"Trend-online" 5/6 2012
Wir sind die Guten:
Mit dem Scheiß haben wir nichts zu tun
Rezension zum Buch „Anarchismus, Marxismus, Emanzipation“ und warum der Anarchismus hier gegenwärtig so schwach ist.
„Die Buchmacherei“ hat wieder ein interessantes Buch herausgebracht. Der Text auf dem Buchcover verspricht Spannung. „Die Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre lässt sich von keiner der verschiedenen sozialistischen Bewegungen als Erfolgsgeschichte reklamieren: Sozialdemokratisch- reformistische Versumpfung im Bestehenden, zumeist nur kurzfristig gelungene anarchistische Aufbrüche und schließlich- alles überschattend- massenhafte Gewalt im so genannten Realsozialismus. Es gilt, sich dieser Vergangenheit zu stellen, um für mögliche Gefahren sozialistischer Politik zu sensibilisieren und alte innersozialistische Konflikte und deren mögliche Aktualität zu beleuchten und zu verhandeln. In ausführlichen Gesprächen diskutiert Philippe Kellermann deshalb mit Bini Adamczak, Jochen Gester, Joachim Hirsch, Gerhard Hanloser und Hendrik Wallat über Anarchismus, Marxismus, Emanzipation.“
„Es lässt sich leider nie wieder so unschuldig von einer besseren Welt träumen wie im 19. Jahrhundert.“ 1
Bini Adamczak fragt sich, „welcher Umgang mit den tatsächlich begangenen Wegen gefunden werden kann[...] Die Frage, die sich stellt, lautet also, wie der Versuch einer welthistorischen Befreiung in grausame Herrschaft umschlagen konnte.“.2 Es gebe keine Identität von Bolschewismus und Revolution sowie Bolschewismus und Kommunismus. Beide Behauptungen nutzten den autoritären KommunistInnen zur Vereinnahmung von Revolution und Kommunismus, und den autoritären AntikommunistInnen zu deren Denunziation. Die Linken glaubten, sie seien die Guten. Die Welt sah zwar nicht so aus, wie sie sich das vorstellten, aber das lag „an der Übermacht und Hinterhältigkeit des Gegners oder an der ideologischen Ignoranz der Massen“. 3 In Zeiten des Kalten Krieges bestand die Gefahr darin, dass „die Kritik am real existierenden Sozialismus ständig [...]als Parteinahme auf Seiten des real existierenden Kapitalismus gelesen“ 4 wurde. Viele antworteten darauf mit Ignoranz, „mit dem Scheiß, so hieß es, haben wir nichts zu tun.“5
Heute ginge es darum, Verantwortung für die Russische Revolution und das Scheitern zu übernehmen, da das Copyright der machtpolitisch legitimierten ErbInnen 1990ff. erloschen sei. Auch von Positionen außerhalb der marxistisch- leninistischen Tradition könne diese Verantwortung übernommen werden. Es ginge darum, „das Erbe jener linken KritikerInnen des Stalinismus und auch Bolschewismus zu retten, die von der gewaltsamen Geschichte an den Rand und den Rand des Vergessens gedrängt wurden[...] und andererseits der Versuchung zu widerstehen, im Rückgriff auf eine bessere Tradition eben diese Geschichte vergessen machen zu wollen“, so Bini Adamczak. 6 Eine Differenz zwischen AnarchistInnen und KommunistInnen würden zerfallen, wenn die KommunistInnen „die historische Verantwortung annehmen und aus dieser heraus eine radikale Kritik des autoritativen, parteizentrierten, produktivkraftfixierten, staatsorganisierten Weges leisten.“ 7
„Es gäbe durchaus Chancen für eine Renaissance libertären Gedankenguts.“8
Jochen Gester macht für die Unkenntnis revolutionärer Traditionen außerhalb des marxistischen Gedankenguts die politische Sozialisation des größten Teils der Linken verantwortlich. Die Chance, Libertäre zu treffen, sei gering. Oftmals seien diese jung und interessierten sich nicht für die Entwicklung kollektiven Widerstands gegen die Zwänge der Arbeitswelt. (Anmerkung: Oder sie sind bereits in der FAU organisiert.) Philippe Kellermann sprach von einem „chronischen Leiden“ der AnarchistInnen, die häufige „Ablehnung jeglicher Form von Organisation[...]Der 'anarchistische Weg' scheint jedenfalls ein sehr schwieriges Unterfangen zu sein.“9 Dem entgegnete Jochen Gester, dass allgemein die Bereitschaft sinke, sich in die Obhut politischer Organisationen zu begegnen. Damit sinke die Berechenbarkeit der Bewegungen.
Es müsse sich eine neue Kollektivität herausbilden, aber: „Diese Kollektivität kann nicht erzwungen sein wie der Dienst in einer Armee. Sie kann sich nur freiwillig herausbilden, versuchen, in mühseligen Anstrengungen einen Konsens über gemeinsame Interessen herzustellen, zu Einheit bei Wahrung der Vielfalt zu gelangen.“ 10 Ohne Organisation gebe es keinen Erfolg und keine weiterreichenden Perspektiven, so Jochen Gester.
Als früherer Maoist vertrat er den Standpunkt, „es gäbe Kraft Erkenntnis eine Avantgarde, die bereits weiß, wohin die Reise gehen muss und was für die Anderen gut ist.“11 Als libertärer Sozialist komme es darauf an, „dass die Menschen beginnen selbständig zu denken und zu handeln und ihre eigenen Schlüsse ziehen“. 12 Die prägende Normalität sei aber, dass die Menschen in hierarchischen und entfremdeten Verhältnissen stehen. „So betrachtet sind wir mit Verhältnissen konfrontiert, in denen eine dauerhafte politische Aktivität nur Sache von Minderheiten ist und die Mehrheit damit, dass sie vertreten wird, kein grundsätzliches Problem hat.“, sagt Jochen Gester. 13 Es ginge aber darum selbstorganisierte Strukturen zu entwickeln. Neue Formen arbeitsweltbezogener direkter (Räte-) Demokratie seien unverzichtbar für eine demokratische Selbstverwaltung und die reale Inbesitznahme der Produktionsmittel.
