Hallo Fantasten, hallo Werner und Reinhard

Jochen Gester hatte mich gebeten, eine Rezension zu schreiben zu: Werner Ruhoff, Eine sozialistische Fantasie ist geblieben. Sozialismus zwischen Wirklichkeit und Utopie. Die Buchmacherei, Berlin 2005, 148 Seiten, ISBN 3-00-016583-5.

Vielleicht interessiert es Euch, was da rausgekommen ist. Ich denke, es trifft auch ins Zentrum unserer WaK-NIA-Diskussionen. Entgegen meiner Annahme, dass das geht - ich habe Werner Ruhoff als angenehmen Diskussionspartner erlebt -, ist das, was da steht, nicht freundlich. Ehe ich es Zeitungen, Zeitschriften anbiete, hätte ich gern kritischen Meinungen dazu erfahren.

Gruß Uli

Ulrich Weiß

"Eine wirklich über den Kapitalismus hinausweisende Idee wird so dem Spott preisgegeben"

Im Real-Sozialismus war die Herrschaft von Menschen über Menschen nicht aufgehoben. Das war ein Resultat der Tatsache, dass der ökonomische Zwang zur Verwertung weiterhin bestand. Das erhoffte Sozialistische oder gar Kommunistische blieb Utopie. Immerhin wuchs in dieser sozial relativ homogenen Gesellschaft lange sowohl der allgemeine Lebensstandard als auch die dafür erforderliche Produktivität menschlicher Arbeit. Solange dies gelang, konnten Sozialismus, Staat und Warenproduktion noch zusammen gedacht werden, eine der Marxschen Theorie entgegenstehende Selbsteinschätzung. Als deren Falschheit offenkundig wurde, die "sozialistische" Warenproduktion keinen sozialen Fortschritt mehr trug, brach diese ideologische Stütze des "Sozialismus" zusammen.
Sind heute Wege aus dem Kapitalismus über eine Warenproduktion denkbar? Oder geht es von vornherein um solche Gesellschaften, in denen die Individuen auch frei sind vom stummen Zwang der Ökonomie, vom Zwang zur (Selbst-)Verwertung, frei von politischer Herrschaft? Oder liegt Machbares irgendwo dazwischen?

Zu solchen Fragen fordert heraus. Der Hauptteil seines Buches, Meine Fantasien, ist eine Art Sciencefiction-Report. In lebendigen Bildern wird ein vernünftiges Leben in einer großen Stadt vorgestellt. Es könnte Köln sein. Die Macht der großen Monopole ist hier bereits gebrochen.
Ansonsten gibt es genau den Zoff, den alle kennen, die aus Bürgerbewegungen oder aus gescheiterten kommunistischen Parteien kamen und dann in Grundinstitutionen der bürgerlichen Gesellschaft Verantwortung für weitere soziale Entwicklungen übernehmen wollen.
Seinem Traum stellt R. Die Momentbeschreibung einiger Alternativprojekte voran. Die Landkommune Longo mai - was die Lebensqualität und Zufriedenheit der Kommunarden betrifft ein mit Sympathie geschriebener ernüchternder Bericht -, Gemeinschaften wie das SSM in Köln-Mülheim, die Kommune Niederkaufungen. Theoretisch nimmt er Anleihen an J. Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen (2004); Subcoma, Nachhaltig vorsorgen für das Leben nach der Wirtschaft (2000), Fritjhof Bergmann; O. Negt, Kant und Marx - Ein Epochengespräch (2003).

Ruhoff, einst Katholik, dann Kommunist und Freund der DDR, ist geistig einen weiten Weg gegangen. In seiner jetzigen Wunschwelt fände sich Proudhon glänzend zurecht, auch Thomas Morus mit seinem Utopia, desgleichen Silvio Gesell. Marx nicht. Jener entwickelte seine Theorien gegen Proudhon und argumentierte gegen das, was R. Nun wieder als erstrebenswerten Vorzug präsentiert: auf der Basis des unentwickelt (bei R. Des zurückgenommenen) Bürgerlichen und des Mangels nehmen Kommunismusversuche unvermeidbar asketische, regional bornierte, kasernenhafte Züge an, landen die Akteure letztlich wieder "in der alten Scheiße".
R. präsentiert keine Theorie einer sozialistischen Gesellschaft, sondern Bilder und Einzelideen, auf die angesichts der Zukunftsängste phantasiebegabte Leute leicht kommen und zwar von links bis weit nach rechts.
Für R. Sind Zinsen und spekulatives Kapital schlecht, also: Weg damit! Übrig bleibt die angeblich auf unmittelbare Nützlichkeit gerichtete Arbeit, die auch hier größtenteils Lohnarbeit ist. Plausibel? Für viele Menschen: ja.
Weiter: Die heutige Gesellschaft tritt mir oft feindlich gegenüber, also weg mit allem, was fern von mir ist, was groß ist und viel verbraucht, was ich überhaupt nicht oder höchstens in beschränkter Region (gegebenenfalls über gewählte Stellvertreter vermittelt) überschauen bzw. (mit-)beherrschen kann. Großbetriebe sind schlecht, wenn auch manchmal noch nötig. Handwerk ist gut. Usw, usw.
Zum Unterscheiden zwischen gut und schlecht hilft die Schriftgestaltung, durchgängige Kleinschreibung. Dies allerdings wird groß geschrieben: Wolkenkratzer, Banken, Zinsen, Versicherungen, Chefetagen, Gewalt, Großfabrik, Firmen, chinesische High-techfabrik (aber: modernste digitaltechnik), Monumente, Benzinmotoren, Glanzzeitschriften, Luxus, Geld. Etwas verwirrend: "bewohnerInnen" - bewohner klein, also gut, aber Innen = böse? Nun, R. Ist wohl Dialektiker. Aus offensichtlich Üblem kann Gutes hervorgehen. So verwaltet die Sparkasse (groß) von der städtischen Lotterie (groß) gespeiste Fonds (groß). Deren Gewinn befriedigt allgemeine Bedürfnisse, wie bildung (klein). Nach Geld (groß) streben die Menschen heftig (wer würde sonst Lotterie spielen, wer sich nach materiellen Hebeln richten?). Aber durch kluge Regelungen wird Geld und dies Streben danach für gute Werke eingesetzt. Woher kommt es? Aus der Wertproduktion (nix mit unmittelbarer Nützlichkeit) und damit aus dem erfolgreichen, also dem der Konkurrenz zuvorkommenden Verkauf der in Lohnarbeit hergestellten Waren. Kapitalistisch nennt R. Diese Produktionsweise nicht, denn sie wird von klugen, oft basisdemokratisch bestimmten Leuten geleitet. Außerdem ist alles möglichst klein, den Bewohnern nahe und es gibt die reichen EigentümerInnen (doppelt groß = teuflich?) nicht. Geld ist R. Bloß ein äußeres Mittel der Verteilung, nicht etwa Verfügung über Produktionsmittel und fremde Arbeitskraft.
Plausibel? Etwa so wie die Vorstellung der sich um die Erde drehende Sonne.

Das Maß für den Fortschritt, der wird durch Werttransfer an die Projekte belohnt, ist der Grad an Selbstversorgung. "Nachbarschaften und siedlungen bringen es ... auf eine ansehnliche selbstversorgungsquote ... bis zu siebzig prozent". Alles "außer maschinen, vorprodukten und technischen konsumgütern" (75) wird selbst hergestellt, "schicke plumpsklos" eingeschlossen. "Kaufhäuser" (groß), mode (klein). Fleisch und wurst (klein) wird "nicht häufig verzehrt" (77), ist also doch irgendwie übel."Soziale Dienste werden im steten wechsel der aufgabenteilung gemeinschaftlich geleistet."(76) "steter wechsel" (klein = gut - was würde unsere gehbehinderte Oma dazu sagen?).

Ein Vorzeigeprojekt: Aus einer einstigen Automobil-Großfabrik (groß) entstand "ein vielseitiger produktionsbetrieb für moderne transportsysteme." "Hinter stählernen, jugendstilartig oder modernistisch gestalteten torbögen führen steintreppen und rollbänder in die ehemaligen U-bahnschächte, wo der größte teil des innerstädtischen gütertransportes bewältigt wird. Wie in einer rohrpost werden die raketenförmig konstruierten wagons mit gütern beladen zu ihren bestimmungsorten programmiert, die sie mit hoher geschwindigkeit erreichen, so dass die weiteste entfernung in weniger als fünfzehn minuten überbrückt werden kann."(78f) Dies Kleingeschriebene wird aber von "anderen städten ... wegen der auftretenden störanfälligkeit kritisch betrachtet oder gar aus ökologischen gründen abgelehnt". Gott sei Dank, denn eigentlich sind in R's Welt "luft- und segelschiffe" angesagt, "weil die menschen ein bequemes zeitgefühl genießen."(79)

Das wissen offenkundig viele nicht. Sie müssen malochen. Ein beliebter Fernsehsender, ehrenamtlich betrieben, hat spontane Sendepausen, weil "seine macherInnen oft mühevoll damit beschäftigt, ihren lebensunterhalt noch mit anderen tätigkeiten zu bestreiten."(83) Solches "machen" (klein), das dem Selbst (bei R. Klein) dient, ist also unzuverlässig, die schlichte Lohnarbeit dagegen zuverlässig. Was sagt uns das? Wo es wirklich ernst wird, muss diese (ungeliebte) Lohnarbeit her. Es ist R. Offenkundig undenkbar, dass andere Tätigkeiten als Lohnarbeiten materiell tatsächlich eine Gesellschaft tragen können. Das ihm in seiner "sozialistischen" Fantasie Eigentliche, die Selbsttätigkeit, ist hier also eine verzichtbare Sache von Jux und Freizeit oder Ausdruck von Mangel - normaler Kapitalismus also, bei R. Sozialistische Gesellschaft genannt. Eine wirklich über den Kapitalismus hinausweisende Idee wird so dem Spott preisgegeben.

