäudereinigerinnen und -reinigern, die im Jahr 2010 für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen gekämpft haben, oder den Verkäuferinnen und Verkäufern im Einzelhandel, die sich momentan im Arbeitskampf befinden. Ich hoffe, mein Buch kann eine Anregung sein, die Diskussion über eine Demokratie zu führen, die endlich nicht mehr an den Betriebstoren endet, sondern in die Betriebe einkehrt und von dort aus die Gesellschaft verändert.

 

Kritisch-Lesen.de vom 1.10.2013

Momente des erfolgreichen Widerstands, die Platz finden sollte im kollektiven Gedächtnis der Linken.

Ende August 1973 fand in den Ford-Werken in Köln-Niehl ein "wilder Streik" statt. 300 türkeistämmige Arbeiter_innen sollten fristlos entlassen werden, weil sie verspätet aus dem Jahresurlaub kamen. Dagegen und gegen niedrige Löhne begehrten die Arbeiter_innen auf. Nachdem anfänglich deutsche Arbeiter_innen sich noch mit ihren Kolleg_innen solidarisierten, kippte nach wenigen Tagen die Stimmung. Serhat Karakayali (2005) resümiert, dass der Streik letztlich an der Spaltung in Deutsche und Ausländer gescheitert sei. "Werksleitung, Betriebsrat und Medien hatten es nach und nach geschafft, die ohnehin schon strukturell unterschiedlichen Interessen ideologisch zu verfestigen." Während der Ford-Streik durch die Erinnerungsarbeit von Aktivist_innen mittlerweile relativ bekannt ist, sind viele andere Kämpfe, die von Arbeitsmigrant_innen Anfang der 1970er Jahre geführt wurden, zunehmend in Vergessenheit geraten. So streikten im August 1973 nur wenige Kilometer entfernt von Köln in Neuss bei dem Autozulieferer Pierburg tausende Arbeiter_innen. Der nun von Dieter Braeg, einem damals beteiligten Aktivisten, herausgegebene Sammelband "Wilder Streik – das ist Revolution" dokumentiert die Ereignisse um diesen Arbeitskampf in erster Linie anhand zahlreicher damals erschienener Texte, Interviews und Berichte.

Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Streik bei Pierburg

Die Firma Pierburg ist ein klassisches Beispiel für die Wirkmächtigkeit von Rassismus, Klassen- und Geschlechterverhältnissen auf die Organisation von Arbeit in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre. Während in den Niedriglohngruppen fast ausschließlich Arbeitsmigrant_innen beschäftigt waren, gab es in der Facharbeitergruppe "nur zwei, drei Jugoslawen, einen Griechen, also fast ausschließlich Deutsche" (S. 110), die Vorarbeiter waren sogar ausschließlich Deutsche. Die Fakten der Lohndiskriminierungen werden in einem im Anhang des Buches versteckten, aber sehr aufschlussreichen Referat des Herausgebers Braeg aus dem Jahr 1975 deutlich. Migrantische Arbeiter_innen würden erstens aufgrund der Lohngruppen schlechter gestellt, zweitens wegen ihrer kürzeren Betriebszugehörigkeit durch "Rotation" oft gesteuert, bekämen etwa weder Weihnachtsgeld noch Jahresprämie und erhielten drittens insgesamt "die schlechtesten und schlecht bezahlten Arbeitsplätze" (S. 167). Besonders betroffen waren Migrantinnen. Während beispielsweise ein Aufstieg innerhalb des Betriebs männlichen Migranten vereinzelt gelang, war gleiches für Migrantinnen praktisch unmöglich.