„Der klassische Anarchismus bleibt doch zu sehr Kind des 19. Jahrhunderts“- „er bleibt jedoch Ideologie“ 14
Gerhard Hanloser sagt: „ Nichtsdestotrotz findet sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts viel Anarchistisches als bastardisierte, hybride Theorie und Praxis, als mal deutlichere mal verstecktere Spurenelemente im Marxismus oder auch im postmodernen Denken wider. Für mich ist Anarchismus dann noch von Interesse, wenn er sich für Kategorien wie Ausbeutung, Klassenkampf und soziale Bewegungen interessiert und darin zum Ausdruck kommt.Als reine Theorie […] interessiert mich der Anarchismus nicht.“ 15
Auch der Marxismus stelle eine Ideologie dar. Ob eine Arbeiterklassenideologie, Modernisierungsideologie oder eine Selbstlegitimierung der realsozialistischen Länder. Marx sei auch ein Ideologe und sogar Demagoge gewesen. Allerdings: „Marx hat als Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft eine enorme Bedeutung.[...] Ich finde selbst dort, wo man geneigt ist, Marx zu verabschieden oder als ideologisch abzukanzeln, gültige Beschreibungen des Kapitalismus.“ 16
Wer allerdings zu sehr dem Produktivitätsparadigmas verhaftet sei, begreife den „Spirit“ nicht, der in den globalen Zeltstädten von Kairo, über Madrid, Tel Aviv bis zum Zuccotti Park zu spüren sei. „Die neuen Zeltplatz- Bewegungen haben der Anpassungsbereitschaft und dem Zynismus die rote Karte gezeigt. Das Postideologische als neueste Stufe der Ideologie grassiert dagegen. Hier steht ein Lernprozess noch aus: von 'Wir sind 99%' zu 'Wir sind alle Proletarisierte'- dann wird auch klar, dass die Nicht- Proletarisierten und ihre Fürsprecher mehr sind als nur 1 %. […] Es ist allein die face-to-face- Verbindung, die Vernetzung, Verknüpfung und Beziehung von Aufbrechenden, die etwas Neues schafft. […] Zu guter Letzt: können die Linken, die allzu gerne Erzieher sein wollen ohne die Frage 'Wer erzieht die Erzieher?' tatsächlich an sich ran zu lassen, das verlernen, was sie in ihren Gruppen, Organisationen und Parteien gelernt haben: das Manipulieren und Abtöten dessen, was ich hilflos 'Spirit' nenne, die Hybris, die Verstellung, das konkurrenzbehaftete racket- Verhalten. Sollte das gelingen, haben wir eine Chance.“ 17
Die Niederlagen sind „auf die Staatszentriertheit sowohl der reformistischen als auch revolutionären Ansätze zurückzuführen“ 18
Joachim Hirsch spricht davon, was vom Anarchismus zu lernen wäre: „[...] dass soziale Emanzipation nicht von Avantgarden, Parteien und Staaten ausgehen kann, sondern eine unmittelbare Angelegenheit der Menschen sein muss, dass Freiheit nicht durch Zwang hergestellt werden kann und dass dies bestimmter Formen gesellschaftlicher Praxis bedarf. Auch angesichts der Tatsache, dass die theoretischen Rechtfertigungen des Staatssozialismus, die in der marxistischen Tradition eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben, inzwischen der Vergangenheit angehören, bleibt das wichtig. Staatsfixierung und Staatsfetischismus spielen bis heute in sozialen Bewegungen, linken Gruppierungen und vor allem Parteien eine große Rolle.“ 19
Dabei war das Ziel bei Marx nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das Absterben des Staates als Voraussetzung gelungener Vergesellschaftung. „Der Mainstream der politischen Linken tickt anders. Hier ist der Staat zentraler Adressat und Akteur für eine linke Politik.“, so Jochen Gester. Aber es ginge nicht darum, den Staat zu ignorieren oder ihn nur zu bekämpfen, sondern ihn als politischen Raum zu begreifen, „[...]in dem soziale Bewegungen auch immer wieder anstreben müssen Ergebnisse ihrer Kämpfe in rechtlicher Form abzusichern. Nur durch die massenhaft nachvollzogene Erfahrung, dass dies nicht, nur teilweise und nur vorübergehend möglich ist, entsteht die notwendige Delegitimierung des kapitalistischen Staates als Vertreter des Allgemeinwohls.“ 20
Joachim Hirsch ist gegen eine Dämonisierung des Staates, denn der sei integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses. „Damit ist er eine Organisation, in der nicht zuletzt auch die Widersprüche zum Ausdruck kommen, die für die kapitalistische Gesellschaft charakteristisch sind. Und an Widersprüchen muss man bekanntlich ansetzen, wenn man etwas verändern will.[...] Es dürfte auch kaum möglich sein, den bestehenden Staatsapparat zu zerschlagen und dann irgendwie eine ganz neue, wirkliche demokratische politische Organisationsform zu schaffen. Ohne eine zentrale Apparatur kann eine Gesellschaft nämlich weder frei noch demokratisch sein. Auch auf dieser Ebene wird man also mit langwierigen und schwierigen Transformationsprozessen zu rechnen haben.“ 21 Joachim Hirsch plädiert für „zivilgesellschaftliche Initiativen und Bewegungen, also Formen der Selbstorganisation“, „im Prozess gesellschaftlicher Veränderungen (muss) die Zivilgesellschaft selbst transformiert werden.“ 22
Meines Erachtens kann in die heutige Zivilgesellschaft, z.B. die NGO`s, wenig Hoffnung gesetzt werden. Oftmals hängen diese Institutionen am staatlichen Tropf und zeichnen sich daher durch Anpassungsbereitschaft aus. Joachim Hirsch plädiert auch für einen „radikalen Reformismus“, „was heißt, konkrete Lebens- und Vergesellschaftsweisen neu zu gestalten: Verkehrs- und Produktionsformen, politische Organisationsweisen, Geschlechterverhältnisse, Naturverhältnisse. Das ist etwas, was sich gegen die herrschenden sozialen Formen- unter anderem den Staat- richtet und ein schwieriger, konfliktreicher, langwieriger und oft schmerzhafter Prozess ist. Dieser kann nicht von oben dekretiert werden, wie die gescheiterten proletarischen Revolutionen zeigen, sondern muss von selbstorganisierten gesellschaftlichen Initiativen ausgehen. Gelingt das, dann verändern sich die sozialen Kräfteverhältnisse und damit auch die Staatsapparate.“ 23
Auch dies ist meines Erachtens sehr optimistisch. Wer selbst in Bewegungen aktiv ist, weiß wie schwierig Selbstorganisationsprozesse sind, zumal wenn sie sich im Rahmen von Ehrenamtlichkeit bewegen und die Akteure sich auch noch um ihre Existenzgrundlage in Zeiten der Prekarisierung zu kümmern haben. Zudem fehlt oftmals die gesellschaftliche Anerkennung. Aus dem Elfenbeinturm eines Professors bzw. Beamtenpensionärs mögen „Selbstorganisierungsprozesse der Subalternen“ idyllisch anmuten, die schließlich den „Staatsapparat verändern“...Joachim Hirsch: „Kurzum: der Weg zur sozialen Emanzipation ist schwieriger und steiniger, als viele sich als revolutionär verstehende Vorstellungen das gesehen haben.“ 24