"Überwiegend handwerklich" fertigen 500 Menschen in R's Utopia kleine Traktoren nur für nächste Umgebung, sechs pro Tag.(88f) Das ist Lohnarbeit, in der wohl kaum das Salz an die Suppe verdient werden kann, zumal die Bude wegen mangelnder Kunden immer wieder geschlossen bleibt.
Selbst wenn wir mal freie Selbstbetätigung annehmen, warum sollten sich die Menschen nicht wohlfeilere Maschinen besorgen und sich statt mit der Zusammenschrauberei von Hand mit interessanteren Dingen beschäftigen? Die Nutzer würden vermutlich auch ohne Probleme die effektiver mit geringerer Arbeitszeit hergestellten großen süddeutschen Traktorenwerk beziehen, von dem R. Spricht. Aber groß ist bei ihm ja schlecht und ineffektiv ..

Eine Satire? Dazu passten dann der ernüchternde Longomai-bericht und einige Theoriebezüge nicht. Hier schreibt ein ursprünglich an Marx Geschulter, der allerdings vergisst, dass Marx nicht Die Kapitalisten sondern Das Kapital geschrieben hat, dass - siehe den Real-Sozialismus - das Vertreiben der großen (Privateigentümer) noch nicht das Aufheben der Wert- und privateigentümlichen Produktionsverhältnisse bedeutet, dass es die Lohnarbeit ist, die unvermeidbar Herrschaft produziert, die Herrschaft der Verhältnisse über Arbeiter und Unternehmer. Die Phrasen des Real-Sozialismus über sich selbst nimmt R. Als Argument gegen stringente theoretische Arbeit: Dessen Scheitern habe bestätigt, dass "ein sozialistisches Gedankenmodell, das sich auf den Eigentumsbegriff als die zentrale Achse seines Selbstverständnisses reduziert", den Kommunismus in weite Ferne rückt.(46) Wo war am Staatseigentum an Produktionsmitteln das Sozialistische, wo an Lohnarbeit und Warenproduktion? Wirkliche Demokratie soll es bei R. Richten. Doch woher nehmen die Demokraten, die Mittel für ihre Wohltaten her?: Aus der Warenproduktion. Und die hat eben die Logiken, die auch bei ihm durchscheinen, die R. Aber tapfer ignoriert. Was bleibt von Demokraten, die der Verwertung Raum sichern und damit gegen die Bedingungen ihrer Absichten und Wirksamkeit agieren müssen?

Wo liegen R.s systematische Fehler? Er kann zwischen sachlichen Produkten, Geräten und der sozialen Form, in der sie bewegt werden, nicht unterscheiden: "Alle Betriebe sind ... vom druck der Zinslasten und teilweise von der pflicht der Kapitalamortisierung befreit. An die stelle der früher ausschlaggebenden Rentabilität des maschinenpartks tritt der aspekt der menschlichen würde und der langfristigen nützlichkeit im verhältnis von produzentInnen in den vordergrund. Das befreit die produzentInnen aus der wirtschaftlichen Gewalt ihrer maschinerie."(93)
Es sind nicht, wie der Maschinenstürmer glaubt, (große) Maschinen an sich, die über die Menschen herrschen. Es sind die Produktionsmittel und die (Lohn-)Arbeit in der Kapitalform, die die reelle Subsumtion der Produzenten unter das Kapital bewirken. Aber genau diese Form ist in seinem Konstrukt nicht aufgehoben, sondern vorausgesetzt. Auch das Alimentieren (durch Werttransfer) von Tätigkeiten, die nicht selbst Lohnarbeit sind (etwa der Selbstversorgung), wird erst durch die Warenproduktion ermöglicht. Hier handelt es sich nicht um eine sozialistische Fantasie. Gegebene soziale Formen heben sich nicht dadurch auf, dass die Maschinen verkleinert werden, die Losgrößen beschränkt, die Menschen zwischen verschiedenen Tätigkeiten routieren.
Die Traktorenproduzenten routieren zum Zwecke der Selbstversorgung - die mit erhöhten Wertzuwendungen honoriert wird! - zwischen Gärtnern, Schauspielern und Kindererziehen (wohl einfache Tätigkeiten, zwischen denen man halt wöchentlich so wechselt). R. Weiß selbst um die Konsequenzen solcher Prämierungen (treffender wäre: Entlohnung) der angeblich freien Selbsttätigkeit: Der größte Blödsinn (er ist blankes Geld wert) wird von den Akteuren als Selbstversorgung ausgegeben - von wegen Nützlichkeit und Nachhaltigkeit. Das ganze Geschehen wird "heikel und die stabilität eines ökonomischen gleichgewichts äußerst schwindelanfällig". "Der betrug mit falschen [geldwerten] daten" greift um sich. (93)
Das lässt sich auch durch R.s zweite irrige Hoffnung nicht aufhalten.
Das Feststellen der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit für die Herstellung von Waren (auch der Ware Arbeitskraft) will R. Nicht dem Markt überlassen. Eine sozusagen "ehrliche Zeitrechnung" soll der Warenproduktion den Charakter der Ausbeutung und des Anarchischen nehmen. Das wurde theoretisch schon von Marx aus dem Felde geschlagen und ist im Osten auch praktisch gescheitert. Doch nehmen wir es mal als Realität: In 12.000 Projekten und Betrieben in R's Stadt sind Tätigkeiten "einheitlich nach ihrer zeitdauer und individuell nach ihrer anstrengung" zu bemessen. Hier dürfte der Real-Sozialismus an Zentralismus, Bürokratie und Stagnation noch weit übertroffen werden ohne dass verhinderbar wäre, was auch R. Für seine Fantasie befürchtet: Lug und Trug. Das System bräuchte solche Engel (die allerdings benötigten R.s verschämten Kapitalismus nicht), für die die Planbarkeit des wirtschaftlichen Kreislaufes Gesetz, innerstes Bedürfnis sein müsste. Wer kann dies in einer Warenproduktion dauerhaft sein? Da hilft der einstige DDR-Freund könnte dies wissen - kein Apell, keine "Schule der sozialistischen Arbeit", kein Parteilehrjahr. Noch so ausgeklügelte ökonomische Wertanreize können der Warenproduktion keinen sozialistischen Charakter verleihen und der Selbstversorgung auch nicht.

Die Praxis, Sozialismus und Warenproduktion zusammenzudenken, war einst eine große geistige Antriebskraft, die in Ost und West Sozialstaaten hervorbrachten. Geschichtlich war das gebunden an die zivilisatorischen Potenzen der kapitalistischen Produktionsweise und an starke soziale Bewegungen, die diese aus dieser Formation herauspressen konnten. Mit dem einen versiegt heute auch das andere. Unter postfordistischen Produktionsverhältnissen hängt der tatsächliche Reichtum von Gesellschaften immer weniger von der Masse der verausgabten Arbeitszeit ab (weshalb Arbeitslose auch zunehmend keine Reserve-Armee für zukünftige Verwertung mehr darstellen und letztlich auch keine Institution durch Umverteilung von Wert deren Existenz sichern kann), sondern von der schöpferischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Qualität der agierenden Individuen und ihren Fähigkeiten zur bewussten sozialen Kooperation. Von diesem geschichtlichen Punkt an, da der Reichtum nicht mehr notwendig in Warenform und durch Lohnarbeit produziert werden muss und allen zur Verfügung stehen kann, wird Sozialismus möglich, ist die unvermeidbar auf Verwertung gerichtete Warenproduktion, die wertförmige Vergesellschaftung nicht mehr die notwendige und tragfähige materielle Grundlage zivilisatorischen Fortschritts.

Sind damit die von R. Beschriebenen tatsächlichen alternativen Versuche abzulehnen? Nein. Sie machen schon deshalb Sinn, weil sie einzelnen Menschen wenigstens zeitweilig eine erträgliche Existenz sichern. Es werden hier auch soziale Kompetenzen entwickelt, die für sozialistische Umbrüche bedeutsam sein können. Und als partielle Antworten auf konkrete Unfähigkeiten der kapitalistischen Warenproduktion, menschliche Bedürfnisse menschlich zu befriedigen, können hier alternative Methoden und Techniken geschaffen werden. Die von diesen Versuchen selbst nicht überschreitbare Grenze ist gesetzt durch ihr Eingebundensein in die herrschende Warenproduktion. Deshalb werden solche Projekte häufig normale kapitalistische Unternehmen mit all den Konsequenzen auch für die inneren Beziehungen oder sie brechen zusammen oder sie werden alimentiert (was eben auch eine funktionierende Verwertung voraussetzt - bloß an anderer Stelle).

R. - dies sein Grundfehler - setzt auf eine durch Warenproduktion abgesicherte sozialistische Entwicklung, in der dann konsequenterweise auch noch zahlreiche zivilisatorische Errungenschaften der bürgerlichen Epoche zugunsten von Askese und regionaler Borniertheit aufgegeben werden. Seine Fantasien sind faktisch Unterwerfungen unter das Gegebene und zugleich Parodien auf den einstigen Osten. Wege aus dem Kapitalismus sind theoretisch und praktisch nur jenseits des Feldes der Warenproduktion und der Lohnarbeit zu finden. Solchem Realismus müssten sich sozialistische Fantasien stellen.

 

Zur Kritik der sozialistischen Fantasie von Ulrich Weiß

"Das Problem sehe ich darin, dass die Leute auf ihren verschiedenen Stühlen nicht in eine fruchtbare Diskussion miteinander kommen, was sie in einer anderen Welt leben möchten"

Uli Weiß bemerkt, dass wir grundsätzlich unterschiedliche Sichtweisen haben. Und das finde ich gerade das Spannende, wenn mensch sich auf eine streitbare Diskussion einlässt. Dafür braucht's aber die gegenseitige Anerkennung der Argumente auf einer "gleichrangigen Höhe", sonst hat das Ganze ein unfruchtbares Gefälle, das sich von der Höhe der Wahrheit auf die Tiefe der fixen Idee herablassen muss.

Ich möchte ein paar Überlegungen zu meinem Buch äußern:

Anhand einiger Grundpositionen und Fragmente bei Marx/Engels wird m.E. deutlich, wie sehr grundsätzliche Fragen des "wissenschaftlichen Sozialismus" ungelöst blieben bzw. durch die Entwicklung neu formuliert werden müssten. Auf diese Grundpositionen und Fragmente kann es verschiedene Blickwinkel und auch Antworten geben. Keiner der Aspekte/Bereiche dürfte ein Schlüsselproblem darstellen, dessen Lösung das Tor zu einer besseren Gesellschaft öffnete. Meiner Meinung gibt es keinen einzigen Dreh- und Angelpunkt, der wie eine Drehscheibe an alle anderen Probleme andockt.

