"Neues Deutschland" vom 25.7.2007
"Trennungen überbrücken"
"Obwohl einige der letzten Tarifrunden wegen der
günstigen Konjunktur aus Gewerkschaftssicht sehr gut gelaufen sind,
ist die Defensive der Arbeitnehmerseite längst nicht überwunden.
Abschlüsse wie der für Gewerkschaft wie Mitarbeiter nicht
besonders erfolgreiche Tarifkompromiss bei der Deutschen Telekom halten
die Diskussion über Einfluss und Möglichkeiten der Arbeitnehmerorganisationen
auch weiter aktuell. Schließlich ist es längst keine Ausnahme
mehr, wenn die Arbeitnehmerseite in Tarifauseinandersetzungen schmerzhafte
Zugeständnisse machen muss. Das ist ein Ausdruck "der Krise
gewerkschaftlicher und vergleichbarer sozialer Organisationen, die sich
als Durchsetzungsorgane für die Bestimmung und Verwaltung von Mitgliederinteressen
verstanden haben", schreiben die Herausgeber eines kürzlich
im Verlag "Die Buchmacherei" erschienen Bandes.
Neun Autoren widmen sich der immer aktuellen Frage, wie Arbeitnehmer
im "Postfordismus" für ihre Interessen kämpfen können.
Was bedeutet es für eine gewerkschaftliche Interessenvertretung,
wenn sich die Mitglieder nicht mehr über ihre soziale Situation
austauschen können, weil die Arbeitszeitgestaltung und räumliche
Trennung einen Kontakt kaum mehr möglich macht? Wie haben Gewerkschaften
in anderen Ländern auf vergleichbare Veränderungen im Arbeitsprozess
reagiert - und was können wir davon lernen? Kann die Konzentration
auf das Thema "Prekarität" wieder neue Impulse für
soziale Bewegungen schaffen?
Die im Band versammelten Beiträge wurden im Rahmen von Arbeitsgruppen
und Diskussionsrunden im Bremer Verein SEARI ("Social Economic
Action Research Institute") gehalten. SEARI war bis 2004 der Bremer
Universität angegliedert und forscht jetzt als unabhängiger
Verein über die gegenwärtigen Veränderungen des globalen
Kapitalismus und Ansatzpunkte für sozialen Widerstand unter diesen
neuen Bedingungen.
Willi Hajek kommt bei seinem Vergleich von Erwerbslosenprotesten in
Frankreich und Deutschland zu durchaus interessanten Ergebnissen. Während
die wohl größte deutsche Gewerkschaftszeitung "ver.di-Publik"
jüngst eine ellenlange Reportage über den Arbeitsalltag einer
eifrigen Beamtin abdruckte, die berufsmäßig Erwerbslosen
auf der Jagd nach "Sozialbetrügern" bis in die Badezimmer
nachspioniert und sich über die Anspruchsmentalität von Hartz-IV-Empfängern
aufregte, verfassten gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter von Arbeits-ämtern
in Frankreich eine Erklärung, in der sie sich selbst verpflichteten,
auf keinen Fall Menschen zu schaden, die durch den Verlust von Beschäftigung
und Einkommen ohnehin benachteiligt sind.
Die Software-Entwicklerin Inken Wanzek beschreibt die Entstehung eines
Mitarbeiter-Netzwerkes, das lange dem Druck von Siemens standgehalten
hat, obwohl es wegen seiner kämpferischen Haltung erst mit dem
Unternehmen und später mit der IG Metall in Konflikt geraten ist.
Dirk Hauer und Martin Dieckmann beschäftigen sich in ihren Beiträgen
kritisch mit der aktuellen Debatte um das "Prekariat", die
mittlerweile längst das Mainstream-Bewusstsein erreicht hat. "Es
sollte zu denken geben, dass zwar die Kämpfe (...) der Prekären
beschworen werden (...), gleichzeitig aber auf die Kämpfe gegen
den Prekarisierungsangriff etwa bei Daimler oder Opel kaum Bezug genommen
wird."