„Im Gegensatz zur historischen Arbeiterbewegung fehlt uns heute komplett die Erfahrung revolutionärer Praxis.“ 25
Hendrik Wallat empfindet das sogenannte Bilderverbot als durchaus ambivalent: „[...] einerseits ist es nicht möglich, eine zukünftige Freiheit aus dem Stande der Unfreiheit heraus zu entwerfen; die offene Zukunft autoritär zu schließen und ihre nicht endgültige bestimmbare Differenz zur Gegenwart negieren. Andererseits ist der-/diejenige, der/die die Wirklichkeit in Grund und Boden kritisiert, auch in einer Bringschuld. Wenn man sich das Elend und das Scheitern des real- existierenden Sozialismus anguckt, muss sich eine anti-kapitalistische Linke die Frage gefallen lassen, ob man mittlerweile was Besseres im Angebot hat. Hierzu reicht es eben nicht aus, immer nur darauf zu verweisen, wie es nicht gehen soll. Dies sind, wie ich finde, sehr wichtige, aber auch sehr schwierige Fragen, die allerdings nicht vom Schreibtisch aus zu beantworten sind. Es sind dies eigentlich Aufgaben einer kollektiven Praxis, die freilich theoretisch antizipierbar sind und diskutiert werden müssen- was ja Teil der Praxis wäre, auf deren revolutionäre Gestalt in einem gesamtgesellschaftlichen relevanten Maßstab ich jedoch nicht gerade wetten würde.“ 26
„Scholastische Debatten“
Das Buch liest sich sehr flüssig. Und es ist spannend. Allerdings ging mir zum Teil die „Prahlerei mit historischem Wissen“27 ziemlich auf die Nerven. Der Bildungskanon einiger männlicher, weißer Intellektueller wurde überdeutlich, ohne dass die eigene privilegierte Stellung reflektiert wurde. So kommen die weltweit Marginalisierten, reale soziale Kämpfe und weltweite Bewegungen in dem Buch zu wenig vor. Das ist schade, da der Interviewer Philippe Kellermann, der oftmals viel zu langatmig war, sich wundert, warum der Anarchismus so marginalisiert ist. Der Anarchismus war mal eine Bewegung, die in relevanten Bevölkerungsgruppen verwurzelt war, eine Bewegung, die das Leben war. Und nicht nur Theorie. Jochen Gester, der soziale Kämpfe führt, weiß da eine Antwort: „Die Geschichte zeigt aber auch, dass sich solche Chancen (Anm.: „Chancen für eine Renaissance libertären Gedankenguts“) verspielen lassen, z.B. durch scholastische Debatten, bei denen es weniger um die konkrete Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der dem Lohnsystem unterworfenen Menschen geht, als vielmehr um das Renomee und die Stellung der den Diskurs oder den Verband steuernden Intellektuellen.“. 28 Die linksintellektuellen Gegen- Eliten würden die Verhältnisse reproduzieren und sich „in ihrer intellektuellen Belesenheit und dem Verkünden abstrakter alternativer Lehrsätze“ genügen. 29
Gerhard Hanloser hat mit dem Gerede vom „organischen Intellektuellen“ Probleme: „Heutzutage dient diese Rede vom 'organischen Intellektuellen' nur noch dazu irgendwo als Organizer in der Gewerkschaft oder als Anhängsel der Partei „Die Linke“ Platz nehmen zu dürfen. […] Ich würde vorschlagen, jeden, der mit dem Gramscischen 'organischen Intellektuellen' um die Ecke kommt, schlicht nach dem Arbeitgeber zu fragen.“ 30
Die Rolle des Intellektuellen in einer zunehmend prekarisierten Gesellschaft ist allerdings ein anderes Thema. Und nichts gegen Intellektuelle, aber wie sagte Hannah Arendt: Intellektuelle müßten die „Zertrümmerer“ und „Einreißer“ sein. Ihr Fragen reißt alle vermeintlich sicheren Gedankengerüste wieder ein. Sie haben die Rolle des „Dagegen-Seins“ übernommen und halten damit den Prozeß des Nachdenkens in Gang.
Und warum spielt der Anarchismus keine Rolle?
Immer wieder fragt der Interviewer Philippe Kellermann nach, warum der Anarchismus keine Rolle spielen würde. Immer wieder verweist er auf anarchistische Theorie. Auch in dem Buch „ Begegnungen feindlicher Brüder“, dessen Herausgeber er ist, beklagt er diesen Zustand: „War in den 1960er Jahren der Anarchismus zumindestens- wenn auch oft nur als Schlagwort- in den Debatten präsent und damit auch eine gewisse Vorstellung der Geschichte der sozialistischen Bewegung, scheint unsere Gegenwart sich um diese Geschichte nicht mehr allzu viel zu kümmern. Vor dem Hintergrund, dass sich viele genuin anarchistische Vorstellungen in den gegenwärtigen Bewegungen recht großer Beliebtheit zu erfreuen scheinen, ist dies merkwürdig.“ 31
Hier ein Versuch einer Begründung, mit Zitaten von Gabriel Kuhn.
Gabriel Kuhn verweist dagegen in dem Buch „Vielfalt, Bewegung, Widerstand“ darauf, dass die anarchistische Bewegung international eine Stärke erreicht hat, „die ihr seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht mehr zugekommen ist.“ Allerdings sei diese Bewegung männlich, weiß und in der Mittelklasse der fortgeschrittenen Industrieländer verankert. Damit spiegele sie Machtverhältnisse wider, die sie zu bekämpfen beanspruche.
„Was die männliche und weiße Dominanz der Szene betrifft, so lässt sich auf aussagekräftige Quellen verweisen: etwa die Autorenverzeichnisse anarchistischer Anthologien oder die RednerInnenlisten anarchistischer Veranstaltungen; die Zusammensetzung anarchistischer Verlags- bzw. Zeitschriftenkollektive; die Personen, die innerhalb anarchistischer Projekte und Organisationen als besonders einflussreich gelten, usw. Persönliche Beobachtungen lassen sich hinzufügen: Ich habe im letzten Jahr rund 40 Veranstaltungen zu anarchistischen Themen im deutschsprachigen Raum gemacht. Der Prozentsatz von Männern, die zu den Veranstaltungen kamen, lag bei etwa 80%. Den Raum, den Männer in den Diskussionen einnahmen, bei 95%. Was die Teilnahme von Menschen mit Migrationshintergrund betrifft, so waren die Prozentsätze noch unausgewogener. In anderen Ländern sieht es, wie ich es aus eigener Erfahrung und auf der Basis von Gesprächen mit GenossInnen beurteilen kann, kaum anders aus. Die Klassenzugehörigkeit anarchistischer AktivistInnen ist aus verschiedenen Gründen weniger eindeutig, doch ist eine Dominanz des studentischen Mittelklassenmilieus evident.[...]