Das sowjetische System (und damit auch alle Staaten und Wirtschaftssysteme, die ähnlich der SU funktionierten) war in meinen Augen sehr wohl ein sozialistisches, da es ganz wesentliche Merkmale aufwies, die auch Marx und Engels als charakteristisch für den Sozialismus ansahen - allerdings in einer sehr unvollkommenen und pervertierten Ausführung. Die Produktionsmittel waren im Wesentlichen in den Händen der staatlichen Macht und es gab eine zentrale Wirtschaftsplanung, um wirtschaftliche Krisen zu vermeiden und die Produkte auch nach sozialen Kriterien zu verteilen. An Stelle des Proletariats hatte allerdings die Parteiführung die staatliche Macht inne. Das war der wesentliche Unterschied zur Diktatur des Proletariats bei M/E. Wenn ich mich recht entsinne, enthalten die Sozialismusentwürfe im Kommunistischen Manifest, in der Kritik des Gothaer Programms und anderen Schriften wie von der Utopie zur Wissenschaft nichts grundsätzlich Anderes - aber mit der Vorstellung verbunden, dass die Klassenunterschiede schneller verschwinden, der Staat schneller abstirbt und die Verteilung nach einer ersten Stufe des S. nicht mehr nach dem bürgerlichen Leistungsprinzip, sondern nach Bedürfnissen erfolgt - also die in Aussicht stehende Perspektive einer kommunistischen Gesellschaft.

Diese "Formalitäten" gehörten zum Grundkanon aller kommunistischen Strömungen - ihre gegenseitigen Feindschaften wurden ideologisch mit angeblichen und tatsächlichen Abweichungen von diesen Formalitäten begründet - wobei es von maoistischer Seite Ansätze gab, denen solche Formalitäten nicht genügten, weil sie mit alten Inhalten ausgefüllt blieben, solange die Basis der ArbeiterInnenschaft nicht wirklich auch "Herr der Produktion" werden konnte.

Dieser Punkt deutet schon auf ein inhaltliches Problem, das Marx in anderen Zusammenhängen aufgezeigt hat - in der deutschen Ideologie geht es um die Teilung der Arbeit in körperliche und geistige und die damit verbundene Verfügungsgewalt über ProduzentInnen und Produkte. Die Wichtigkeit dieser Schlussfolgerung ist im sowjetischen Machtbereich vollkommen beiseite geschoben worden - das Problem wurde in technokratischer Manier auf die Entwicklung der Produktivkräfte geschoben und nicht als zu gestaltende oder zu erstreitende Auseinandersetzung anerkannt. Mit der inhaltlichen Frage der Warenproduktion und des Wertgesetzes ist es nicht so eindeutig und einfach. Es gibt dazu durchaus unterschiedliche Standpunkte, weil die Aussagen von Marx in seinen ökonomischen Schriften da nicht so eindeutig sind. Allenfalls das Verteilungsprinzip nach den Bedürfnissen lässt darauf schließen, dass es in der höher entwickelten Kommunistischen Gesellschaft aus Gründen der moralischen, sozialen und technologischen Weiterentwicklung das bürgerliche Leistungsprinzip nicht mehr gibt. Und in den Grundrissen (die diesbezüglichen Aussagen werde ich bei Gelegenheit genauer lesen) gibt es meines Wissens keine Vision eines warenlosen Sozialismus, sondern die gedachte Verlängerung eines gesellschaftlichen Reichtumspotenzials, das den wirtschaftlichen Anreiz der Wertkategorie obsolet macht und allen Individuen Möglichkeiten eröffnet, am Genuss und am Reich der Freiheit teilzunehmen, während das Reich der Notwendigkeit auf ein Mindestmaß geschrumpft sei. Wenn ich das falsch verstanden habe, bitte ich um Erläuterung bzw. eine gezielte Angabe, wo ich das genau nachlesen kann. Zur Frage des Wertes gibt es sogar Passagen, die vermuten lassen, diese Kategorie gehöre zu einer zeitlosen Gesetzmäßigkeit, die in jeder Ökonomie, also auch in der sozialistisch/kommunistischen, zur Geltung komme. Georg Lukacz beruft sich in seiner Schrift "Sozialismus und Demokratisierung" hier auf den Zeugen Marx, den er gegen Stalin ("Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR") ins Feld führt (MEW 23/S.92/93). Offensichtlich wird Marx verschieden ausgelegt, je nach dem, wo die MarxexegetInnen den Schwerpunkt ihrer Marxinterpretation suchen. Ein weiterer wichtiger Inhalt ist die im Kapital formulierte Kritik am Fetischcharakter - aber auch hier wieder losgelöst von der Frage, wie das Problem im Sozialismus gelöst sein könnte.

Bakunins Kritik an Marxens Staatsillusion (Diktatur des Proletariats - die m.E. durch die Illusion über die emanzipatorische Fähigkeit des Proletariats selbst hervorgerufen wurde) wurde von der Wirklichkeit später noch weit übertroffen. Der erbitterte Kampf von Marx und seinen Anhängern gegen die anarchistischen SozialistInnen hat letztendlich dazu beigetragen, dass die Staatsillusion in der SPD und in sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien anderer Länder zu einer ideologischen Säule des Revisionismus wurde, der sich später entgegen alle "marxistisch-leninistischen" Postulate bis in das sowjetische System fortsetzte.
(Stichworte verselbstständigte Macht - nationale Werte/nur deklamatorischer Internationalismus - ideologisch kein Absterben des Staates mehr - in weiter Ferne - stattdessen eine neue Variante des Volksstaates)

Marx erwähnt im Kapital auch die Untergrabung des Reichtums der Erde durch ihre kapitalistische Ausbeutung, beispielhaft belegt an der modernen Landwirtschaft in den USA. Leider blieb dies nur ein Ansatz, der an vielen Stellen in anderen Schriften von einem technologischen Fortschrittsoptimismus überlagert wurde. Auch in der Frage der Technologie lassen sich bei Marx widersprüchlich interpretierfähige Schlussfolgerungen ziehen. Einerseits sieht er in der technologischen Entwicklung einen Fortschrittsmotor. Bei Marx (ich kann keine genaue Angaben machen wo ) ist meiner Erinnerung nach im Kapital aber auch zu erfahren, dass die Warenproduktion samt Ausbeutung eine spezifisch kapitalistische Art der Technologie hervorbringt -
Dass die Problematik dieser Dialektik von Marx, Engels oder sonst einem/einer zeitgenössischen Marxisten/Marxistin weiter verfolgt wurde, ist mir nicht bekannt.
Neben der Wertproduktion als ökonomischer Ausbeutungsquelle sind die Bereiche Staat und Technologie ganz entscheidende Hebel der Machtausübung. In der Debatte der Grünen in den achtziger Jahren wurde die Frage des Technologietypus/Charakters - auch anknüpfend an den kritischen Ansatz bei Marx weitergeführt. Die profitträchtige Verwertung der Technologie bringt einen speziellen Technologietypus hervor, der sich auf Menschen und Umwelt äußerst schädlich auswirkt.

Die Marxsche Vorstellung von Sozialismus war ja damals zeitgemäß auch mit der Vorstellung der Überwindung einer kleinteiligen Borniertheit und einem Trend hin zum Großen verbunden, ein Trend der natürlich auch technologische Voraussetzungen und Konsequenzen hatte. Heute wissen wir aus Erfahrung, dass Zentralisierung der Demokratisierung im Wege steht, dass aber Dezentralisierung aufgrund der Mobilität und der Vernetzungsmöglichkeiten heute nicht mehr unbedingt Bornierung bedeuten muss. Dezentralisierung ist eine wesentliche Voraussetzung, damit basis-demokratische Strukturen entstehen können, die mit Hilfe der modernen Elektronik über Grenzen hinweg verbunden werden. Eine Tendenz, welche der Dezentralisierung Vorschub leisten würde, ist die Umstellung der Energiebasis auf regenerative Energien.

Feministische Theorieansätze sehen in der Marxschen Kapitalismusanalyse einen großen weißen Flecken - die Frage der reproduktiven Tätigkeiten, die Rolle des Weiblichen und ihre Unterordnung unter die männliche Dominanz - haben in der feministischen Forschung zu einer anderen Sicht auf die Ökonomie geführt. ÖkofeministInnen sehen in der Verbindung von Reproduktion und Natur das Zentrum einer solidarischen Ökonomie, in der die Produktion den Bedürfnissen dieses Zentrums untergeordnet ist. In der feministischen Denkschule gibt es VertreterInnen, die sich an der Warenkritik beteiligen und die Selbstversorgung als eine Möglichkeit sehen, den Bereich des wertfreien Wirtschaftens (Schenkökonomie, freiwillige Kooperation, wirtschaften für ein gemeinsames Eigenes usw. ) von dort aus auszudehnen.

Die vom Club of Rome in den siebziger Jahren spektakulär initiierte Debatte um die Grenzen des Wachstums spielte sich zwar vor dem Hintergrund der sog. Ölkrise ab. Aber dahinter kamen schon die verheerenden ökologischen Auswirkungen einer vom Wachstumszwang beherrschten Ökonomie zum Vorschein. Im Prinzip leben wir paradox in einem warenförmigen Überflusssystem, das nach Meinung von ökologisch orientierten SozialistInnen in der Form nicht aufrecht erhalten werden kann, weil die Belastbarkeit der natürlichen Grundlagen verheerende Folgen zeitigt. Aus dieser Sicht geht es nicht darum, den Überfluss aus seinem Warengefängnis zu befreien, zumal dieser Überfluss mit viel unnützem Zeugs belastet ist, das nicht nur die Umwelt schädigt, sondern auch die emanzipatorische Entwicklung der Individuen behindert. Statt dessen müsste eine emanzipatorische Gesellschaft ihre Bedürfnisschwerpunkte von materiellen Konsumgütern auf kommunikative, bildungsmäßige und künstlerische Bereiche verlagern. Im kommunikativen Bereich zeigt sich allerdings, dass die Vermarktung von Wissen und Ergebnissen anachronistisch wird, wenn die Barrieren der Warenförmigkeit leicht umgangen werden können. Das Experimentieren mit einer warenfreien Kooperation zwischen den Beteiligten bei der Entwicklung von Computerprogrammen bringt neue Erkenntnisse und Erfahrungen mit sich, die sich vielleicht auf andere Bereiche ausdehnen lassen. Diese Frage muss praktisch gelöst werden.