Übergeordnet war es eine auf Rassismus und Geschlechterverhältnissen beruhende Segmentierung der Arbeit, die zum selbstorganisierten "wilden" Streik im August führte. Diesem gingen allerdings zwei Streiks bei Pierburg voraus. 1969/70 protestierten bei selbstorganisierten Streiks jugoslawische Arbeiterinnen (ausschließlich Frauen) in erster Linie gegen die Wohnverhältnisse. Die Frauen wehrten sich gegen massive Einschränkungen im Privatbereich; so sah die Hausordnung der Wohnheime, in denen sie lebten, vor, dass "peinlichste Sauberkeit" zu halten sei, "das Anbringen von Bildern und dergleichen" eine Zustimmung der Hausleitung bedürfe oder es verboten sei, ohne Genehmigung des Hausmeisters Besuch zu empfangen (S. 93f.). Die Frauen hatten Erfolg: Nach und nach wurden die Wohnheime abgebaut und auch die niedrigste Lohngruppe (Lohngruppe I) abgeschafft, was zu einer − wenn auch geringen − Lohnerhöhung führte. Hier gab es bereits Solidarisierungen der deutschen Arbeiterinnen. Wenige Monate vor dem Auguststreik gab es im Juni 1973 einen weiteren spontanen Streik, in dem neben zahlreichen anderen Forderungen zentral die der Abschaffung der Lohngruppe II sowie die Erhöhung des Lohns für alle um eine Mark waren. Der Streik dauerte nur zwei Tage, da Pierburg durch kleinere Gehaltsaufbesserungen den Streik unterlaufen konnte. Der Unternehmensleitung war viel daran gelegen, die Lohngruppe II zu erhalten und die Kosten der Arbeitskraft weiterhin niedrig zu halten. Zudem sollten im Herbst 300 schon länger bei Pierburg arbeitende Migrantinnen entlassen und durch neue − und dadurch günstigere − Arbeiterinnen ersetzt werden.

Gegen diese geplanten Entlassungen richtete sich zunächst der Streik von 200 bis 300 Arbeiter_innen, die am Montag, dem 13. August 1973, zur Frühschicht die Arbeit nicht aufnahmen. Viele Arbeiter_innen in der Fabrik solidarisierten sich nach der Frühstückspause mit den Streikenden vor der Fabrik: 600 schlossen sich an, womit die Produktion lahmgelegt war. Der Streik dauerte die ganze Woche und viele deutsche Arbeiter_innen, auch einige Facharbeiter, solidarisierten sich. Motiviert durch den Pierburg-Streik streikten auch in den Hella Werken in Lippstadt Arbeiter_innen.

Der Streik wurde von heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei begleitet, die sich schnell herumsprachen, einige Journalist_innen auf den Plan riefen und so ihren Weg bis in die Tagesschau fanden. Binnen kurzer Zeit solidarisierten sich auch viele Neusser Bürger_innen und unterstützten die Streikenden aktiv. Auch die IG Metall in Neuss, die zwar offiziell den Streik nicht unterstützen konnte, erklärte sich solidarisch. Durch die Gefährdung der Automobilproduktion bei Ford und Opel durch die Streiks bei den Zulieferern Pierburg und Hella schaltete sich ein Arbeitgebervertreter ein, was den Druck auf Pierburg erhöhte. Und tatsächlich, der Streik hatte großen Erfolg: Fünf Tage nach Streikbeginn wurde verkündet, die Lohngruppe II falle weg und es werde Lohnzuschläge von 53 bis 65 Pfennige geben. Die Streikenden erklärten sich bereit, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Solidarisierungen

Das Buch erinnert an den Streik und vermittelt durch viele Originaldokumente einen Eindruck der Atmosphäre des Kampfes vor vierzig Jahren. Aus heutiger Sicht lohnt es sich, den Streik genauer unter die Lupe zu nehmen, denn anders als beim bekannten Ford-Streik kam es zu Solidarisierungen seitens der deutschen Arbeiter_innen. Die Migrantinnen bei Pierburg forderten Solidarität ein in ihrem Kampf gegen eine durch Rassismus und durch Geschlechterverhältnisse geprägte Organisation der Arbeit, etwa als sie diejenigen Arbeiter_innen, die weiterarbeiteten, mit Rosen beschenkten, aber klar die Bitte um Mithilfe beim Streik formulierten. Eine damalige Gewerkschaftsjugendvertreterin beschreibt in einer Rückschau im Buch eindringlich, wie sie Tränen in den Augen hatte, als am Donnerstag die Kolleg_innen des Werkzeugbaus nach 9 Uhr ihre Arbeit niederlegten und mit erhobenen Rosenstrauß sich solidarisierend auf die Streikenden zugingen.