Viele Menschen, die in einem herrschaftsfreien Sinne politisch aktiv sind, nehmen nicht deshalb Abstand von der anarchistischen Szene, weil ihnen deren Prinzipien und Ideale nicht geheuer sind, sondern weil sie sich in ihr aus bestimmten Gründen nicht zuhause fühlen. Manche wollen sich nicht in Schubladen stecken lassen oder mit ideologischen Labels belasten. Dies scheint jedoch nicht der Hauptgrund zu sein. Vielmehr scheint es sich um sozio-kulturelle Differenzen zu handeln, die Distanz schaffen.“ 32, so Gabriel Kuhn.
Es ginge darum, die eigene soziale Position zu reflektieren und über den Tellerrand der eigenen Szene hinauszuschauen. Die Exklusivität und Uniformität der anarchistischen Szene müsse überwunden werden: „Das Publikum in anarchistischen Lokalen- Buchläden, Cafes etc.- ist in der Regel um vieles homogener als das in x- beliebigen Lokalen der Mehrheitsgesellschaft. Für eine Bewegung, die sich unter anderem über ihre angebliche Überwindung bürgerlicher Normierung definiert, ist dies kaum rühmlich- ganz abgesehen davon, dass es ein wesentlicher Grund dafür ist, warum sich der Eintritt in die anarchistische Gegenkultur für viele Uneingeweihte so schwierig gestaltet. Auch wenn wir es oft nicht wahrhaben wollen und solche Begrifflichkeiten energisch von uns weisen: es gibt in unserer Szene eine Menge Regeln zu lernen und eine Reihe von Codes zu verstehen. Viele fühlen sich davon abgeschreckt. Anderen ist der Lernprozess schlicht zu mühsam. Dass sich etliche Menschen auch auf einem persönlichen Niveau in der anarchistischen Szene nicht willkommen fühlen, hilft dabei kaum. [...]Die Bedeutung (auch die politische), die einer sozialen Atmosphäre zukommt, die einladend, warm und herzlich ist, darf nicht unterschätzt werden; zudem ist sie die einzige Atmosphäre, die unseren Ansprüchen an eine 'bessere Welt' gerecht werden kann.“33 Solange die Anarchisten sich in einem Ghetto bewegen, wird auch der Anarchismus hier bedeutungslos bleiben.
Gabriel Kuhn beschreibt aber noch einen Grund, den Konflikt zwischen klassischem und neuem (Lifestyle-) Anarchismus. Er ist für einen Kompromiss: „Klassische AnarchistInnen akzeptieren, dass die anarchistische Bewegung in den letzten Jahren wesentliche Änderungen durchgemacht hat; Änderungen, die notwendigerweise die Art, wie AnarchistInnen wahrgenommen werden, verändert haben, aber auch das Selbstbild vieler AnarchistInnen. Darüber hinaus akzeptieren klassische AnarchistInnen, dass niemand ein Monopol auf die 'richtige' Definition des Anarchismus hat und das unterschiedliche Auslegungen und historische Wandlungen der Bewegung nur Gutes tun können.“ 34
Meines Erachtens kommt man weder mit dem ökonomischen Reduktionismus der Sozialanarchisten (Hier geht es nur um Arbeitskämpfe...) oder der „reinen Lehre“ der anarchistischen Historiker- Freunde (Bakunin hat gesagt...) weiter. Aber auch nicht mit einem Lifestyle- Anarchismus, dem es nur um die individuelle Lebensgestaltung geht, und nicht um den Kampf gegen das System. Mit 30 ziehen sich die Lifestyle- Anarchisten dann in ihr Privatleben zurück.
Gabriel Kuhn: „Gleichzeitig zeigen Neue AnarchistInnen der anarchistischen Geschichte gegenüber Respekt und vermeiden, den Anarchismus zu einer bloßen Modeerscheinung verkommen zu lassen. Sie verpflichten sich dazu, die politischen Inhalte des Begriffs zu verteidigen und nicht allzu leichtfertig mit diesem umzugehen. […] Dies wäre nicht zuletzt auch das wirksame Mittel gegen die mediale und kommerzielle Sinnentleerung des Anarchismus, die heute manche fürchten“ 35
Und Gabriel Kuhn schließt: „Solange es uns gelingt, unsere Prinzipien, Ideale und Träume (wenn auch nur ansatzweise) zu leben, solange ist Anarchie Wirklichkeit.“ 36
Anne Seeck
Literatur des letzten Kapitels:
Philippe Kellermann (HG.): Begegnungen feindlicher Brüder, Unrast Münster Mai 2011
Gabriel Kuhn, Vielfalt, Bewegung, Widerstand, Unrast Münster August 2009
"Alpine Anarchist
Productions" Juli 2012
"Mehr höfliche Aufgeschlossenheit als leidenschaftliche Überzeugung" ?
Philippe Kellermann, einer der gegenwärtig fleißigsten, passioniertesten und kenntnisreichsten anarchistischen Autor_innen des deutschsprachigen Raumes hat nunmehr mit Anarchismus – Marxismus – Emanzipation. Gespräche über die Geschichte und Gegenwart der sozialistischen Bewegungen einen neuen Beitrag zur Aufarbeitung, Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung linker Debatte geleistet. In Gesprächen mit fünf sozialistischen Denker_innen geht er der alles entscheidenden Frage nach, wie der Kapitalismus bei aller vermeintlichen Aussichtslosigkeit doch noch zu überwinden sei. Die „Gespräche“ sind in diesem Fall freilich im Kontext moderner Kommunikationstechnologien zu verstehen. Wer sich lockere, bei einer Tasse Tee geführte Plaudereien erwartet, liegt fehl. Hier werden vielmehr wohlformulierte, detailgeschliffene und mit Fußnoten angereicherte Email-Korrespondenzen aufbereitet. Manche von Kellermanns Fragen haben die Länge halber Hausarbeiten. Die Antworten fallen oft entsprechend aus. Dies ist nicht unbedingt ein Problem, aber es kann helfen, darauf vorbereitet zu sein.
Wenden wir uns Kellermanns Gesprächspartner_innen zu.