In meinen sozialistischen Fantasien war es mir wichtig, diese verschiedenen Aspekte in Form einer Reportage in Beziehung zueinander zu bringen. Dadurch erschließt sich auch die Ebene einer gewissen Spannung, die durch gesellschaftliche Konflikte erzeugt wird, z.B. im Streit um die Rolle des Geldes. Und um das Lesen auch ein wenig unterhaltsam zu machen, gibt es Kuriositäten (Losverfahren) und Animositäten. Aber die geschilderten Konflikte haben nicht nur den Grund, Unterhaltung oder Spannung zu erzeugen. Es wird keine Auflösung aller Widersprüche geben. Eine Gesellschaft, die keine Entfremdung mehr kennt, in der Schafe und Wölfe nur noch friedlich beieinander liegen, entspricht den Heilserwartungen der biblischen Texte. Solange uns der Messias aber nicht das Heil auf die Erde bringt, werden wir uns mit Konflikten herumschlagen müssen. Fragt sich nur, wie zivilisiert wir das schaffen. Die sozialistische Vision darin bleibt, dass die Trennung von Arbeit und Eigentum aufgehoben ist, dass niemand mehr verhungern muss und dass die Menschen mehr Freiheit genießen als in den Zuständen, mit denen wir uns jetzt herumschlagen müssen. Im Übrigen ist es nicht so, dass die Leute asketisch leben in meiner Fantasie. Die meisten Gebrauchsgegenstände, die wir kennen, stehen ihnen auch zur Verfügung. Nur sie gehen sparsamer damit um, durch kollektiven Gebrauch, durch Verschenken und durch die Überflüssigkeit von Statussymbolen. Die Ökonomie beruht auf dem kollektiven Eigentum der Kommune, die Gebäude und Produktionsmittel engagierten NutzerInnen, die weitgehend Spielraum für eigene Initiativen und Ideen haben, zum Gebrauch zur Verfügung stellt. Dass es keine Zinsen und Gewinne gibt, ist ein ganz wesentlicher Unterschied zu den Ökonomien des Realsozialismus und wie ich meine auch ein Stück Befreiung aus ökonomischen Zwängen. Es muss kein Mehrwert mehr erzeugt werden. Das befreit auch vom Wachstumszwang. Es gibt keine strikte Trennung mehr zwischen geistiger und körperlicher, produktiver und reproduktiver Arbeit. Auch das ist weit fortschrittlicher als im Realsozialismus. Es gibt keine gravierenden Lohnunterschiede mehr, und in der Fabrik diskutieren die Arbeiter darüber, die Lohnzahlung abzuschaffen. Statt dessen kann sich jedeR nach seinen Bedürfnissen aus der gemeinsamen Kasse bedienen, natürlich im Rahmen eines vorgegebenen Budgets und ausgehandelter Regeln. Und es gibt die nachbarschaftliche Selbstversorgung mit Lebensmitteln aus Gärten und Feldern. Die Menschen zahlen auch keine Mieten, weil der Anteil der Selbstversorgung im Baubereich durch Eigenleistungen sehr hoch ist. Und wenn die Arbeitsentgelte durch ein verstärktes Engagement in der Selbstversorgung sinken, verringern sich auch die Abgaben an den städtischen Fonds. Der gesamte Geldkreislauf wird dadurch vermindert. Eine Fantasie, in der die Gesellschaft gänzlich ohne Warenproduktion auskommt, war mir doch zu kühn. Es geht ja nicht nur darum, dass den Menschen die Arbeit zum Bedürfnis geworden ist. Eine geldlose Kooperation kann ich mir vorstellen, wo Menschen in überschaubaren, kleinen Kreisläufen Zufuhr und Nachfrage direkt ausgleichen können. Dann sind die Fertigungsketten aber auch nicht sehr tief. Aber wie kommt der Stahlarbeiter an seine Milch, wenn der Bauer, was der Normalfall ist, kein Stückchen Stahl gebrauchen kann? Wie werden die einzelnen Glieder der langen Versorgungskette aufeinander abgestimmt mit Arbeitszeiten und Berechtigungen zum Zugriff auf Produkte? Es wird immer eine relative Knappheit bei bestimmten Gütern herrschen. Dementsprechend müssen sich Arbeitsaufwand und Verbrauch aufeinander beziehen. In einem Schlaraffenland, in dem die Produktion gänzlich von Robotern bewältigt wird und mehr Güter produziert werden als die Menschen benötigen, wäre eine Gesellschaft ohne Warenproduktion die nahe liegende Konsequenz. Aber das ist dann wirklich Sciencefiction.

Meine Beobachtung fördert nun das Ergebnis zu Tage, dass keinE eingefleichteR SozialistIn mit meiner Fantasie zufrieden ist, weil ihr/sein jeweils fokussierter Schwerpunkt in dem Themenspektrum nur inkonsequent zum Zuge kommt. Bei den traditionellen KlassenkämpferInnen spielt das Proletariat eine zu geringe Rolle, stört das Handwerk, gibt es zu wenig Fabrik, bei einer Ökofeministin ist zu viel Städtisches drin, der libertäre Ansatz ist durch das kommunale Rätesystem verwässert, Silvio Gesell kommt nur am Rande vor, der warenkritische Ansatz kommt zu kurz usw. Ich sitze also zwischen allen Stühlen. Aber das ist nicht mein Problem. Das Problem sehe ich darin, dass die Leute auf ihren verschiedenen Stühlen nicht in eine fruchtbare Diskussion miteinander kommen, was sie in einer anderen Welt leben möchten, was möglich sein kann und wie man Unterschiedlichkeiten auf ein gemeinsames Ziel lenken kann. In der internationalen globalisierungskritischen Bewegung sind ganz unterschiedliche Klassen, Milieus, soziale Sichten, Sitten, Kulturen und dementsprechend Ansichten und Interessen vertreten, Leute, die Proudhon näher stehen als Marx oder die ganz andere Bezüge haben, Menschen die auf den Sozialstaat und einen keynesianisch gezähmten Kapitalismus zielen und solche, die ihn überwinden wollen. Ich denke, die müssen sich im gegenseitigen Respekt ertragen. Der konkrete Kampf wird zeigen, wo sich die Wege wieder trennen oder wie sie zusammenbleiben. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn die mächtigsten Institutionen des Kapitals erst einmal ihre scheinbare Allmacht durch einen heftigen Widerstand einbüßten, damit der Spielraum für eigenständiges Handeln und neue Ansätze tragfähig werden kann.

Köln, den 14.2.2006 W.R.

 

Antwort von Ulrich Weiss auf WRs Replik

"Weder das Staatseigentum noch proudhonistischen Rücknahmen der Kapitalisierung können die Vermittlung von Gesellschaftlichkeit durch Wert/Geld aufheben."

1. Du schlägst "streitbare Diskussion ... [bei] Anerkennung der Argumente auf einer ‚gleichrangigen Höhe'" vor. Sonst - Du meinst wohl meine Methode - habe "das Ganze ein unfruchtbares Gefälle, das sich von der Höhe der Wahrheit auf die Tiefe der fixen Idee herablassen muss." Ich nehme die dann folgende Bemerkung zu "Grundpositionen und Fragmenten bei Marx/Engels" als Erläuterung dieser Aussage: "Keiner der Aspekte/Bereiche dürfte ein Schlüsselproblem darstellen, dessen Lösung das Tor zu einer besseren Gesellschaft öffnete. Meiner Meinung gibt es keinen einzigen Dreh- und Angelpunkt, der wie eine Drehscheibe an alle anderen Probleme andockt."
Nun, von "allen anderen Problemen" redet kein Mensch. Diese Floskel sei geschenkt. Aber meinst tatsächlich, dass es keine Grundstrukturen gibt, die die sozialen Qualitäten von Gesellschaften bestimmen? Oder zweifelst Du nur daran, dass diese erkennbar sind? Die theoretische Rekonstruktion solcher Strukturen nach der Art der Marxschen Kategorien führt zu fixen Ideen. Habe ich Dich richtig verstanden?

2. Gleich anschließend schreibst Du: "Das sowjetische System ... war ...
ein sozialistisches, DA es ganz wesentliche Merkmale aufwies, die auch Marx und Engels als charakteristisch für den Sozialismus ansahen" ("DA" hervorgehoben von mir). Du nennst auch gleich entsprechende "Schlüsselprobleme". In angenommener Übereinstimmung mit Marx hältst Du nämlich eine Gesellschaft für sozialistisch, in der sich die wesentlichen "Produktionsmittel ... in den Händen der staatlichen Macht" befinden und in der es eine "zentrale Wirtschaftsplanung" gibt. Ein weiteres Kriterium sei, dass die Planung eingesetzt wird, "um wirtschaftliche Krisen zu vermeiden und die Produkte auch nach sozialen Kriterien zu verteilen."
Sag bitte, was soll ich nun als gültig annehmen? Erst verneinst die Existenz oder Erkennbarkeit solcher "Schlüsselprobleme" bzw. Lehnst die theoretische Bezugnahme auf solche "Dreh- und Angelpunkte" ab, nimmst sie dann aber selbst als Kriterien für die Bewertung einer Gesellschaft.
Ich denke, wir sollten uns darüber verständigen, ob wir eine theoretische Diskussion führen wollen oder nicht, ob und in welchem Sinne wir die Marxschen (oder andere) Begriffe (Gesellschaftsformation, Produktionsweise, kapitalistische Warenproduktion, Kapital, Lohnarbeit, Staat ... und die Aufhebung all dessen durch eine sozialistisch-kommunistische Umwälzung) für geeignet halten, Dreh- und Angelpunkte für die Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus zu erkennen.
Gegebenenfalls sind diese zu korrigieren oder ausdrücklich verwerfen.
Jedenfalls müssten wir mit unseren Erkenntnissen stringent umgehen und Gefälle vermeiden.