Das Buch zeigt an einigen Beispielen, dass Widerstand auch im "Postfordismus"
in den verschiedenen Bereichen möglich ist. In diesem Zusammenhang
liefert der Band auch Bausteine für eine Theorie sozialer Bewegungen."
Peter Nowak
Literaturbeilage der Zeitung "Junge Welt" vom
10.10.2007
"Was die Linke interessieren wird"
"Der sogenannte Neoliberalismus hat auch die Arbeit
verändert, und zwar häufig insofern, dass den Beschäftigten
Verantwortung für bestimmte Bereiche übertragen werden: das
Kommando des Vorgesetzten wird tendenziell ersetzt durch das Kommando
des Marktes. Die Herausgeber fragen nun, welche Auswirkungen diese "Selbstorganisation"
der Lohnarbeit auf die Identität der Beschäftigten hat, und
was dass für die Möglichkeit von sozialen Bewegungen bedeutet.
Leider hinterfragen manche der Autoren nicht, wie weit die Unabhängigkeit
im "Postfordismus" tatsächlich geht. Besonders im ersten
Teil des Buches gehen sie sozialphilosophisch statt empirisch an das
Problem heran und unterscheiden kaum nach den verschiedenen Sektoren.
Der Unterschied, den es macht, ob eine Altenpflegerin oder ein gut bezahlter
Softwareentwickler ein bestimmtes Arbeitskontingent "selbstbestimmt
abarbeitet", wird dadurch verwischt. Lars Meyers "Überlegungen"
über die "Organisierte Selbstorganisation" ragen heraus:
ein Überblick über die verschiedenen betrieblichen Strategien
samt ihrer soziologischen Beschreibungen, denen Meyer einen marxistischen
Erklärungsversuch gegenüber stellt. Im zweiten Teil werden
dann beispielhaft Arbeitskämpfe und soziale Bewegungen dargestellt,
im dritten der Begriff der Prekarisierung kritisiert. Allerdings bleibt
der Zusammenhang zwischen der Selbstorganisation im Betrieb und Selbstorganisation
des Widerstands vage. Dennoch sind viele der Analysen lesenswert. Denn
es wird erstens deutlich, wie missverständlich es mittlerweile
ist, Formen wie Scheinselbständigkeit oder Projektarbeit als "atypisch"
zu nennen, weil die sogenannten "Normalarbeitsverhältnisse"
längst die Ausnahme sind, auch unter den männlichen Facharbeitern.
Und zweitens, dass kein Weg zurück in die Zeit vor der "bürgerlichen
Revolution" des Postfordismus (Meyer) führt."
Matthias Becker
"UTOPIE Kreativ" Heft 207, Januar 2008
"Bleibt zu hoffen, dass das unterbreitete Diskussionsangebot
rege genutzt wird"
"Nur auf den ersten Blick scheint das Thema des Sammelbandes
"Selbstorganisation..." enger gefasst zu sein (als das Buch
"Kontroversen über den Zustand der Welt";). Der sogenannte
Neoliberalismus hat auch die Arbeit verändert, und zwar häufig
insofern, dass den Beschäftigten Verantwortung für bestimmte
Bereiche übertragen werden: das Kommando des Vorgesetzten wird
tendenziell ersetzt durch das Kommando des Marktes. Die Herausgeber
fragen nun, welche Auswirkungen diese "Selbstorganisation"
der Lohnarbeit auf die Identität der Beschäftigten hat, und
was dass für die Möglichkeit von sozialen Bewegungen bedeutet.
Leider hinterfragen manche der Autoren nicht, wie weit die Unabhängigkeit
im "Postfordismus" tatsächlich geht. Besonders im ersten
Teil des Buches gehen sie sozialphilosophisch statt empirisch an das
Problem heran und unterscheiden kaum nach den verschiedenen Sektoren.