Die gelungene Solidarisierung gelang nicht zuletzt dank eines linken Betriebsrats, der es nach jahrelangen Kämpfen im Jahr 1972 schaffte, den alten unternehmerfreundlichen Betriebsrat abzulösen, was sich wesentlich auf die Repräsentation auswirkte. War die Mehrheit des Vertrauenskörpers zu diesem Zeitpunkt bereits mehrheitlich durch Migrant_innen besetzt, wurde bei der Zusammensetzung des Betriebsrats darauf Wert gelegt, dass mindestens 50 Prozent Migrant_innen und eine Person pro Nationalität vertreten waren. Außerdem wurden Informationsflugblätter in allen Sprachen der im Betrieb Beschäftigten verteilt und die Betriebsversammlungen in allen Sprachen abgehalten, auch wenn diese dadurch durchschnittlich knapp fünf Stunden dauerten.

Der Betriebsrat widmete sich außerdem Problemen, die nicht konkret die Arbeit betrafen, "sondern auch die Probleme der Wohnung, Ausbildung, des Kulturlebens, der rechtlichen Situation" (S. 170). So forderte der Betriebsrat unter anderem die Garantie einer akzeptablen Wohnung und die sofortige Aufhebung der seit 1973 erlassenen Beschränkungen wie Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse, Bevorzugung von Deutschen bei der Arbeitsplatzvergabe, Zuzugsbeschränkungen in Ballungsgebieten und die diskriminierende Kindergeldregelung.

Die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes

Imposant an dem Buch ist die fühlbare Freude an der Solidarität und am gemeinsamen Kampf. Das gelingt zum einen durch den beiliegenden Dokumentarfilm aus dem Jahr 1975, der die Geschichte des Streiks und der Solidarität in Bilder packt und es schafft, die Atmosphäre auch emotional fassbarer zu machen. Das gelingt zum anderen durch die zahlreichen Originaldokumente im Buch. Zwar hätten diese besser kontextualisiert werden können − bei manchen Dokumenten braucht es eine gewisse Zeit bis sich Indizien verdichten, von wem und wann der Text verfasst wurde. Schade ist zudem, dass nur wenige eigens für das Buch verfasste Texte aus heutiger Sicht die Ereignisse reflektieren, weshalb kaum thematisiert wird, was aus den Streikenden von damals geworden ist. Dennoch: Die Fülle an Originaldokumenten fängt durch ihre Sprache und ihren Stil eindringlich gefühlte und gelebte Solidarität authentisch ein. In einem dokumentierten Streikbericht eines linken Gewerkschafters heißt es:
""Plötzlich ist ein türkischer Dudelsackspieler da, im Werk auf dem Hof und vor dem Werk bilden sich Gruppen aus Männern und Frauen aller Nationalitäten und man beginnt zu tanzen. Die Deutschen machen mit, hilflos am Anfang, aber die Mädchen zeigen ihnen, wie man die Füße setzen muß. ¸Dies ist der schönste Tag meines Lebens', sagt ein älterer deutscher Arbeiter, ¸heute halten wir alle zusammen, das habe ich noch nie in meinem Leben erlebt. Pierburg kann uns nicht schaffen!'" (S. 23)

Der Streik bei Pierburg ist, wie Manuela Bojadzijev (2008) in ihrer umfangreichen und ausgezeichneten Studie "Die windige Internationale" (siehe die Rezension von Katharina Schoenes in dieser Ausgabe) festhält, ein Beispiel dafür, wie rassistische Spaltungen unterlaufen werden konnten − trotz der Strategien der Unternehmensleitung, staatlicher Apparate und der Presse, die Kampfbereitschaft der Belegschaft zu schwächen. Dies gelang, da "Migrantinnen beharrlich auf Allianzen setzten und Solidarität einforderten. Die hatten sie durch gezielte Interventionen erreicht: durch Besuch der Kneipen, die sie sonst nicht frequentierten, durch Einfluss auf die deutschen Facharbeiter, durch die temporäre Aneignung der Fabrik, die zumindest für einen Tag festartigen Charakter erhielt" (Bojadzijev 2008, S. 170).

Der Band hält diese Momente der Solidarität fest und würdigt mit hoher Authentizität einen kurzen Augenblick des gelungenen Widerstands, der Platz finden sollte im kollektiven Gedächtnis der Linken.
Zusätzlich verwendete Literatur

Bojadzijev, Manuela (2008): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Westfälisches Dampfboot, Münster.
Karakayali, Serhat (2005): Lotta Continua in Frankfurt, Türken-Terror in Köln. Migrantische Kämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik. In: Grundrisse 14 (2/20015). Online hier.