3. Marx zustimmend schreibst Du: "In der deutschen Ideologie geht es um die Teilung der Arbeit in körperliche und geistige und die damit verbundene Verfügungsgewalt über ProduzentInnen und Produkte." Offenkundig ist auch nach Deiner Meinung die Aufhebung dieser Arbeitsteilung (im Sinne von Herrschaft der einen über die anderen) wesentlich für die Überwindung des Kapitalismus - ein "Dreh- und Angelpunkt" also. Dass Du diese Marxsche Grundposition heranziehst macht in Bezug auf Deinen Text auch Sinn, geht es doch in Deiner sozialistischen Fantasie oft um die Rücknahme der kapitalistischen Arbeitsteilung. Du schreibst auch, dass die Sowjetunion dies nicht gelöst hatte. Sozialistisch war sie Dir trotzdem. Warum? Vermutlich, weil es da staatliches Eigentum an Produktionsmitteln gab und zentrale Planung. Unsozialistische Arbeitsteilung und sozialistisches Staatseigentum - das geht also zusammen?
Hierzu erstens Marx/Engels in der "Deutschen Ideologie": "Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke - in dem Einem wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in Bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird." (MEW 3/32)1 Wenn das stimmt, dann kann, wo diese Teilung der Arbeit vorherrscht, das darauf begründete Eigentum nicht sozialistisch sein, auch nicht als Staatseigentum.
Zweitens. Marx hat nicht die proudhonistische Vorstellung, dass Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise dadurch überwunden werden könnten, dass die Arbeitsteilung und damit das (kapitalistische) Privateigentum an Produktionsmittel zugunsten der vorkapitalistischen handwerklichen Tätigkeit aufgehoben oder eingeschränkt wird. Mit sozialistisch-kommunistischer Perspektive kann dies nach Marx nur auf der Ebene hoher Produktivität menschlicher Arbeit (deren Voraussetzungen der Kapitalismus schafft) geschehen und zwar durch eine Vergesellschaftung, die weder der Vermittlung durch Wert (Geld) noch durch staatliche Gewalt bedarf. Erst dies und nicht aber die Konzentration von Kapital in den Händen des Staates bedeutet Aufhebung von kapitalistischem Privateigentum. Weder das Staatseigentum noch proudhonistischen Rücknahmen der Kapitalisierung können die Vermittlung von Gesellschaftlichkeit durch Wert/Geld aufheben. Die unmittelbaren Produzenten können ihre abhängige Rolle als Lohnarbeiter so nicht überwinden. Im Staatseigentum an Produktionsmitteln, mittels derer in Lohnarbeit Waren hergestellt werden, ist die Kapitaleigenschaft der Produktionsmittel nicht aufgehoben. Das Gleiche gilt für kommunales Eigentum und für Eigentum etwa von Genossenschaften usw.

Werner Du willst die kapitalistische Arbeitsteilung in Frage stellen. Du versuchst das, indem Du sie Dir kleiner, abgeschwächter vorstellst, aber nicht indem Du die soziale Form, die die (kapitalistische) Arbeitsteilung hervorbringt und voraussetzt, aufhebst. Dies ist eine rückwärtsgewandt-utopische Idee, die auf vorkapitalistische Warenproduktion, handwerkliche Verhältnisse orientiert. Du willst die Wertform zurück entwickeln, aber nicht aufheben. Du entkommst aber ihrer Logik nicht - Dein Text bietet selbst Belege dafür (ich habe welche genannt).
Du schreibst, Du konntest nicht so kühn sein, Dir als Alternative zum Kapitalismus eine Produktionsweise vorzustellen, die nicht Warenproduktion ist. Kühn oder nicht, realistisch sollten wir sein und nicht etwas als Alternative beschwören, was weder möglich noch meines Erachtens wünschenswert ist (im Sinne des bewahrenden Aufhebens und Verallgemeinerns wesentlicher zivilistorischer Errungenschaften der bürgerlichen Epoche). Hier gibt es enormen Diskussionsbedarf.

4. Du könntest zum Beispiel auf folgendes verweisen: Marx folgend (siehe seine Gedanken zur russischen Dorfgemeinde und deren sozialistischen Potenzen) verweisen manche Leute (ich auch) in der Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus auf die Parallelität verschiedener historischer Erscheinungen. Einerseits wird international die gesellschaftliche Entwicklung von postfordistischen kapitalistischen Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte dominiert, die allerdings ihre integrative, lebenserhaltende Kraft verlieren und immer lebensfeindlicher wirken. Zugleich gibt es weiterhin - nicht nur in der sogenannten dritten Welt - nichtkapitalistische Lebensformen von Gemeinschaften. Diese sind angesichts der Globalisierung massiv bedroht.
Im Unterschied zu den Zeiten der ursprünglichen Akkumulation, des westlichen Frühkapitalismus, erwachsen aber den betroffenen Menschen in ihrer Mehrheit auf kapitalistische Weise keine Existenzmöglichkeiten, die sie dauerhaft tragen könnten. Vielleicht gibt in dieser Gleichzeitigkeit und in den konflikthaften Zusammentreffen der entsprechenden Kulturen Momente zu entdecken, die im Westen gerade als Konsequenz der tiefgehenden kapitalistischen Arbeitsteilung längst verloren gegangen sind, die aber für die notwendige Aufhebung kapitalistischer Verhältnisse von Bedeutung sein können. Sozusagen Neues im (sehr) Alten: Gemeinschaftsmentalitäten, soziale Kompetenzen, geistige Vermittlungen von menschlichen Zusammenhängen. Johannes Stockmeier beschäftigt sich mit letzterem stark.
Vielleicht sagst Du ja jetzt: Genau darum geht es mir in meiner Orientierung auf Kleinteiligkeit usw.
Das verstehe ich schon. Der Fehler ist nur der: Global einen entwickelten Kapitalismus vorausgesetzt, können die kapitalistischen Widersprüche nicht dadurch überwunden oder beherrscht werden, dass die Warenproduktion, die Lohnarbeit, die ganze Wertvergesellschaftung halb zurückgenommen oder abgeschwächt wird. Sie muss aufgehoben werden. Wir können nicht (und ich will das auch nicht; wer in den Metropolen will das denn wirklich?; abgesehen davon, dass wir dazu 5 Mrd. Menschen zuviel sind) zurück zu den Zeiten der Luditen und Maschinenstürmer, auch nicht mit Hilfe etwa der Gemeinschaftsmentalitäten, die in vielen Regionen noch aus nichtkapitalistischen Zeiten überlebten.
Es ist ein kurzschlüssiger, nicht verallgemeinerbarer Versuch, Geschichte zurückzudrehen, indem Kleinteiliges, Handwerkliches als materielle Grundlage der Existenz in die bestehende (kapitalistische) Warenproduktion implantiert werden soll. Du versuchst, so Produktion und Nützlichkeit, Planung und Verbrauch sozusagen kurzzuschließen und die Logiken eben der Warenproduktion, die Du beibehälst, auszuschalten. Das ist kein sozialistisches und kein realistisches Projekt.

5. Hier muss tatsächlich theoretisch argumentiert werden. Du weißt oder ahnst, was hier das Schlüsselproblem ist und erklärst, dass es auch bei Marx in der "Frage der Warenproduktion und des Wertgesetzes ... nicht so eindeutig und einfach" sei.
Einfach ist es nicht, aber jedenfalls in Marx' Kritiken der Politischen Ökonomie sehr eindeutig: Die sozialistische Gesellschaft ist keine Gesellschaft, der ökonomisch eine Produktion zugrunde liegen kann, in der die Produkte als Waren produziert werden, in der also das Wertgesetz gilt und die Arbeit als Lohnarbeit verausgabt wird, in der die unmittelbaren Produzenten also nicht die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und die Produkte haben.
Was ist da im "Kapital" oder etwa in den "Grundrissen" unklar? Mein Vorschlag zur Diskussion dieser Differenz:

Erstens: Wir sollten anhand der genannten Marxschen oder anderer Texte darüber diskutieren, ob die Alternative so steht: Sozialismus oder Warenproduktion?