Der Unterschied, den es macht, ob eine Altenpflegerin oder ein gut bezahlter
Softwareentwickler ein bestimmtes Arbeitskontingent "selbstbestimmt
abarbeitet", wird dadurch verwischt. Lars Meyers "Überlegungen"
über die "Organisierte Selbstorganisation" ragen heraus:
ein Überblick über die verschiedenen betrieblichen Strategien
samt ihrer soziologischen Beschreibungen, denen Meyer einen marxistischen
Erklärungsversuch gegenüber stellt. Im zweiten Teil werden
dann beispielhaft Arbeitskämpfe und soziale Bewegungen dargestellt,
im dritten der Begriff der Prekarisierung kritisiert. Allerdings bleibt
der Zusammenhang zwischen der Selbstorganisation im Betrieb und Selbstorganisation
des Widerstands vage. Dennoch sind viele der Analysen lesenswert. Denn
es wird erstens deutlich, wie missverständlich es mittlerweile
ist, Formen wie Scheinselbständigkeit oder Projektarbeit als "atypisch"
zu nennen, weil die sogenannten "Normalarbeitsverhältnisse"
längst die Ausnahme sind, auch unter den männlichen Facharbeitern.
Und zweitens, dass kein Weg zurück in die Zeit vor der "bürgerlichen
Revolution" des Postfordismus (Meyer) führt.
Zweifelsohne befindet sich der Neoliberalismus
in einer Krise. Die Zeiten, in denen er hegemonial das Denken großer
Teile der Gesellschaft, keineswegs bloß der "Eliten",
bestimmte, scheinen vorbei. Die Entstehung und Etablierung der LINKEN
ist nur der sinnfälligste Ausdruck hierfür.
Wenn man von neoliberaler Hegemonie, deren Krise sowie Versuchen, ein
gegenhegemoniales Projekt zum Neoliberalismus aufzubauen, spricht, muss
man in Rechnung stellen, was mit Hegemonie eigentlich gemeint ist. Es
handelt sich hierbei keineswegs um ein reines Zwangs- oder Gewaltverhältnis.
Vielmehr handelt es sich um eine Herrschaftsform, die auf der - passiven
oder aktiven - Zustimmung der Mehrzahl der von ihr Unterworfenen beruht.
Eine solche Zustimmung ist nur dann möglich, wenn an der realen
Lebens- und Arbeitssituation der Menschen angeknüpft, ihre Erfahrungen
thematisiert und ihre Bedürfnisse zumindest partiell artikuliert
werden.
Fasst man nun den Neoliberalismus als eine hegemoniale Herrschaftsform
auf, dann stellt sich die Frage, an welche Erfahrungen der Subjekte
er anknüpfen konnte/kann, worin seine Attraktivität bestand/besteht
und was dies für eine systemtransformierende Praxis sozialen Widerstands
bedeutet.
Dem in der Berliner Medienwerkstatt "Die Buchmacherei" erschienenen
Sammelband "Selbstorganisation. Transformationsprozesse von Arbeit
und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus" lassen sich
wichtige Antworten auf diese Fragen entnehmen. Hervorgegangen ist der
Band aus einer Veranstaltungsreihe, die das "Institut für
sozialökonomische Handlungsforschung (SE-ARI)" zwischen Herbst
2005 und Frühjahr 2006 in Bremen organisierte.
Der Zusammenhang zwischen den Beiträgen wird durch die gemeinsame
Orientierung an den thematischen Eckpunkten (Wandel der) Arbeitsorganisation,
der Entstehungs- und Handlungsbedingungen sozialer Bewegungen, der Subjektkonstitution
sowie Selbstorganisation hergestellt. In einem ersten Block von Beiträgen
geschieht dies in eher theoretischer Form, im zweiten Block mit Hilfe
von Beispielen aus der sozialen Praxis. Abschließend wird mit
dem Thema Prekarisierung/prekäre Arbeitsverhältnisse eine
Diskussion aufgenommen, die mir für die Linke derzeit von zentraler
Bedeutung scheint. Damit gelingt es den Autorinnen und Autoren, eine
Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven mit einer Kohärenz zu verknüpfen,
so dass die Beiträge wechselseitig als Erläuterungen und Vertiefungen
gelesen werden können.