Bini Adamczak, unter anderem bekannt als Autorin des ausgezeichneten Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft (2007), macht den Anfang und spricht vor allem über das Scheitern der Russischen Revolution. Sie gesteht Kellermann zu, dass in Gestern Morgen „die anarchistischen wie auch rätekommunistischen und anderen minoritären Strömungen [...] eine größere Rolle [hätten] spielen können und sollen“ (15), lässt sich jedoch von der Andeutung, dass das Scheitern der Russischen Revolution in der Marxschen Theorie selbst angelegt gewesen sei, nicht beeindrucken. Stattdessen stellt sie fest: „Aus einer bestimmten antikommunistischen Perspektive trägt Marx die Schuld am Stalinismus, aus einer bestimmten marxistischen Perspektive ist er gänzlich unschuldig daran.“ (37) Das Gespräch ist spannend, beinhaltet einen wichtigen Verweis auf den anarchistischen „Maskulinismus“ (ebd.) und plädiert schließlich dafür, die „Gegenüberstellung [von Marxismus und Anarchismus] zu dekonstruieren“ (41). Die These „Heute heißt Bakunin recht zu geben, Marxistin zu sein“ (ebd.) mag nicht unmittelbar einleuchten, ist jedoch umso anregender.
Als zweiter kommt Jochen Gester zu Wort, seit Jahrzehnten in gewerkschaftliche Arbeit involviert, ehemaliger Maoist, heutiger „libertärer Sozialist“ (46) und außerdem Mitbegründer des Berliner Verlags- und Druckereiprojekts Die Buchmacherei, in dem Anarchismus – Marxismus – Emanzipation erschienen ist. Gester diskutiert vor allem einen Dauerbrenner linker Debatte, nämlich die sogenannte Organisationsfrage. Überdies teilt er die Ansicht des Autors dieser Zeilen, dass das demonstrative Ignorieren der anarchistischen Geschichte seitens vieler Marxist_innen auf Unkenntnis beruht und „kein Schweigen wider besseren Wissens“ ist (46). Gester zufolge liegt dies in der „politischen Sozialisation des größten Teils der politischen Linken“ (ebd.) begründet. Er erachtet es als wenig sinnvoll, „den alten Richtungsstreit zwischen Marxismus und Anarchismus nach über 100 Jahren noch einmal neu aufzulegen“ (48), und appelliert stattdessen an eine „‚Gelassenheit‘ im Umgang miteinander“ (69). Letzteres wird mit der Hoffnung verbunden, dass „eine kritische Rezeption von Marx wie auch der anarchistischen KlassikerInnen die Möglichkeit eines großen gemeinsamen Terrains eröffnen könnte, von dem aus man gemeinsam den Weg aus den historischen Sackgassen heraus antreten könnte“ (59).
Gerhard Hanloser, Freiburger Sozialwissenschaftler, Autor und „Libertärer mit Interesse an Marx“ (91), demonstriert gewohnte Sattelfestigkeit in Sachen Kapitalismusanalyse („Die Produktivkraft der lebendigen Arbeit wird soweit gesteigert bis die Mittel dieser Steigerung das Verhältnis von Produktivkraftsteigerung und Mitteleinsatz ruinieren“, 81) und tauscht sich mit Kellermann unter anderem über Michael Seidmans Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38, Maurice Merleau-Pontys Humanismus und Terror und Michel Foucaults „anti-moderne Reflexe“ und „Irrationalismen“ (101) anlässlich der Iranischen Revolution von 1979 aus. Außerdem kommt er mehrfach auf die Bierproduktion im Kommunismus zu sprechen, was die Sensibilitäten eines Straight-Edge-Rezensenten zwar herausfordert, gleichzeitig aber nicht jeder Logik entbehrt: wenn es im Kommunismus schon Bier geben muss, ja, dann soll es zum Beweis kommunistischer Funktionsfähigkeit wohl auch schmecken. Der Anarchismus ist für Hanloser „generell dann noch von Interesse, wenn er sich für Kategorien wie Ausbeutung, Klassenkampf und soziale Bewegungen interessiert“ (75f); die größte Gefahr liege in der Ideologisierung. Dementsprechend wird gefordert, die „Werte und Normen des Anarchismus … ideologiekritisch, also historisierend auf die Gesellschaften zurück[zu]führen, in denen sie entstanden“ (77). Geschieht dies, so kann dem Anarchismus bei der Verfolgung des „alten Traums von der Emanzipation“ (104) nach wie vor eine wichtige Rolle zukommen.
Der emeritierte Politologe Joachim Hirsch, vielen als Verfechter eines „radikalen Reformismus“ vertraut, kontert auf Kellermanns Fragen nach dem Verhältnis von Marxismus und Anarchismus mit Verweisen darauf, dass er „mit dem Kampf und der gegenseitigen Abgrenzung der Schulen recht wenig am Hut“ habe (108) und „die Auseinandersetzungen zwischen MarxistInnen und AnarchistInnen nicht übermäßig interessant“ fände (117). Um den Anarchismus geht es in diesem Gespräch – das sich stark an Hirschs 2003 in der Zeitschrift Argument veröffentlichten Rezension von John Holloways Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen orientiert – nur peripher. Zentraler ist Hirschs Arbeitsschwerpunkt, die Analyse des Staates, wobei dieser für Hirsch „keine Einrichtung außer oder oberhalb der Gesellschaft ist, sondern ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses“ (123). Angesichts dieser (wohl unbeabsichtigten) Spezifizierung der Landauerschen These vom Staat als „Verhältnis“, als „Beziehung zwischen den Menschen“ bzw. als „Art, wie sich Menschen zueinander verhalten“ („Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk“, 1910), überrascht es nicht, dass auch Hirschs Abschlussworte als Aktualisierung der Überzeugungen Gustav Landauers gelesen werden können: „…der zentrale Ort emanzipativer Politik ist die Gesellschaft selbst: die konkrete Lebensweise, die alltäglichen sozialen Beziehungen, die Schaffung neuer Formen der Vergesellschaftung und der Politik“ (128).
Der Hannoveraner Geisteswissenschaftler Hendrik Wallat, dessen jüngstes Buch Staat oder Revolution. Probleme und Aspekte linker Bolschewismuskritik (2012) vor kurzem in der edition assemblage erschien, schließt den Band. Das Gespräch nimmt seinen Ausgangspunkt in Wallats Wertschätzung der frühen anarchistischen Kritik am Bolschewismus, in der Anarchist_innen seines Erachtens „so gar nicht dem (scheinbar bis heute verinnerlichten) marxistischen Klischee“ entsprechen (131). Wallat hält auch die Marxkritik vieler Anarchistinnen für „recht fair und gut begründet“ (134). Die Polemik in der historischen Auseinandersetzung schreibt er – zu Kellermanns unüberlesbarer Freude – vorwiegend der marxistischen Seite zu. Konsequenterweise versucht Wallat daher, sich „die anarchistische Tradition … ohne marxistische Polemik anzueignen“ (146). Dies gelingt überzeugend, selbst wenn sich das Gespräch letztlich vor allem auf Marx und marxistische Theorie konzentriert. Philosophisch geschulte Leser_innen – und solche, die sich von akademischer Rhetorik nicht abschrecken lassen – sollten an Wallats Ausführungen besonderen Gefallen finden.