Zweitens: Dann sollten wir die Marxschen Argumente in der Kritik des Gothaer Programms prüfen. Die haben es in Bezug auf unsere Kontroverse in sich. Zu dieser Kritik ist Marx als Reaktion auf die Sozialismusbilder der Lasalleaner gezwungen, die er grundsätzlich für falsch hielt (Volksstaat, ungeteilter Arbeitsertrag, gerechte Verteilung). Hier nimmt er eine Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und dem entfalteten Kommunismus an, Sozialismus oder erste Phase des Kommunismus. Der Marxismus-Leninismus hat sich in seinem Bestandteil "Politischen Ökonomie des Sozialismus" und in der "sozialistischen" Wirtschaftspraxis gerade auf wesentliche Aussagen von Marx über diese Übergangsgesellschaft gestützt. In real-"sozialistischer" Theorie und Praxis ging es immer wieder auch um die konsequentere "Anwendung des Wertgesetzes". (Ein Einschub: Die Wende, längst durch die DDR-Ökonomie vorbereitet, war die radikale Umsetzung genau dieser Forderung. Der bundesdeutsche Sozialstaat zieht jetzt insgesamt nach).
Die Marxschen Programmkritik von 1875, die Politische Ökonomie des Sozialismus bezog sich nicht zu Unrecht darauf, widerspricht m.E. In wesentlichen Punkten tatsächlich sowohl den großen Kritiken der Politischen Ökonomie als auch den Frühschriften.
Hierzu nur als Hypothese: Die Aussagen der Frühschriften bzw. Der Kritiken der Politischen Ökonomie hinsichtlich des Sozialismus-Kommunismus gehen von einen voll entfalteten Kapitalismus voraus. Durch die Arbeiterbewegung, die Diskussion um das sozialdemokratische Programm, gezwungen, Sozialismusvorstellungen plausibel zu machen und zwar von einem noch sehr unentwickeltem Kapitalismus aus, kommt Marx zur Annahme einer Übergangsgesellschaft, die unvermeidbar noch vom bürgerlich-kapitalistischen Leistungsprinzip, von staatlicher Herrschaft usw. Geprägt sei. Ich sehe das heute als einen verständlichen aber - gemessen an den tatsächlichen Voraussetzungen und Möglichkeit - untauglichen Versuch an, aus einem noch unentwickelten Kapitalismus heraus eine sozialistisch-kommunistische Umwälzung zu denken bzw. Praktisch zu gehen. Die Nähe des ML, der sogenannten Politischen Ökonomie des Sozialismus zu diesen Marxschen Aussagen ist auch Ausdruck der auch ab nach 1917/1945 noch lange nicht überwundenen Grundsituation der Arbeiterbewegung. Im praktischen proletarischen Klassenkampf (dies ein Ringen um die Verbesserung der Existenz innerhalb der bürgerlichen Epoche) konnte Sozialismus als motivierendes Ziel damals nur in den Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft wirksam werden (siehe das Arbeitsethos, siehe die Vorstellung von Reichtum, Gerechtigkeit usw., siehe die Ideale, die in den Arbeiterliedern deutlich werden).
Heute ist die Situation eine andere: Die zivilisatorischen Potenzen der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Warenproduktion erschöpfen sich. Zugleich gibt es inzwischen solche materiellen und geistigen Voraussetzungen, die eine praktische Aufhebung der Warenproduktion denkbar und wünschenswert machen (Dies ist an anderer Stelle entwickelt.) Es gibt weder realistische Möglichkeiten noch Notwendigkeiten, eine quasi noch bürgerliche erste Phase des Kommunismus als unumgänglichen Übergang anzunehmen. In der Geschichte seit 1874, 1917/45, wesentlich ein Erfolg gerade der innerkapitalistischen Arbeiterbewegung, wurde sozusagen der "Wahrheit" und Wirksamkeit der Marxschen Aussagen in der Programmkritik die Grundlage entzogen. Den viel weitersichtigen Grundaussagen der Kritiken der Politischen Ökonomie und der Frühschriften (in denen eben ein entfalteterer Kapitalismus vorausgesetzt wurde, der an die Grenze seiner zivilisatorischen Möglichkeiten und an die seiner Zivilisationsverträglichkeit gekommen ist) dagegen wuchs die Wirklichkeit sozusagen entgegen.
Wollen wir dies als Diskussionsthema aufnehmen? Ich bin sehr dafür.

Drittens: Ich nehme Marx hier nicht als obersten Schiedsrichter an, nach dem sich die Wirklichkeit zu richten hätte, sondern "nur" als Bezugspunkt für theoretische Auseinandersetzungen über die Wirklichkeit und mögliche Entwicklungen. Als solchen kenne ich allerdings keinen besseren und nehme ihn ernst.
Marx wird sozusagen sehr sprechend, wenn wir in unsere Diskussion den Blick richten auf Besonderheiten der jetzigen kapitalistischen Produktionsweise, der postfordistischen Produktionsmethoden, auf

  • die innerkapitalistischen Änderungen in der Arbeitsteilung,
  • die Zunahme der sogenannten Wissensökonomie,
  • die erneute Ausweitung der reellen Subsumtion der agierenden Individuen ("Lohnarbeiter" ist hier nicht immer der richtige Ausdruck, z.B. Nicht bei den sogenannten Ich-AG) unter das Kapital durch die Übernahme von wesentlichen Kapitalfunktionen (Auftragsbeschaffung, Arbeitsorganisation, Kontrolle, Vertrieb ...) durch die unmittelbaren Produzenten selbst. Die Personifizierungen des Kapitals, damit die alten Losungen des Klassenkampfes von den Müßiggängern usw. Werden immer problematischer. Die Kapitalverhältnisse sind sozusagen in den Individuen, in ihren sozialen Beziehungen, in ihren Mentalitäten und Mythen selbst zu bekämpfen bzw. Aufzuheben. Mit den alten Widerstandslosungen, mit dem Anrennen gegen Institutionen oder dem Marsch durch sie, ist da nichts mehr zu machen.
  • das Hineinziehen sozusagen immer neuer Reproduktionsfunktionen in den direkten Verwertungsprozess, damit dramatische Änderungen in den Klassenstrukturen,
  • die ökonomisch begründete (und bei Beibehaltung der Warenproduktion nicht aufhaltbare) zunehmende Unfähigkeit von Staaten und Kommunen, allgemeine soziale Aufgaben wahrzunehmen.

Wenn wir diese reale Entwicklung konfrontieren mit der Marxschen Methode, mit seinen Kategorien, in der er die kapitalistische Produktionsweise, die Wertverwertung durchgängig unter dem Gesichtspunkt ihrer Aufhebbarkeit analysiert, dann wird die Aufhebung des Kapitalismus als Aufhebung der Warenproduktion tatsächlich denkbar. Dann kann die Suche nach Keimformen, nach Voraussetzungen und Momenten des Neuen im Alten sinnvoll diskutiert und betrieben werden.

Das heißt überhaupt nicht, dass eine solche (auch theoretisierende) Herangehensweise die einzige oder auch nur die wesentliche Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus ist (ich treibe ja auch mehr). Doch Dein Text Werner hat eben auch einen theoretischen Anspruch und er führt einen entsprechenden Titel ("sozialistische Fantasie").

Nicht jede soziale Bewegung, die sich antikapitalistisch dünkt, ist auch eine. Was Aufhebung der Kapitalverhältnisse bedeutet und was Sozialismus ist, in welche Richtung ich also suche und mich engagiere, das muss diskutierbar sein.
Hier also meine Vorschläge zur Diskussion. Ansonsten kann ich nur sagen: Leute, lest Werners Text. Ich denke, dass er viele Ideen und einzelne Wünsche vereint, die diese und jener als Zukunftsvision mit sich trägt.
In Richtung Werners Fantasie, die die Warenproduktion, die Wertvergesellschaftung beibehält, ist kein Sozialismus zu finden. Dafür bringe ich Argumente, diskutierbare wie ich hoffe.

Uli Weiß

 

Antwort von Werner Ruhoff auf Ulrich Weiß

"Die Konsumkultur auf der nördlichen Erdhalbkugel, die sich partiell auch nach Süden ausdehnt, ist demnach kein zukunftsfähiges Lebensmodell für die Menschheit."

Lieber Uli,

Mit dem Bild vom Gefälle zwischen "Wahrheit und fixer Idee" wollte ich keine persönliche Wertung treffen, es bezog sich nur auf mein Anliegen, in der Diskussion fair miteinander umzugehen. Es geht mir um einen Gedankenaustausch, aus dem ich etwas lernen kann, statt um Belehrungen und Herablassungen in die und aus der ein oder anderen Richtung.

Mit "Dreh- und Angelpunkt", z.B. die Verstaatlichung der Fabriken, meinte ich eine normative Voraussetzung, von der die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme auf eine zivilisierte Art und Weise abhängig sein soll. Sie löste schon nicht das Problem der Macht im Sinne des Proletariats, ebenso wenig führte sie die Überlegenheit der Produktivität und die Abschaffung von gesellschaftlichen Klassen herbei. Sie ist aber als Aufhebung des Privateigentums in Anlehnung an Marx und Engels "Dreh- und Angelpunkt" des sozialistisch/kommunistischen Selbstverständnisses im Sinne der Lösungsmöglichkeit gesellschaftlicher Probleme durch die Aufhebung hinderlicher Unverträglichkeiten. Hier zeigt sich, wie sehr "Grundpositionen" bei Marx und Engels durch die Erfahrung in einem neuen Licht gesehen werden müssen. Zu diesem neuen Licht gehört auch das Aufgreifen und die Aktualisierung ihrer Warenkritik - da haben wir keinen Dissens. An der Stelle gilt es aber m.E., die unterschiedlichen Ebenen von Sinn und Norm ins Blickfeld zu nehmen. Als Beispiel zitiere ich noch mal die Verstaatlichung: mir ging es mit der Bemerkung, dass es keinen Dreh- und Angelpunkt gibt, um den Sinn der Verstaatlichung, der sich, auch gemessen an den oben zitierten Beispielen, nicht erfüllt hat. Von den normativen Vorgaben, wie wir sie im Kommunistischen Manifest, in der Programmkritik an der Sozialdemokratie oder von der Utopie zur Wissenschaft finden, wich der Realsozialismus insofern ab, als die Kommunistische Partei die Stellvertreterrolle (die sich zu einer Unterdrückung gewandelt hat) für das Proletariat inne hatte. Was die Frage der Warenproduktion im Sozialismus angeht, gibt es meines Wissens weder bei Marx, noch bei Engels oder Lenin die Eindeutigkeit eines normativen Kriteriums als Voraussetzung, allenfalls die aus der Warenkritik abgeleitete Erwartung, dass die Warenproduktion als Folge der kollektiven Besitzergreifung aufgehoben wird. Aber da gibt es bei den "Klassikern" fragmentarisch Widersprüchliches. Selbst in der kommunistischen Vision ist die Frage der Wertförmigkeit nicht eindeutig beantwortet. Da werden die Güter zwar nach Bedürfnissen und nicht mehr nach der Leistung verteilt. Aber im dritten Band des Kapital ist die Rede, dass die "Wertbestimmung" im Hinblick auf die Arbeitsverteilung "nach Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise.......wesentlicher denn je wird" (MEW Bd. 25/S. 859). Warum? Und an dieser Stelle wird nicht ausgeführt, ob es sich dabei nur um die "niedere Phase" des Sozialismus handelt oder ob die "höhere" des Kommunismus inbegriffen ist. Es bleibt die Frage offen, ob die Kategorie des Wertes weiterbesteht, auch wenn es keine Warenproduktion mehr gibt. Ich kenne mich in den MEW-Schriften nicht als Wissenschaftler aus. Und mir ist aus der Sekundärliteratur nicht bekannt, wo es diesbezüglich von Marx und Engels eine Klärung dieses Sachverhaltes gibt. Vielleicht kannst Du mir einen Hinweis geben (siehe meine Bermerkung in der Antwort vom 14.2. bezgl. der Grundrisse). Was den Realsozialismus in der DDR angeht, so bin ich allerdings auch der Meinung, dass mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung die in staatlicher Hand zentralisierten Produktionsmittel den Charakter von Staatskapital annahmen. Das lässt sich z.B. am Kreditwesen und an den zinsähnlichen "Produktionsfondsabgaben" festmachen, welche die so genannten volkseigenen Betriebe auf der Basis ihrer Gewinnerwirtschaftung an den Staatshaushalt abzuführen hatten.
Man kann die normativen Kriterien von ME natürlich auch falsch finden - ich habe mich bei der Definition dessen, was ich unter Sozialismus verstehe, in Bezug auf den Realsozialismus an ihren Kriterien orientiert. Doch der Sinn dieser Kriterien ist nicht erfüllt worden. Der Realsozialismus hat das anvisierte Ziel der Befreiung des Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Unterdrückung nicht erreicht. Das habe ich gemeint. Du meinst, das war gar kein Sozialismus, weil die Wirtschaft auf der Produktion von Waren basierte.(?) Wenn es wichtig ist, was Sozialismus sein soll, enthält die polarisierende Fragestellung Sozialismus oder Warenproduktion vor dem Hintergrund der heutigen Entwicklung für mich ein wichtiges Erkenntnispotenzial. Aber die theoretische Möglichkeit der gesellschaftlichen Überwindung der Warenproduktion und obendrein jeder Wertform ist bei meinem Kenntnisstand mit vielen offenen Fragen verbunden, die mir eher Zweifel als Zustimmung signalisieren, was die Funktionstüchtigkeit für die allgemeine Bedürfnisbefriedigung und die Beendigung von Unterdrückung angeht.