Gemeinsam ist den Beiträgen die Orientierung an einem transformatorischen
bzw. "radikalen" Reformverständnis. "Reformen",
so die Herausgeber in der Einleitung "orientieren sich hier nicht
an den von den Erfordernissen des Kapitals vorgegeben Grenzen, sondern
u.a. an der Frage, inwieweit sie Bedingungen für eine Transformation
der kapitalistischen Gesellschaftsformation in sich tragen und somit
über die im Kapitalismus grundsätzlich zur Disposition stehenden
Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen hinaus nachhaltige
Veränderungen befördern" (S. 11).
In einer aufschlussreichen Rekonstruktion der psychosozialen Folgen
der (gewaltförmigen) Durchsetzung des Kapitalismus macht Holger
Heide in seinem Beitrag "Angst und Kapital. Warum Widerstand im
Postfordismus so schwierig ist" einen Vorschlag, wie sich die Entstehung
dieser beiden konträren Vorstellungen von Reform erklären
lassen und was notwendig ist, um ein transformatorisches Reformverständnis
in sozialen Bewegungen verankern zu können. Die gewaltförmige
Durchsetzung des Kapitalverhältnisses habe zu einer "kollektiven
Traumatisierung" geführt, die sich in einer unbewussten "Identifikation
mit dem Aggressor", d.h. dem Kapital, äußere. Konsequenz
hieraus sei eine ungerichtete Wut als Reaktion auf die verdrängte
Angst auf der einen, der Verlust an den Glauben an Alternativen zum
Kapitalismus als System und damit das Sich-Bescheiden auf die Beseitigung
von Ungerechtigkeiten innerhalb des Systems auf der anderen Seite. Nur
wenn innerhalb der sozialen Bewegungen die in jedem einzelnen sitzende
Angst und Wut in einer solidarischen Anstrengung bearbeitet (durchgearbeitet)
werde, könne sozialer Widerstand über das Bestehende hinausführen.
Heide macht deutlich, dass es die Subjekte sind, die den Kapitalismus
durch ihr Denken und Handeln mit reproduzieren und eine Abstraktion
von diesem, die einer antikapitalistischen Theorie und Praxis nicht
gerecht zu werden vermag. Was dies für die Praxis sozialer Bewegungen
bedeuten könnte, diskutiert er in einem weiteren Beitrag am Verhältnis
von Interesse und Bedürfnis exemplarisch am
Beispiel von Genossenschaften und den "Anonymen Alkoholikern"
als organisierte Selbsthilfegruppe. Er macht zugleich klar, dass ein
unvermittelter Appell an die Subjekte "aufzuhören, den Kapitalismus
zu machen" (John Holloway) wenig Aussicht auf Erfolg haben wird,
wenn die Bearbeitung der Ängste nicht ein wichtiges Moment der
politischen Praxis wird.
Wird die dialektische Verschränkung von Subjekt und Objekt, von
Individuum und Gesellschaft bei Heide, wie auch in Michael Danners sozialphilosophischer
Reflexion des sich selbst entfremdenden Selbst primär von der "subjektiven
Seite" her entwickelt, so rücken Athanasios Karathanassis
und Lars Meyer die "objektiven" polit-ökonomischen Wandlungsprozesse
des Kapitalismus in den Mittelpunkt und untersuchen von dort aus, was
diese für die Formierung und Beschaffenheit sozialer Bewegungen
(Karathanassis) und die spezifischen Subjektivierungsformen in der Lebens-
und v. a. Arbeitswelt bedeuten.
Karathanassis macht mit dem begrifflichen Instrumentarium der Regulationstheorie
klar, dass die Stärke der klassischen "alten sozialen Bewegungen"
in ihren bürokratisch-großorganisatorischen Formen von Gewerkschaften
und reformistischen Arbeiterparteien an einen bestimmten Entwicklungsstand
des Akkumulationsregimes gebunden war und nur eine besondere Form der
Regulation des Kapitalverhältnisses darstellt. Mit dem Übergang
zum Postfordismus werden diese bürokratischen Großorganisationen
in zweifacher Weise in Frage gestellt: Zum einen werden sie als Verhandlungspartner
in einem korporatistischen "Wettbewerbsbündnis" für
die Kapitalstrategien immer entbehrlicher. Zum anderen entsprechen sie
immer weniger den gewandelten Bedürfnissen der Menschen nach Autonomie
und Selbstorganisation.