Alle Gespräche folgen im Grunde demselben Muster: Kellermann zeigt sich verwundert über das Fehlen expliziter anarchistischer Referenzen in den Texten der Befragten bzw. in deren politischem Umfeld. Das Resultat sind Zugeständnisse an den Anarchismus, die mal verhaltener, mal nachdrücklicher formuliert werden, insgesamt jedoch oft den Eindruck hinterlassen, in erster Linie dem auf die Redlichkeit des Anarchismus pochenden Kellermann einen Gefallen zu tun. Stellenweise mimt Kellermann den Anarchismus als sprichwörtlichen „kleinen Bruder“, der marxistisch gelehrte Genoss_innen dazu bringen will, endlich seine eigentliche Überlegenheit anzuerkennen. Dass diese durchaus liebenswerte Geste Früchte trägt, sollte nicht überraschen – letztlich können ja fast alle irgendwas am Anarchismus gut finden. Wer will – vor allem innerhalb der Linken – schon gegen Herrschaftsfreiheit, soziale Gerechtigkeit und gegenseitige Hilfe Stellung beziehen? Der Knackpunkt ist in der Regel nicht die Idee, sondern das Realisierungspotential. In diesem Sinne erinnern auch viele der von Kellermanns Gesprächspartner_innen ausgedrückten Sympathien für den Anarchismus eher an höfliche Aufgeschlossenheit als an leidenschaftliche Überzeugung. Wenn Adamczak vom Anarchismus als „Maßstab der Kritik“ spricht (15), Hanloser Anarchist_innen dafür dankt, „uns die Revolte, den Aufstand, die Alternative als heute noch deutbares Zeichen [zu] überlassen“ (74), Hirsch betont, dass „vom Anarchismus … vor allem zu lernen [wäre], dass soziale Emanzipation nicht von Avantgarden, Parteien und Staaten ausgehen kann, sondern eine unmittelbare Angelegenheit der Menschen sein muss“ (126), oder Wallat dem Anarchismus „Hellsichtigkeit … in Bezug auf die Eigendynamik von Gewaltpraxis und Machtstrukturen“ zuschreibt (153), dann begegnet uns der Anarchismus eher als ehrbares ethisches Ideal denn als erfolgversprechende gesellschaftliche Alternative. Dies ist nicht als Vorwurf an die Interviewten zu verstehen. Schließlich sind Deutungen solcher Art naheliegend. Es ist die Aufgabe der Apologet_innen des Anarchismus, diesen als tatsächlich ernstzunehmende revolutionäre Bewegung zu beweisen bzw. mehr sein zu lassen als idealisierter historischer Referenzpunkt, moralisches Hoheitsgebiet oder identitär-subkultureller Rückzugsraum. Dass Kellermann sich mit seinen Publikationen genau darum bemüht, steht außer Frage. Allerdings würde etwas weniger Historizität vielleicht gut tun. Kellermanns Fragen in Anarchismus – Marxismus - Emanzipation rekurrieren immer wieder auf die Erste Internationale und den Konflikt zwischen Marx und Bakunin. Die von ihm ausgiebig angeführten anarchistischen Zitate wurden beinahe ausnahmslos zwischen 1870 und 1930 verfasst und stammen zum größten Teil von Michael Bakunin, Peter Kropotkin und Rudolf Rocker. Die Probleme, die sich aus einer solchen Zugangsweise ergeben, werden nicht zuletzt im abschließenden Gespräch des Buches deutlich, in dem Hendrik Wallat unwidersprochen eine Kritik am anarchistischen Staatsverständnis formulieren kann, die in ihren wesentlichen Punkten (naive Romantisierung eines herrschaftsfreien Naturzustandes und eine verkürzte Analyse des Staates als bloßes Herrschaftsinstrument) längst innerhalb des Anarchismus (bzw. „Postanarchismus“) selbst formuliert wurde. Den Anregungen, die wir aus historischen Auseinandersetzungen erfahren, tut dies freilich keinen Abbruch – nicht zuletzt deshalb, weil sich viele Diskussionen in Anarchismus – Marxismus – Emanzipation um zeitlose Fragen wie Organisierung, Widerstand und Revolution drehen. Das Buch ist allen an der Thematik Interessierten wärmstens zu empfehlen!
Gabriel Kuhn
(Juli 2012)
"Graswurzelrevolution" 372 - Oktober 2012
Konstruktiver Rundschlag
Philippe Kellermanns Gesprächsband über Marxismus und Anarchismus gibt Einblick in linke Denkwerkstätten heute, und in den Keller der Geschichte
Alle kriegen ihr Fett weg: Die Marxisten mit dem Hinweis des Staatstheoretikers Hirsch, "dass es unmöglich ist, die gesellschaftlichen Verhältnisse mittels des Staates grundlegend zu verändern." (S. 117) Die Anarchisten, denen der Politikwissenschaftler Wallat bescheinigt, ihre "Kritik von Staat und Herrschaft [sei] in vielerlei Hinsicht defizitär" (S. 146). Die radikale Linke, die der Gewerkschafter Gester mahnt: "Die Nützlichkeit von Theorien misst sich daran, ob sie diesen Prozess [sozialer Veränderung durch gemeinsames Handeln] fördern oder nicht." (S. 48) Und sogar der Herausgeber selbst: Dessen Veröffentlichungen attestiert Adamczak ein unausgewogenes "Geschlechterverhältnis" (S. 37).
Erfrischend streitfreudig und offen, doch keineswegs aggressiv oder rechthaberisch. So präsentieren sich Bini Adamczak, Jochen Gester, Gerhard Hanloser, Joachim Hirsch und Hendrik Wallat - allesamt studierte Leute - in den Unterhaltungen mit Philippe Kellermann. Dessen erklärtes Ziel ist es, gegenwärtiges Denken und Handeln mit Blick auf die Vergangenheit zu verorten und zu entwickeln.
Die gewählte Form, nicht eines Frage-Antwort-Spiels, sondern des Gesprächs, ist dafür genau die richtige. Zumal sie allen Beteiligten Gelegenheit gibt, schwungvoll verschiedenste Querverweise zu ziehen. So bieten sie einen Einblick in ihre Denkwerkstatt: die Fußnoten eine Fundgrube.
Kellermann nimmt die Nichtbeachtung anarchistischen Denkens im linken Diskurs beharrlich, fast schon penetrant zum Anlass, eben diese Denktradition ernsthaft auszubreiten und mit der marxistischen auf eine Stufe zu stellen. Dies ist aber durchaus fruchtbar. So kommen die Gegenüber immer wieder auf das Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit im Hier und Jetzt zu sprechen. Dies ist umso wichtiger angesichts eines verbreiteten "Revolutionsfetisch", also der "Verkehrung der Revolution von einem Mittel ... zu einem Zweck an sich selbst" (Adamczak, S. 21). Denn letztlich, da sind sich alle einig, gilt es, "gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verändern ... ein Prozess, der mit erheblichen Konflikten mit dem Staatsapparat, den Parteien und mit den bestehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen einhergeht" (Hirsch, S. 120).