Dass in die späteren Schriften der Klassiker ganz pragmatische Gesichtspunkte einflossen, war sicherlich dem damaligen technologisch-ökonomischen Entwicklungsstadium, dem stimme ich zu, und der rein praktisch-programmatischen Ebene der neuen Parteigründungen geschuldet. Heute ist das gesellschaftliche Potenzial selbstredend viel weiter und insofern erlangt die Weiterforschung und -entwicklung der marxistischen Warenkritik auch eine wieder entdeckte Aktualität, die an Brisanz gewinnt. Im kommunikativen und im Wissensbereicht gibt es nicht die relative physische Knappheit, der konkret feste Gebrauchsgegenstände trotz eines sichtbaren und teilweise unsinnigen Überflusses unterliegen. Von daher wirkt auch die Anwendung der Warenform im kommunikativen Bereich tendenziell anachronistisch. Die Warenbarrieren können relativ einfach außer Kraft gesetzt werden. Und das geschieht in der Praxis ja auch. Herstellung und Austausch von Informationen folgen aufgrund ihrer "flüssigen" und direkten Beziehungsvernetzung leichter den Anforderungen der Bedürfnisbefriedigung als dies bei "festen" Gegenständen der Fall ist. Wenn die Herstellungskette bei Lebensmitteln und technischen Gebrauchsgütern sehr vielgliedrig ist, wird es richtig kompliziert. Wie sieht das aus, wenn der Bauer oder die Busfahrerin eine Stereoanlage möchten? Wie werden die vielfach verketteten Produktions- und Verteilungsebenen aufeinander eingestellt, ohne dass große Verzögerungen und Reibungsverluste entstehen, oder der Verbraucher/die Verbraucherin darauf verzichten muss, sein/ihr Bedürfnis zu befriedigen? Ab welchem Punkt der Produktivität lässt sich das ohne Warenform (und Wertform - siehe oben) realisieren? Wie und wann kann ein Vergesellschaftungsniveau erreicht werden, auf dem die Vermittlung der Güter weder der Warenform noch der Gewalt des Staates bedarf? Wie müssen Produktion und Austausch organisiert werden, damit das überhaupt funktionieren kann? Müsste nicht die ganze Gesellschaft ein extrem komprimierter Produktionsort sein, der in sich vollkommen transparent ist? Mir schaudert bei dem Gedanken, wenn es so sein müsste, könnte, sollte. Ich fürchte, das ungelöste Problem bleibt in allen Sozialismusvarianten bestehen, die es gab und die bisher ausgedacht wurden: der Widerspruch zwischen VerbraucherInnen und ProduzentInnen hinsichtlich der Abhängigkeit von der Laune der ProduzentInnen (es fehlt der Konkurrenzdruck) und hinsichtlich der leidlichen Funktionsfähigkeit des Wirtschaftskreislaufs (meine Fantasien haben keine wissenschaftliche Qualität und sie beruhen lediglich auf der Wunschvorstellung, dass solcher Widerspruch in abgemilderter Form erträglich ist). Nicht zuletzt aus dem Grund hat es revisionistische Anschauungen gegeben, die im gemischten Wirtschaftsmodell der Sozialdemokratie einmal zu Hause waren, das heute, Ironie der Geschichte, unter "kommunistischer" Herrschaft in China existiert. Die komplette Aufhebung der Warenform birgt m.E. die Wahrscheinlichkeit (vorsichtig ausgedrückt), dass Produktion und Bedrüfnisse sich chronisch verfehlen. Wie könnten ProduzentInnen in einer Fabrik die Produktion Bedürfnissen gerecht werdend planen und umsetzen, wenn sie von tausenderlei unberechenbaren, weil "entwerteten" Größen abhängig sind? Wie würde sichergestellt, dass die Produktion nicht in heilloser Verschwendung ausartet? Es müsste wirklich ein Überfluss von allem vorhanden sein, damit die VerbraucherInnen zu ihrem Recht kommen. Dann wäre Geld als Rationierungs- und Allokationsinstrument überflüssig. Oder mache ich einen Denkfehler?
Aber noch ein anderer Einwand, der im Gegensatz zum Überfluss steht, ist mir wichtig. Wenn auch die moderne Technik heute Voraussetzungen schafft, Planung und Produktion weitgehend zu rationalisieren, komplizierte Planungen im Bruchteil der früheren Zeit zu erledigen, so gibt es das Problem der zunehmenden Ressourcenknappheit und Entropie. Die Vision eines bürgerlichen Wohlstandes für alle lässt sich in Zukunft aus ökologischen Gründen jedenfalls nicht einlösen, zumindest behaupten das aus meiner Sicht ernst zu nehmende KritikerInnen des "westlichen" Wohlstandsmodells. Die Konsumkultur auf der nördlichen Erdhalbkugel, die sich partiell auch nach Süden ausdehnt, ist demnach kein zukunftsfähiges Lebensmodell für die Menschheit. Bei einer (hoffentlich nicht mehr lange) wachsenden Weltbevölkerung dürfte eine sozialistische Weltgesellschaft denn auch größte Achtsamkeit darauf verwenden müssen, Mittel und Ressourcen einzusparen. Die moderne Solartechnologie bietet keinen Königsweg, weil auch ihre Ressourcen nur in einem begrenzten Umfang zur Verfügung stehen. Die Einsparung wird nicht (allein) durch moderne Technologien zu bewerkstelligen sein. Die Höhe des Verbrauchs an Ressourcen und Konsumgütern muss (auch) durch einen "Wertewandel", durch nachhaltige Verhaltensänderungen und Produktionsstrukturen spürbar abgesenkt werden, eine kulturrevolutionäre Aufgabe. Eine damit einhergehende Verkürzung und Vereinfachung der Produktionsstrukturen könnte vielleicht obendrein geeignet sein, die Komplexität der Anforderungen an einen funktionierenden Wirtschaftskreislauf auf einfachere Stufen herunterzufahren.

Klar ist mir, dass Kapital nicht ohne Wareneigenschaft funktioniert. Aber Ware ist noch nicht Kapital, so habe ich Marx verstanden. Sie ist zwar eine notwendige Vorstufe des Kapitals, aber solange sie auf den Kreislauf Ware-Geld-Ware beschränkt bleibt, fehlt ihr die Eigenschaft der scheinbaren Selbstvermehrung. Es geht lediglich um den Austausch von Äquivalenten. Und das hat es natürlich in den Vorepochen der gesellschaftlichen Kapitalverhältnisse bereits gegeben. Wie war es im sowjetischen Block bis zu den Wirtschaftsreformen der sechziger Jahre? Durch die Wirtschaftsreformen wurden die staatlichen Produktionsmittel kapitalisiert. Das hatte, so entnehme ich es dem damaligen Diskurs, mit der zunehmenden Differenzierung/ Intensivierung des Produktionsprozesses zu tun, was schier unlösbare Probleme für die PlanerInnen mit sich brachte. In der staatlich regulierten und verpuppten Kapitalisierung (wobei als feindlich ausgemacht wurde, das Kapital zu nennen) sah man in technokratischer Manier einen Ausweg, Planung und Produktion flexibler zu gestalten, bis sich die Larve unter den Konkurrenzbedingungen des Weltmarktes (als) gänzlich kapitalistisch entpuppte.