Die Widersprüchlichkeit der "neuen Autonomie" in der
Arbeitswelt ist Gegenstand der arbeitssoziologischen Skizze bei Lars
Meyer. Diese ergibt sich seiner Ansicht nach dadurch, dass mit betriebswirtschaftlichen
Konzepten der "indirekten Steuerung" zwar den Bedürfnissen
nach Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Autonomie entgegengekommen
wird. Da der Rahmen, in dem diese Prozesse stattfinden, jedoch durch
Imperative der Kapitalverwertung diktiert wird, komme es zu einer pathologischen
Verkehrung, die sich in Selbstausbeutung, Intensivierung von Arbeit,
Stress etc. äußere.
Empirisch gesättigt werden die oben skizzierten theoretischen Diskussionen
durch Beispiele sozialen Widerstands, welche wiederum als Reaktion auf
die sich verändernden Arbeitsorganisationen und betrieblichen Strategien
gesehen werden müssen. Der Versuch der Selbstorganisation spielt
hier eine wesentliche Rolle, am Beispiel der französischen SUD-Gewerkschaften,
des Kampfes gegen die Einführung des CPE sowie der confédération
paysanne bei Willi Hajek, ebenso wie in Inken Wanzeks Beitrag über
das NCI-Netzwerk bei Siemens.
Um den Faden vom Anfang noch einmal aufzunehmen. Aus dem Buch lässt
sich lernen, dass eine politische Praxis, die auf eine Überwindung
der Kapitaldominanz abzielt, nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie
die Wandlungsprozesse, die mit dem Neoliberalismus/ Postfordismus einher
gingen, ernst nimmt, und sich fragt, inwiefern die Bedürfnisse
(Autonomie, Selbstorganisation etc.), die durch diesen in pervertierter
Form artikuliert werden, auf "höherer Stufe" eingelöst
werden können. Dies schließt ein Zurück zu den scheinbar
"goldenen Zeiten" des Keynesianismus, dessen ökologische
und globale Kosten sowie rassistische und sexistische Ausschlussmechanismen
von so manchen zur Zeit geflissentlich übersehen werden, aus. Dass
die sozialen Bewegungen in diesem Transformationsprozess eine zentrale
Rolle spielen (müssen), steht außer Frage. Daneben scheint
mir aber auch eine Wandlung und Revitalisierung von Parteien und Gewerkschaften
als Akteuren sozialen Widerstands notwendig. In welche Richtung eine
solche Veränderung gehen müsste, auch dafür lassen sich
dem besprochenen Buch, neben den Herausforderungen, die mit den Wandlungen
des Kapitalismus für eine widerständige Theorie und Praxis
einhergehen, wichtige Hinweise entnehmen. Bleibt zu hoffen, dass das
unterbreitete Diskussionsangebot rege genutzt wird."
Alexander
Schlage
Neue Rheinische Zeitung - online vom 07.02.08
... authentisch und leicht lesbar
Der im neoliberalen Gewand auftretende Kapitalismus führt
zu einer stärkeren Verinnerlichung seiner Regeln. Mit "der
Ausfransung der Ränder" der "großen Aggregate der
industriellen Arbeit" (so der Autor Martin Dieckmann) setzte das
ein, was seit Anfang der achtziger Jahre mit dem Begriff Prekarisierung
gekennzeichnet ist.
Nach Ansicht von Dieckmann sind die inhaltlichen Bedeutungen der Begriffe
Proletariat und Prekariat im Marxschen Sinne des freien Arbeiters zwei
Seiten einer Medaille. Dabei kennzeichnet Prekariat aber die Entwicklung,
die immer stärker an Bedeutung zunimmt: die Teilung der warenförmigen
Arbeit als fließende Übergänge von Kern- und Randbelegschaften,
in neue Selbstständige, Scheinselbstständige und Niedriglohnbereiche.
Die Folge: "die Macht" der zentralistischen, bürokratischen
Gewerkschaften als Interessensorganisationen der Arbeit implodiert.