 

Wir Frauen - das feministische Blatt / 4.2013

Einen wichtiger Streik aus der Vergessenheit geholt

Im August 1973 befanden sich 70.000 Metall­arbeiterinnen im Streik. Im Zentrum standen dabei die Arbeiterinnen der Autoindustrie, die in Bochum, Köln und Mannheim streikten. Einer der schlagkräftigsten Kämpfe in dieser Situation war der einwöchige Streik der 2.000 Arbeiterinnen der Neusser Vergaserfabrik „Auto- und Luftfahrt-Gerätebau KG A. Pierburg". Nachdem sie sich drei Jahre zuvor aus der untersten Lohngruppe 1 herauskämpften, gelang ihnen unter der Parole „Eine Mark mehr!" die Abschaffung der Lohngruppe 2, das waren damals 4,70 DM pro Stunde, und damit Stundenlohnerhöhungen von 53 bis 65 Pfennig.

Die Filmemacherinnen Edith Schmidt (geboren 1937) und David Wittenberg (geboren 1940) begleiteten die Demonstrationen gegen Lohndis­kriminierung in Neuss. Die Firma Alfred Pier-burg AG stellte Mitte der 1970er Jahre Vergaser und Kraftstoffpumpen für die westdeutsche Automobilindustrie her. Von insgesamt 3.800 Beschäftigten waren ungefähr siebzig Prozent Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus sechs Nationen, wobei Frauen weit in der Mehrzahl waren. Sie setzten sich gegen die unterschiedliche Bezahlung für Männer und Frauen zur Wehr und forderten „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" und „Eine Mark mehr" pro Stunde für alle. Auch traten sie insgesamt für bessere Arbeitsbedingungen ein. In dem Film berichten sie auch von miserablen Wohnbedingungen in den werkseigenen Zimmern. Nach und nach wurden die Arbeiterinnen auch von ihren deutschen (und) männlichen Kollegen voll unterstützt.

Der Streik von Pierburg gilt auch deshalb als legendär, da er in erster Linie von Migrantinnen initiiert wurde und erfolgreich war, die erstmals abgeschaffte Leichtlohngruppe II wurde nicht wieder eingeführt. Außerdem wurde trotz Arbeitsprozessen niemand entlassen und darüber hinaus auch noch die Tarifpolitik der Gewerkschaften in Frage gestellt. Die Filmemacherin Edith Schmidt und der Filmemacher David Wittenberg haben „Pierburg: Ihr Kampf ist unser Kampf" ohne Sendeanstalt und ohne Verbindung zu politischen Gruppen gedreht. Er ist in enger Absprache mit den Streikenden entstanden und wurde als Öffentlichkeitsarbeit für und mit der Belegschaft und dem Betriebsrat produziert. Er war in erster Linie für Diskussionen, Veranstaltungen und überregionale Betriebsarbeit gedacht. Im Fernsehen wurde er nie gezeigt, er lief allerdings auf zahlreichen Solidaritätsveranstaltungen.

Dieter Braeg, beim Streik aktiver Betriebsrat und seit über 50 Jahren Mitglied der IG Metall, dokumentiert in dem 2012 veröffentlichten Buch „Wilder Streik — Das ist Revolution" Beiträge aus der unmittelbaren Zeit nach dem Streik und hat somit einen wichtigen Streik aus der Vergessenheit geholt. Auch der Film von Schmidt und Wittenberg ist in überarbeiteter Fassung als DVD beigefügt. Braeg beschreibt — unabsichtlich? —, wie die Arbeiterinnen über die offensichtlichen Grenzen der institutionellen Strukturen der Arbeiterinnenvertretung hinaustreten. So schreibt Wildtat 94 im Frühjahr 2013: „Es war weniger der kämpferische Betriebsrat in Neuss, der sich zweifellos besonders schlau auf dem feindlichen Terrain des Rechts bewegt hat, sondern die kollektive Macht der weiblichen Massenarbeiter, die ihre deutschen Facharbeiterkollegen mitreißen konnten, was den Streik so effektiv machte. Genau darauf müssen wir hinweisen, wenn wir »gesellschaftsverändernd in die Betriebe zurückkehren« wollen."

Heute heißt die (Frauen-)Lohngruppe 2 „Niedriglohnsektor" — Gewerkschaften und viele Betriebsrätinnen haben dabei kaum Widerstand geleistet.