Dieser Wandlungsdruck der Gegenwart betrifft indes auch anarchistische Vorstellungen, sei es das historische "Produktivitätsparadigma" (Hanloser, S. 88) oder den zeitgenössischen "Rechtsnihilismus" (Wallat, S. 157). Die Überwindung des Kapitalismus, so meint u. a. Gester, erfordert eine Bewegung, "die den Staat nicht ignoriert oder lediglich bekämpft, sondern ihn als politischen Raum begreift" (S. 61).
Das Büchlein bietet eine gewichtige, aber nicht allzu schwere Lektüre. Obwohl ihm stellenweise mehr Zurückhaltung beim akademischen Slang gut getan hätte.
Selbst wenn Einigen die Gegenüberstellung von Anarchismus und Marxismus als alter Hut erscheint, tragen diese Gespräche vielleicht doch dazu bei, die linksradikale "Identitätsbildung entlang historischer Bruchlinien" endlich zu überwinden, die Ralf Hoffrogge im November 2011 auf einer Diskussionsveranstaltung benannte. Und am Ende ist eines klar (Adamczak, S. 41): "Es lässt sich leider nie wieder so unschuldig von einer besseren Welt träumen wie im 19. Jahrhundert."
Andreas Förster
"analyse & kritik" 477 November 2012
Zwei große Familien
Unter den Büchern, die sich in der letzten Zeit mit der kommunistischen Geschichte jenseits von nostalgischen Avancen an den untergegangenen Nominalsozialismus beschäftigen, ragt der von Philippe Kellermann herausgegebene Band »Anarchismus, Marxismus, Emanzipation« heraus. Dort sind Gespräche des Herausgebers mit Menschen abgedruckt, die sich in den letzten Jahren mit der Rekonstruktion linker Geschichte und Gegenwart befasst haben. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, ob sich KommunistInnen und AnarchistInnen heute noch als feindliche »ideologische Familien« gegenüberstehen, »die sich niemals richtig verständigen konnten«, wie es Michel Foucault 1981 beschrieben hat, oder ob sich diese Frontstellung nach 1989 aufzulösen beginnt.
Kellermanns Methode, diese Fragen im Dialog mit unterschiedlichen GesprächspartnerInnen zu erörtern, ist reizvoll. Der Herausgeber hat sie nach dem Kriterium ausgewählt, dass sie sich Themen linker Geschichte und Gegenwart aus einem marxistischen Blickwinkel nähern. Doch ihre Herangehensweise ist denkbar unterschiedlich. Bini Adamczak ist als Herausgeberin zahlreicher Bücher über Geschichte und Aktualität des Kommunismus wohl am bekanntesten. Hendrik Wallat ist das Verdienst zuzuschreiben, mit dem in der Edition Assemblage herausgegebenen Buch »Staat oder Revolution« Texte zur lange verschollenen linken Bolschewismuskritik wieder zugänglich gemacht zu haben. Der Basisgewerkschaftler Jochen Gester, der nach seinen Erfahrungen mit dem KBW eine Abneigung gegen hierarchische Organisationen hat, sieht heute die Rolle linker Einzelpersonen und Initiativen in der Unterstützung von Menschen, die sich organisieren. »Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum undogmatische AnarchistInnen und kritische MarxistInnen dies nicht gleichermaßen überzeugend praktizieren können«, schreibt Gester.
Auch der emeritierte Politikwissenschaftler Joachim Hirsch lehnt es ab, sich im Koordinatensystem Anarchismus versus Marxismus zu verorten, betont aber, was für eine linke Bewegung vom Anarchismus zu lernen wäre: »... dass soziale Emanzipation nicht von Avantgarden, Parteien und Staaten ausgehen kann, sondern eine unmittelbare Angelegenheit der Menschen sein muss.«
Mit dem ak-Autor Gerhard Hanloser setzt sich Kellermann auch kritisch über Theorie und Praxis des Anarchismus auseinander. Ausgangspunkt ist das in anarchistischen Kreisen kontrovers diskutierte Buch »Gegen die Arbeit« von Michael Seidmann. Dieser bescheinigt den spanischen AnarchosyndikalistInnen, als AnhängerInnen einer produktivistischen Ideologie viele Gemeinsamkeiten mit den KommunistInnen gehabt zu haben. Hier bekundet Hanloser, er habe ein »Verständnis für die Situation der Arbeiteranarchisten, die ja meistens noch nicht voll von der Basis abgekoppelte Kader waren, entwickelt, ein Verständnis, das ich merkwürdigerweise keinem Industrialisierungsapostel des ML entgegenbringen würde«. Hier wären weitere kritische Nachfragen interessant gewesen. Denn die Probleme, vor denen diese ArbeiteranarchistInnen standen, sollte man den meisten KommunistInnen in der Sowjetunion und den anderen nominalsozialistischen Ländern zumindest in den Anfangsjahren auch zugestehen.
Hier wird ein Schwachpunkt des Buches deutlich. Kellermann wie seine GesprächspartnerInnen behandeln die Bolschewiki und die sich auf sie beziehenden KommunistInnen als TäterInnen, die sich rechtfertigen müssen, warum sie den hehren Thesen und Vorstellungen der TheoretikerInnen nicht gerecht geworden sind. Dass sie als handelnde Subjekte unter objektiven Bedingungen agierten, die sie sich nicht ausgesucht haben, wird dabei fast komplett ausgeblendet.
Hieraus ergeben sich in einigen Formulierungen auch totalismustheoretische Anklänge. Wenn Hendrik Wallat Kolyma, den Ort stalinistischer Verfolgung, neben Auschwitz stellen will, wird der Unterschied zwischen politischer Verfolgung und Massenvernichtung verwischt. Diese und viele andere in dem Buch aufgeworfene Probleme verdienen eine gründliche Debatte.
Peter Nowak
"Gaidao" Nr. 25 /2012
" ... nur weil mensch sich am Bart wahlweise Marx' oder Bakunins festklammert, ist mensch längst noch nicht auf der richtigen Seite."