Die innerbetriebliche Aufteilung der Betriebe als aufeinander bezogene
Märkte und die zunehmende Auslagerung von Produktions- und Dienstleistungsarbeiten
in neue Selbstständigkeiten führt zur unmittelbaren Konfrontation
mit der Konkurrenz. Gleichzeitig entstehen aber Freiräume, die
Arbeit innerhalb der Regeln des Profits und der Konkurrenz selbstständiger
zu gestalten.
Soziale Widerständigkeit
An den Widersprüchen dieser Entwicklung setzen die
AutorInnen an. Die zehn Beiträge des Buches stammen aus Workshops
und Vortragsreihen des Instituts für sozialökonomische Handlungsforschung
(SEARI). Inhalte und Formen sozialer und widerständiger Selbstorganisation
stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen und Überlegungen. Im Zusammenhang
mit der neoliberalen Entwicklung und den darin eingebetteten Formen
und Inhalten von Selbstorganisation beleuchten die AutorInnen die "gegenwärtig
sich zeigende soziale Widerständigkeit" mit ihren Erfolgen
und Problemen und versuchen, daraus Anknüpfungspunkte für
weitere theoretische Überlegungen und praktische Schritte abzuleiten.
Während in den ersten vier Beiträgen die theoretische Abhandlung
im Vordergrund steht, enthalten die 3 Beiträge des zweiten Teils
praktische Beispiele aus historischer und aktueller Sicht. Der dritte
Teil des Bandes umfasst Beiträge, die sich mit Problemen der als
typisch prekär gekennzeichneten Arbeitsverhältnisse beschäftigen.
Gegenseitige Angst
Selbstorganisierter Hartz IV-Gegner Foto: HD Hey, arbeiterfotografie.comDer
Frage, warum der Widerstand unter den neuen Bedingungen des so genannten
Postfordismus so schwierig ist, geht Holger Heide im ersten Beitrag
mit drei Thesen nach. Das Verhältnis von lebendiger Arbeit und
totem, vampiristischem Kapital beruhe psychologisch auf gegenseitiger
Angst. Das Kapital (durch wen personalisiert?) habe Angst vor der Selbstbestimmung
der lebendigen Arbeit. Uns binde die Angst aus dem kollektiven Trauma
der gewaltsamen, historischen Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft an
das Kapital. Ohne dieses kollektive Trauma ist der äußere
Zwang als innerer Arbeitsantrieb nicht denkbar. Viele Menschen zerbrechen
aber in der harten Konkurrenz um die Früchte des Marktes "an
der Grenzenlosigkeit der selbst gesetzten Ansprüche an sich selbst".
Dem müsse ein weiterentwickelter Begriff von Solidarität entgegengesetzt
werden, der von der abstrakten Ebene des Interesses auf die gefühlsmäßige
Ebene des Bedürfnisses herunterkommt. In der Angst liege das Autonomiedefizit,
und damit sei das Durchbrechen der Angstspirale der erste entscheidende
Schritt, den die neuen sozialen Bewegungen bewusst angehen müssten.
Selbstbefreiend organisieren
In seinem Beitrag über die "organisierte Selbstorganisation"
weist Lars Meyer in Anlehnung an Hardt und Negri auf das "revolutionäre
Potenzial" der selbstregulierenden Organisationsformen. Dies ließe
sich daran festmachen, dass die neuen Kooperationsbeziehungen der modernen
Arbeitsorganisation mit einer moralischen Entwicklung einhergingen,
die mit der Erfahrung von Gleichheit im Kontrast zur Unterordnung verbunden
wäre. Die Grenzen und Paradoxien der eigenen Subjektivität
unter den Bedingungen des Privateigentums durchsichtig machen und sich
dabei selbstbefreiend zu organisieren, müsste dadurch geschehen,
dass die Individuen lernen aus einer "inneren Autonomie" zu
handeln und dass auf allen gesellschaftlichen Ebenen Prozesse des Erfahrungsaustausches,
der Wissensaneignung und der kritischen Selbstreflexion in Gang kommen,
die den Anspruch der Gleichheit gegen alle Herrschaftsverhältnisse
zur Geltung bringen.