In meinen Fantasien arbeitet die Traktorenfabrik Sonnenaufgang nach dem Prinzip, das Marx in seiner Kritik an Lassalles "ehernem Lohngesetz" in der Gothaer Programmkritik skizziert hat - Lohn als Wertäquivalent abzüglich der Kosten für den Ersatz der Maschinerie und die allgemeine Wohlfahrt - Punkt. Das hat Marx in seiner Programmkritik als den wirtschaftlichen Boden des Sozialismus gegen Lassalle (und früher schon Proudhon) hervorgehoben und ich habe mich daran angelehnt. Es handelt sich bei der Traktorenfabrik meiner Meinung nicht um (genossenschaftliches oder kommunales) Kapital, weil das produzierte Mehrprodukt in Form von Maschinen nur als gesellschaftliches Wertäquivalent auf der Ebene Ware-Geld-Ware (W-G-W) fungiert und nicht als Bestandteil eines betrieblichen Kapitalvorschusses ("konstantes Kapital"), der als Druckpotenzial auf die Lohnarbeit wirkt und sich im Prozess Geld-Ware-Mehrgeld (G-W-G') als Profit mitrealisiert. Um darüber hinaus das pekuniär sanktionierte, ungerecht gleichmachende Leistungsprinzip (das Marx in der "niederen Phase" des Sozialismus noch als notwendiges Übel ansieht) im betrieblichen Rahmen abzuschaffen, diskutiert das Kollektiv "unserer" Traktorenfabrik, die starre Lohnzahlung nach Leistung abzuschaffen und durch individuelle Entnahmen entsprechend persönlicher Bedürfnisse im Rahmen des betrieblichen Budgets zu ersetzen (Prinzip Lebensgemeinschaftskommune Niederkaufungen). Das Geld ist nicht abgeschafft, aber es vermindert seine Bedeutung auf der praktisch-psychologischen wie auf der gesellschaftlich-funktionalen Ebene. Im Übrigen entbrennt in meinen Fantasien ein Streit um das Geld und es gibt gegenteilige Positionen zu der Frage, ob Geld gänzlich überflüssig ist oder ob es wieder eine stärkere Bedeutung erlangen soll. In diesem fiktiven Streitkontext gibt es aus Gründen gravierender Mängel den umstrittenen Vorschlag, Genossenschaften mit selbst zu verwaltendem Kapital auszustatten, was aber kein Anrecht auf eine Gewinnausschüttung bedeuten soll. Es soll, ähnlich wie bei den Reformen in der DDR, eine rationellere, effizientere Produktion begünstigen, indem es einerseits als Erfolgsindikator für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen und Maschinen anreizt und andererseits durch eine innerbetriebliche Gewinnthesaurierung eine schnellere und kontinuierlichere Modernisierung der technischen Produktionsausstattung anregt. Dieser Vorschlag fällt nicht auf ungeteilte Zustimmung, z.B. ob die Produktionsausstattung aus verschiedenerlei Gründen ständig modernisiert werden müsse. Andere sind nicht nur aus ökologischen Gründen für die Ausdehnung der Selbstversorgung, sondern weil Geld hier durch das Kurzschließen von Produktion und Verbrauch für jedeN sichtbar überflüssig ist und das Leben sich ohne Geld leichter anfühlt. Die geldlose Selbstversorgung in der fiktiven Stadt ist im Übrigen eben nicht nur auf Transfers aus dem Geldsektor angewiesen. Im Baubereich, in der Lebensmittelversorgung und der nachbarschaftlichen Hilfe hat sie eine teilweise eigenständige Grundlage, weil die Menschen unmittelbar bzw. über unmittelbare Kooperation verbrauchen/ gebrauchen können, was sie produzieren, ohne dass sie auf eine Geldzufuhr von außen angewiesen sind (deswegen kann in meiner Fantasie niemand mangels Geld verhungern und obdachlos werden!). Es werden Anstrengungen unternommen und Anregungen gegeben, den Bereich der Selbstversorgung auszudehnen und mehr gegenseitige Kooperationen zu organisieren, die losgelöst vom Geld stattfinden.

Die Auflösung der bürgerlichen Arbeitsteilung ist bei M/E ähnlich wie die der Warenform (sie standen nicht auf der revolutionär-pragmatischen Tagesordnung), so sehe ich es, eine notwendige, aber scheinbar selbstverständliche Konsequenz aus der proletarischen Staatsmacht, Verstaatlichung, Planmäßigkeit, wiewohl sie historisch, kulturell und inhaltlich viel tiefer reicht als die Verstaatlichung usw. Schließlich ist das Produkt der Teilung in geistige und körperliche Arbeit nach ME, wie Du zitierst; das fremde Eigentum und die Teilung in "weibliche" und "männliche" Arbeit der Zustand des Patriarchats. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass, wo die Teilung beibehalten wird, das Eigentum (eigentlich) kein sozialistisches sein kann, obwohl es formal der Allgemeinheit in Form des Staates gehört. Aber auch hier ist die Schlussfolgerung bei ME nicht "undialektisch", meint, sie sprechen dem unfertigen Zustand nach der Revolution den Sozialismus nicht ab. In der Frage der Arbeitsteilung hat die Mao Tse-Tung Führung im Unterschied zur scheinbaren Selbstverständlichkeit die Notwendigkeit weiterer Revolutionen gesehen, um die Herrschaft der Geistesarbeiter über das Arbeitsvolk in den Fabriken zu brechen, allerdings in einem sehr mechanistisch-stalinistischen, brutalen Gewaltakt, der meines Erachtens ganz wesentlich zum Misserfolg mit traumatischen Folgen in der chinesischen Gesellschaft beitrug.
Dasselbe lässt sich auch auf die Staatsfrage anwenden. Auch in Bezug auf die Staatsfrage scheint der kommunistische Fortschritt bei Marx/Engels in einer gewissen Eigendynamik den normativen Eingangsvoraussetzungen zu folgen. Es ging darum, dass in ihren Augen ein (vermutlich historisch kurzes) Zwischenstadium nötig war, bevor Staat, Arbeitsteilung und Warenform sich auflösen konnten. Was den Staat angeht, gibt es ja hier den tiefen Bruch mit den anarchistischen SozialistInnen, die meinen, man müsse den Staat direkt umbringen, statt ihn sterben zu lassen. Wenn mensch den Staat direkt "umbringt", gibt es auch keine Verstaatlichung! Hier eröffnet sich in meinen Augen eine interessante Schnittmenge der aktuellen Beschäftigung mit der Überwindung der Warenform und dem anarchistischen Ziel, den Staat direkt, d.h. durch die soziale Revolution abzuschaffen und durch eine zivilgesellschaftliche Organisierung "von unten" zu ersetzen. Die anarcho-syndikalistische Studienkommission der Berliner Arbeiterbörsen (anarchistische Gewerkschaften) hatte bereits 1923 eine Schrift herausgegeben, wie die gesellschaftliche Produktion und Verteilung ohne Warenproduktion (aber in der Wertform) organisiert werden soll ("Das ist Syndikalismus" Verlag Edition AV). Interessant wäre zu wissen, wie der Anarchismus in den dreißiger Jahren in Spanien ökonomisch funktionierte.

In meinen Fantasien schildere ich Begebenheiten, Prozesse und Konflikte, in denen sich meine (Wunsch-)bilder einer sozialistischen Gesellschaft in einem Spannungsfeld ungelöster praktischer und theoretischer Probleme bewegen: meine Wunschbilder zeigen sich darin,

  • dass ich mir den Sozialismus als libertäre/rätesozialistische Organisation der Gesellschaft vorstelle (wünsche)
  • dass sich die sozialistische Gesellschaft an ökologischen Erfordernissen orientiert, z. B. Nachhaltigkeit in der Produktion, Veränderung des Konsumverhaltens und Verringerung des Konsumverbrauchs
  • und dementsprechend die Selbstversorgung u. ökologische. Landwirtschaft eine starke Bedeutung haben
  • dass Handwerk und landwirtschaftsnahe Produktion aus ökologischen und arbeitspsychologischen Gründen durch die Möglichkeiten einer modernen kleinteiligen Produktion - zu vorherrschenden Produktionssektoren werden
  • dass sich der "Charakter" der Technologie verändert - weg von umweltschädlicher (motorisierter Individualverkehr, Düsenjets u.a.), destruktiver (Rüstung), hochgradig risikobehafteter (AKW, Gentechnologie.), hochgradig zentralisierter (ökologisch extrem überdimensionierte Produktionskapazitäten), und menschenfeindlicher (Fließbandproduktion z.B.) Technologie
  • dass die Energiebasis weitgehend auf regenerierbaren solaren Ressourcen beruht
  • dass die BewohnerInnen/VerbraucherInnen/ProduzentInnen die Planung des gesellschaftlichen Zusammenhangs "von unten nach oben" organisieren, ohne dass die Kollektive in der Wahl ihrer Mittel und ihrer Selbstverwaltung eingeschränkt werden - die Dichte der gesellschaftlich vorgegebenen Plandaten ist dünn
  • dass die Arbeitsteilung nach Geschlechterrollen und geistig/körperlichen Anstrengungen (so weit als möglich) überwunden wird
  • dass die Kapitaleigenschaft des Geldes (G-W-G') und damit auch der Wachstumszwang abgeschafft sind
  • dass der Boden der Allmende gehört/Grundstücke - Gebäude zur unentgeltlichen Nutzung überlassen werden - mit vereinbartem Verwendungszweck
  • dasselbe gilt für Produktionsmittel, die über den städtischen Fonds angeschafft werden
  • dass die Leute mietfrei wohnen und in selbstverwalteten, nachbarschaftlichen Strukturen leben
  • die Eigeninitiative unterstützt wird - es besteht Vereinbarungsfreiheit über die zu gewährenden und in Anspruch zu nehmenden Leistungen
  • dass Bildung, Medien, Kultur, Pflege weitgehend unentgeltlich zur Verfügung stehen
  • dass es Meinungsverschiedenheiten und Interessensunterschiede (Berufsgruppen, Selbstversorgung, u.a.) gibt, die offen ausgetragen werden
  • dass Konflikte solidarisch gelöst werden müssen

Das, was ich in den Fantasien schildere, sind Wunschbilder, die es in der Wirklichkeit als kleine Inseln in mehr oder weniger "unvollkommener" Form gibt (Umsonstläden, SSM, Niederkaufungen, Longo mai u.v.a.). Ob sich eine Gesellschaft überhaupt einmal in der Weise formiert, steht auf einem anderen Blatt. Außerdem wissen wir überhaupt nicht, wie eine sozialistische Gesellschaft ökonomisch reibungslos funktionieren wird. Es kann durchaus zu wirtschaftlichen Krisen kommen. Eine solche Krise habe ich in meinen Fantasien in der Variante einer Geldentwertung geschildert. Außerdem sind menschliche "Boshaftigkeiten", die über die persönliche Ebene hinaus auch gesellschaftlich relevant wirken, nicht aus der Welt geschafft und nach menschlicher Beschränktheit nie zu beseitigen (Stichwort: aber notwendig wachsende Rolle der Ethik innerhalb eines von Kapital- und Staatszwängen befreiten Gemeinwesens). Innerhalb der Normen und Werte müssen die Menschen ihren Sinn, mit dem sie menschenwürdig leben können, finden. Das lässt sich weder verordnen, noch vereinheitlichen. Eine Pastorin in der Stadt meiner Fantasien bezieht sich auf Martin Buber, der den Sinn in der jüdischen Verbundenheit mit Gott und den Mitmenschen findet und daraus die Zuversicht der heilenden Genossenschaftlichkeit schöpft.

W. Ruhoff, 27.Februar 2006

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