Gabriele Bischoff

 

JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2014 / I

„ Eine durch den Streik zusammenge­wachsene und kämpferisch auftreten­de multinationale Belegschaft“

Von Frühjahr bis Sommer 1973 erleb­te die Bundesrepublik eine der größten Wellen sogenannter „wilder“ Streiks in ihrer Geschichte. Insgesamt waren über 300.000 Menschen in mehr als 300 Betrieben in nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitsniederlegungen involviert. Die Streiks breiteten sich dabei von den traditionellen Kernbereichen der Montanindustrie auf die industrielle Massenfertigung in der Automobil-, Elektronik- und Konsumgüterproduktion aus. Sie erfassten damit insbesondere auch die un- und angelernten Arbeitskräfte an den Fließbändern, zu großen Teilen Frauen und Migranten, welche die bestehenden diskriminierenden Lohnhierarchien infrage zu stellen begannen. Zugleich wurde die Streikwelle von einer vergleichsweise breiten unterstützenden Öffentlichkeitsarbeit begleitet, die sich in Solidaritätskundgebungen, Flugblättern und Streikbroschüren, aber auch Filmproduktionen niederschlug. Eine der wohl bekanntesten und damals meistgesehenen, der Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“ über den Streik der zumeist migrantischen Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss, nahe Düsseldorf, wurde in überarbei­teter Fassung (Dieter Braeg und Raimund Kirschweger) auf DVD zusam­men mit einem kleinen Sammelbänd­chen neu herausgegeben.

Der Sammelbd. selbst umfasst zumeist historische Dokumente sowie heute oft vergriffene Texte, die sich mit dem Streik und der Betriebsratsarbeit bei Pierburg befassen und von dem damaligen stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden Braeg zusammengestellt wurden. Eingeleitet wird das Bändchen von Peter Birke, welcher 2007 in seiner Arbeit zu wilden Streiks in Westdeutschland und Dänemark auch die Streikwelle von 1973 behandelt hatte (Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt/Main 2007). Birke ordnet diese Streiks in eine längere historische Tradition inoffizieller Arbeitskämpfe seit den 1950er-Jahren ein. Das „Scharnier“ zwischen der alten und der neuen Geschichte dieser Streiks sieht er in den Septemberstreiks 1969, die sowohl Widerstandsformen der traditionellen Arbeiterbewegung als auch einige neue Elemente der Jugendrevolten und welt­weiten Arbeitskämpfe um 1968 verbanden. (S.11) Die Streikwelle von 1973, die unmittelbar vor Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise im Zuge des Öl­preisschocks aufstieg, bildete den Höhepunkt und Abschluss dieses Kampfzyklus’. Sie artikulierte noch einmal einen breiten, offensiven Entschluss der Lohnabhängigen, ihre Situation zu ver­bessern, stieß aber bereits auf heftigen Widerstand von Staat, Unternehmern und zum Teil Gewerkschaftsinstanzen.

Insbesondere die Migrantenstreiks waren häufig schwerer polizeilicher Repression ausgesetzt und scheiterten nicht selten an der Spaltung der Belegschaften. Hier bildete der Streik bei Pierburg ein bemerkenswertes Gegenbeispiel, vor allem zu dem bekannteren Streik bei Ford in Köln-Niehl. Bei Pierburg solidarisierten sich schließlich auch die überwiegend männlichen deutschen Facharbeiter mit dem Streik der zumeist weiblichen und migrantischen Bandarbeiterinnen und trugen so nicht unwesentlich zum Erfolg bei. Die Ereignisse rund um diesen Streik werden in den Texten und Dokumenten meist aus der noch frischen und unmittelbaren Sicht der 1970er-Jahre heraus beschrieben. Lediglich ein Interview mit der damaligen Jugendvertreterin Gabi Schemann ist im Vorfeld der Buchveröffentlichung entstanden.