Deutsch-französische Einblicke
"Selbstorganisation" wird nötiger denn
je | Titel Die Buchmacherei Mit den deutsch-französischen Einblicken
in den selbstermächtigten Widerstand gegen die Zumutungen von Behörden
und Kapital schildert der Autor Willi Hajek eine Reihe interessanter
Beispiele von Widerständigkeit aus beiden Ländern. Die seit
den neunziger Jahren in Frankreich erfolgte Herausbildung der dezentralen
SUD-Gewerkschaften deutet auf eine Radikalisierung des Widerstandes.
Die SUDs gewinnen an Boden, wie die Beispiele bei Post und Telekom zeigen.
Sie verstehen sich nicht als Stellvertreterorganisationen für Lohnund
Arbeitsfragen. Durch ganzheitliche Konzepte im Gesundheits- oder im
Verkehrsbereich, in dem eine Föderation vom Taxi- und LKW-Fahrer
über den Lokführer bis zum Piloten angestrebt wird, wird die
Frage nach dem konkreten Nutzen für die Menschen zum Gegenstand
der öffentlichen Auseinandersetzung gemacht, in den auch die VerbraucherInnen
einbezogen werden.
Siemenskonzern 2002
Inken Wanzek schildert, wie im Siemenskonzern 2002 aufgrund
einer angekündigten Massenentlassung ein basisdemokratisches Netzwerk
von KollegInnen entsteht, die spontan bereit sind, sich zu wehren. Dieses
firmeninterne Netzwerk NCI ist autonom vom Konzern und von den Gewerkschaften.
Die Verständigung erfolgt über E-mails und Treffen. Es gibt
keine Hierarchie. Der Einfluss eines Mitglieds bestimmt sich nach dem
Grad seiner Aktivität. Dieses Netzwerk lebt einen kontinuierlichen
Prozess der Selbstverständigung sowie der Koordination von Handlungen
und Zielen. Das NCI hat sich mit der Befriedungspolitik der IG Metall
nicht einverstanden erklärt und verfügt inzwischen über
einen Sitz im Betriebsrat.
Sergio Bologna beschreibt die Situation der prekären Selbstständigen
in Italien, wo Kleinstbetriebe seit den achtziger Jahren wie Pilze aus
dem Boden schossen. Im Bemühen seinerseits um die gewerkschaftliche
und parteipolitische Aufmerksamkeit für deren Probleme innerhalb
der Linken schildert er die Hindernisse, auf die er stieß. Die
Regionen, in denen sich die selbst- und schein-selbstständigen
Arbeitsverhältnisse entwickelt und massenhaft verbreitet hatten,
wurden von der Propaganda der Lega Nord und der Berlusconipartei erobert.
Denkanstöße
Ich hätte mir bei den theoretischen Texten eine verständlichere
Lesbarkeit für NichtakademikerInnen gewünscht. Die praxisorientierten
Beiträge sind am ehesten geeignet, die Diskussion, anknüpfend
an eigene Erfahrungen und Bedürfnisse, zu verbreitern. Begriffe
wie Postfordismus sollten vielleicht auch im Anhang kurz erläutert
werden. Hilfreich finde ich die Literaturangaben hinter den Aufsätzen
der AutorInnen. Zu dem Kreis der AutorInnen zählt leider niemand,
die/der die Frage der Selbstorganisation im Zusammenhang der wertkritischen
Diskussion, die seit Jahren in Gang ist, beleuchtet. Dort werden die
Probleme der Selbstorganisation im theoretischen wie praktischen Versuch
durch die Überwindung der Warenförmigkeit (freie Software,
Umsonstläden, Selbstversorgung) untersucht. Für Menschen,
die sich in selbstorganisierten Projekten, aber auch in den traditionellen
Gewerkschaften engagieren, bietet das Buch Denkanstöße und
kontroverse Anknüpfungspunkte für die nötige, zeitgemäße
Solidarität von Widerstand und Selbstbefreiung. (PK)
Werner Ruhoff
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