Erneut serviert uns Phillippe Kellermann ein spannendes Buch. Wie mensch es inzwischen von ihm kennt, verfolgt er auch hier sein Programm: das Erforschen der widersprüchlichen und gar nicht so glorreichen Geschichte des Sozialismus, um überhaupt dessen Gegenwart zu verstehen, geschweige denn irgendwas über seine Zukunft aussagen zu können. Ja, stellt euch vor, ihr eventorientierte „Machmenschen“ und schwarz gekleidete Hippies, so verhält es sich nämlich (Der Herausgeber muss es ja wissen, gehört er doch zu einer richtig seltenen Spezies! – siehe Fußnote 24, S. 67). Angesichts des kolossalen Scheiterns aller emanzipatorischen sowohl marxistisch als auch anarchistisch inspirierten Groß- und Kleinprojekte im 20. Jahrhundert gerät jedeR, der/die heute von Freiheit und Selbstverwaltung redet, in eine ziemliche Erklärungsnot. Nicht nur vor den zu Ich-AGs degradierten Mitmenschen, sondern zuallererst vor sich selbst. Dieses Kellermann-Büchlein leistet einen Beitrag dazu – hm, wozu denn eigentlich? Eher zum Fragen und Immer-wieder-Nachfragen als zum Beantworten von Fragen und das ist gut so. Vorausgesetzt mensch bringt genug Kraft und Geduld auf, um Gelehrtenkonversationen zu horchen und sich durch unzählige Fußnoten durchzubeißen.
Im Unterschied zum Sammelband „Die Begegnungen feindlicher Brüder“ (Unrast, 2011) besteht das Büchlein aus Gesprächen mit verschiedenen Autor*innen, die sich mehr oder weniger explizit als marxistisch verstehen. An jedeN hängt sich Kellermann mit der Frage „Und was ist mit dem Anarchismus?“ und dann ufern die kritisch-solidarisch gemeinten Streitgespräche aus, wobei die jeweiligen Schwerpunkte oder für die Autor*innen interessanten Themen zur Sprache kommen. Ans Land gespült werden unzählige Literaturverweise für jedeN, der/die weiter selbstständig den angesprochenen Sachverhalten nachgehen möchte.
So spricht Bini Adamczak vom Erbe der Oktoberrevolution, von der Revolution als einem Ensemble von Missverständnissen und wiederholt somit Landauers These, dass der revolutionäre Prozess jeder Theorie nur eins ist und bleiben wird: eine Black Box. Die Geschichte „der Linken“ (Differenzen zwischen unterschiedlichen Strömungen hin oder her, ein schwammiger und nicht wirklich was aussagender Begriff; jedeR weiß, was das ist, und niemand weiß es so genau) wird sich in ihrer Ganzheit nur am Ende der Geschichte offenbaren (offensichtlich sind wir noch nicht so weit), plädiert jedoch Adamczak für eine Dekonstruktion der historisch längst überholten Rollen „Marxismus“ und „Anarchismus“.
Jochen Gester betrachtet die „linke“ Geschichte wesentlich pragmatischer, stellt Fragen nach einer angemessenen Organisationsform der emanzipatorischen Bewegung, der es gelingen würde, der schädlichen Staatsgläubigkeit der „Linken“ zu entgehen. Die Frage nämlich, die sich der Anarchismus seit jeher gestellt hat – nicht, dass er sie auch überzeugend beantwortet hätte: Selbstorganisation und direkte Demokratie sind bekanntlich nicht besonders spaßige, sondern nervtötende und kraftraubende Unterfangen. Die von Gester angedeuteten Lösungen muten merkwürdig an: eine repräsentative Organisation, die ihren Mitgliedern die Last der Selbstorganisation wenigstens zum Teil abnimmt und das staatliche Terrain in Poulantzas´ Sinne als ein vermeintlich neutrales „Kräfteparallelogramm“ versteht, nur um nach gescheiterten Kämpfen um Verrechtlichung den Massen den Unfug der Staatsgläubigkeit zu demonstrieren. (S. 61) Ist das eine poulantzische Einladung, nun auf eine anarchistische Weise den Weg der SPD, der Grünen, der Linken und der Piraten einzuschlagen? Oh...
Gerhardt Hanloser, „ein Libertärer mit Interesse an Marx“ (S. 91), erklärt den klassischen Anarchismus sowie den (Arbeiterbewegungs-)Marxismus zur Ideologie, die im 19. Jahrhundert gereift und seitdem verknöchert ist. Nun, was z. B. auf dem Gebiet der Theorie im russischsprachigen Anarchismus nach Oktoberrevolution und nach Kropotkin geschehen ist, das weiß leider auch in Russland kaum jemand, die von Marx beeinflussten emanzipatorischen Strömungen sind immer noch marginal, die Diagnose stimmt so weit. Die Bestimmungen des Kommunismus nach Marx (S. 91f.) wenden sich dann nicht nur gegen die romantischen Landkommune-Anarchist*innen, sondern auch gegen die so genannten Marxist*innen. Um das zu wissen, müsste mensch eben Marx kennen (lernen), statt in periodischen Abständen den neo-proudhonistischen Unfug zu bejubeln. Interessantes äußert er auch zum umstrittenen Buch „Gegen die Arbeit“ von Michael Seidman: Könnten sich die Herrschaften von syndikalismus.tk vorstellen, dass ausgerechnet ein „Marxist“ die Vorwürfe des Arbeitsfetischismus gegen die CNT zu entkräften versucht?
Der bekannte Politologe Joachim Hirsch attestiert der anarchistischen Staatskritik einen schweren Mangel an Aktualität. Was zwar nichts Neues sein dürfte: eine unpersönliche Herrschaft der Verwertungslogik lässt sich nicht einmal mehr als Herrschaft der bösen Banker*innen und Kapitalist*innen beschreiben. Hier wird das theoretische Erbe des Anarchismus ihm selbst zur Last. Ähnlich wie Gester formuliert Hirsch einen „radikalen Reformismus“, der evolutionär die Gesellschaft transformiert, was auch auf den Staatsapparat abfärbt. Aber ohne den Wert kleiner freiheitlicher Veränderungen zu schmälern: wie lassen sich Staat und Kapital wegreformieren?
Beim Gespräch mit Hendrik Wallat erreicht die akademische Sprache in diesem Band ihren Höhepunkt. Ungenießbar wird es trotzdem nicht. Er spricht über die inneren Widersprüche des Wissens, über das unversöhnliche Verhältnis zwischen Praxis und Theorie, das Verweigern von Utopien und den Wert alternativer Lebensentwürfe, kritisiert wieder reichlich an der anarchistischen Staatskritik rum und leitet aus der Moralphilosophie Adornos die politische Philosophie der Emanzipation ab.
Auch wenn mensch sich beim Lesen über große Abschnitte vorkommt, als würde mensch einem theoretischen Pimmelvergleich unter Gelehrten beiwohnen, hat mensch was davon. Nämlich Fragen über Fragen, denn klar und deutlich wird nur eins: nur weil mensch sich am Bart wahlweise Marx' oder Bakunins festklammert, ist mensch längst noch nicht auf der richtigen Seite.
Übergens, inzwischen darf mensch sich auf den zweiten Band der „Begegnungen feindlicher Brüder“ freuen.
ndejra