Die Texte behandeln nicht nur den Streik selbst, sondern auch seine Vorgeschichte und die Auswirkungen. Bereits 1970 hatten die ersten 300 migrantischen Arbeiterinnen aus Jugoslawien gegen die schlechten Bedingungen in den betriebseigenen Wohnunterkünften und die niedrige Bezahlung gestreikt und mit der Beteiligung ihrer deutschen Kolleginnen die Abschaffung der untersten Lohn­gruppe 1 erreicht. Im Juni 1973 wurde ein erster Vorstoß von 200 migrantischen Arbeitskräften zur Abschaf­fung auch der Lohngruppe 2 und einer linearen Erhöhung der Stundenlöhne um 1 DM unternommen, scheiterte jedoch zunächst vor allem an den Manövern der Geschäftsleitung. Im August des gleichen Jahres kam es schließlich zu einem erneuten Anlauf durch eine Gruppe griechischer Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich zum Beginn der Frühschicht vor dem Werkstor versammelten und die übrigen Arbeitenden zum Anschluss aufforderten. Dieses Mal beteiligten sich schließlich bis zu 2.000 der rund 3.600 Beschäftigten des Werkes an dem Ausstand. Seinen Höhepunkt erreichte der Streik am dritten Tag. Nach einem Polizeiübergriff gegen die Streikenden und nachdem sich die Geschäftsleitung geweigert hatte, mit dem Betriebsrat zu verhandeln, legten auch die Facharbeiter die Arbeit nieder. Am fünften Streiktag gab die Geschäftsleitung schließlich nach, nachdem sich auch der Arbeitgeberverband in die Verhandlungen eingeschaltet hatte, da der Ausstand bereits die Produktion in der Automobilindustrie zu gefährden begann. Das Ergebnis bestand in der Abschaffung der Lohngruppe 2 und Stundenlohner­höhungen um 53 und 63 Pfennige.

Die Texte, die zumeist aus einer linken Betriebsratsperspektive verfasst sind, legen ihr Augenmerk auf die Rolle, welche linke Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen bei der Entstehung und Unterstützung einer kämpferischen Betriebskultur gespielt haben. Das Selbstverständnis einer solchen Betriebsratspolitik wird im Wochenbericht eines anonymen Betriebsrates in dem Satz zusammengefasst: „Nicht Integrationsfunktionäre, sondern Initiatoren des Wegs, der es den Arbeitern ermöglicht zu handeln, haben wir zu sein.“ (S.90)

Die Hauptaufgabe wurde deshalb darin gesehen, eine möglichst breite und von sprachlichen Barrieren freie Informationsvermittlung zu gestalten und eine umfassende Partizipation der im Betrieb beschäftigten Migranten und Migrantinnen zu gewährleisten. Letztlich entsteht in den Berichten das Bild einer durch den Streik zusammengewachsenen und kämpferisch auftretenden multinationalen Belegschaft, die auch in den folgenden Jahren Angriffe und Racheaktionen des Unternehmens, wie versuchte Auftragsverlagerungen und eine Klage gegen drei Betriebsratsmitglieder, abwehren konnte. Zugleich werden aber auch die Schwierigkeiten einer solchen aktiven Betriebspolitik deutlich, der aufreibende Kleinkrieg bei alltäglichen Beschwerdeverfahren, die juristischen Gratwanderungen zwischen Unterstützung widerständiger Praxis und der gesetzlichen Verpflichtung auf das Betriebswohl sowie insbesondere die Hindernisse und Widerstände, die bei benachbarten Be­triebsräten und den übergeordneten gewerkschaftlichen Verwaltungsstellen aufgebaut wurden.

Bis auf eine Textpassage, die einem Roman entnommen wurde, der den Streik behandelt, gibt es leider keine Texte oder Interviews, welche die­sen aus Sicht der beteiligten Migranten und Migrantinnen selbst schildern, was wohl der Quellenlage geschuldet ist. Es wäre jedoch hilfreich gewesen, statt einiger weniger Angaben im Vorwort des Hrsg. einen genaueren Quellennachweis zu den verwendeten Texten und Interviews zu führen. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Belegschaft und der Kämpfe im Werk über das Jahr 1975 hinaus wäre zudem sicherlich für heutige Leser und Leserinnen eine nützliche Zusatzinformation gewesen. Nichtsdestotrotz ist mit den Texten im Sammelbd. ein spannender, gut lesbarer und informativer Einblick gelungen, der ein lebhaftes Interesse verdient. Nicht zuletzt die beigefügte Film-DVD lässt auch visuell und akustisch etwas vom kämpferischen Geist in den damaligen Auseinandersetzungen erspüren. 

Dietmar Lange

 


 


 

 

 
 

Fenster schließen