"CONTRASTE" Nr. 331 / 2012

"Ich weiß mehr über die Kooperative und habe mehr Fragen"

Endlich ist es da – das Buch über die legendäre, seit 45 Jahren bestehende Kooperative Cecosesola in Venezuela. Ein Dach über Hunderten von kleineren und größeren Kooperativen mit Tausenden Mitgliedern, die Zigtausende Menschen vor allem mit Gemüse und Gesundheitsleistungen versorgen.

Im November 2006 waren zwei Kooperativistas in Berlin beim Kongress Solidarische Ökonomie. In der vorigen CONTRASTE Nr. 330 (März 2012) hatten wir bereits einen Auszug aus dem Vorwort des Buches und die Kurzbeschreibung „Cecosesola in Zahlen“ abgedruckt. Das Buch ist eine Zusammenstellung von Texten aus drei Büchern der Kooperativistas, ergänzt durch die überarbeitete Fassung des CONTRASTE-Beitrags „Gemeinsam können wir es schaffen“ (Nr. 300 im September 2009) des Cecosesola-Mitglieds Jorge Rath zur Eröffnung des genossenschaftlichen Gesundheitszentrums. Auf zwei Seiten ist in einem „Bericht einer Gruppe von Frauen aus den Kooperativen“ beschrieben, wie tradierte Geschlechterrollen in der alltäglichen Zusammenarbeit überwunden werden. Alix Arnold hat das Buch übersetzt und beschreibt auf der Basis von Interviews, die sie in Cecosesola geführt hat, die Bedingungen für die Kooperative im venezolanischen 'Sozialismus des 21. Jahrhunderts'“, und John Holloway, der zweimal in Cecosesola war, hat ein Nachwort beigesteuert.

Im ersten Teil des Buches werden anschaulich „Die ersten zwanzig Jahre“ der Kooperative beschrieben, die als kooperativer Dachverband zur Gründung eines Bestattungsunternehmens begann, dann mit einem Busunternehmen erst expandierte, kurz darauf jedoch nach vielen Angriffen scheiterte. Aus diesem Scheitern ging Cecosesola zwar mit erheblichen finanziellen Schulden, aber einem enormen Zuwachs an Solidarität und dem Erproben ungewohnt neuer
Organisationsformen hervor. Die Wochenmärkte boten einen Ausweg aus der verfahrenenökonomischen Situation.

Es folgt eine Reflektion der emotionalen und kulturellen Hintergründe, die eine solidarische Zusammenarbeit oft erschweren. In ihrer Analyse beziehen sich die Kooperativistas auf den chilenischen Biologen und Kybernetiker Humberto Maturana, den sie u.a. zitieren mit: „Unsere Wünsche und Vorlieben bestimmen in jedem gegebenen Moment das, was wir tun, nicht die Verfügbarkeit von Naturschätzen oder die ökonomischen Möglichkeiten, die als Merkmale der Welt maßgebend zu sein scheinen.“ (Seite 65) Im Mittelpunkt steht also der Mensch in seiner Subjektivität, nicht seine (scheinbar) objektiven Möglichkeiten. Daraus leitet sich der Fokus auf die Beziehungen der Subjekte untereinander und auf ihre Emotionalität ab.

Kulturelle Muster, die als typisch venezolanische „Tropenversion der westlichen Kultur“ gelten, werden dargestellt. Es entsteht der Eindruck, dass Cecosesola keine Kooperative einer politisch besonders bewussten Elite oder einer bestimmten Bevölkerungsschicht ist. Das beschriebene „wir“ scheint alle VenezolanerInnen zu meinen, unabhängig von ihrer sozialen Situation, wie z.B. die „venezolanische Bauernschläue“, das Trachten nach dem eigenen Vorteil und die Beschränkung solidarischen Verhaltens auf den engsten Familien- und Freundeskreis. Dem wird der Versuch entgegen gesetzt, im kooperativen Alltag gegenseitigen Respekt, Vertrauen und umfassende Solidarität zu entwickeln. Es geht jedoch weniger darum, formal solidarische Strukturen aufzubauen, sondern vielmehr um die Frage: „Wie könnte eine emotionale Grundlage entwickelt werden, die der partizipativen Demokratie förderlich ist und ihr entspricht?“ (Seite 75).

Unter der Überschrift „Auf dem Weg zur Harmonie“ wird beschrieben, wie versucht wird, diese Frage im Alltag zu beantworten. Die Kooperativistas versuchen sich aus kapitalistisch geprägten Denk- und Handlungsmustern zu befreien und verstehen ihr Projekt als im Werden und in ständigem Wandel begriffen. Fast alle Arbeiten werden rotierend von allen erledigt, die finanziellen Beziehungen werden nach Bedarf und unter der Voraussetzung größtmöglicher Eigenverantwortung jeder einzelnen Person geregelt. Wichtig sind vor allem die vielen Versammlungen und Gespräche.

Dabei bildet sich nach und nach ein gemeinsames Bewusstsein heraus, so dass für eine
Konsensfindung oft gar keine Abstimmung mehr vorgenommen wird. Es kann sogar „eine einzelne Person eine Konsensentscheidung treffen“ (Seite 86), verantwortungsbewusst und anhand gemeinsam entwickelter Kriterien. Was erstmal irritiert, erschließt sich vielleicht aus einer Erfahrung, die wir eher von esoterischen Gruppen erwarten würden: „Manchmal brauchen wir nicht einmal mehr darüber zu reden, um zu wissen, was wir alle denken. Telepathie wird greifbar. Sollten wir tatsächlich ein kollektives Denken entwickeln können, eine Art 'kollektives Gehirn', wenn wir gegenüber den anderen Respekt entwickeln und die Angst verlieren?“ (Seite 97) Das Kapitel „Auf dem Weg zu einem kollektiven Gehirn?“ beschreibt dann nochmal genauer, wie aus „formalen Versammlungen … Orte der Begegnung“ werden. Es gibt keine hierarchischen Strukturen, alle GeschäftsführerInnen, AbteilungsleiterInnen etc. wurden abgeschafft. Die Kooperativistas treffen sich sehr häufig und in verschiedensten Konstellationen, nicht in erster Linie um sachliche Fragen zu diskutieren oder Entscheidungen zu treffen, sondern vor allem, um sich über über ihre Sichtweisen und Empfindungen auszutauschen. Jede und jeder kann fast jederzeit an einer Versammlung teilnehmen. Diese Versammlungen sind auch offen für Außenstehende, es gibt keine Leitung oder Moderation. Die Diskussionen verlaufen oft eher informell und sprunghaft. Die Entwicklung solidarischer Beziehungen untereinander und mit den Menschen im Umfeld steht an erster Stelle. Gelingende menschliche Beziehungen bringen nach den Erfahrungen von Cecosesola nicht nur mehr Lebensfreude, sondern auch wirtschaftlichen Erfolg.

Die namenlosen AutorInnen betonen, dass Cecosesola kein Modell ist, und dass jede Gruppe ihren eigenen Weg finden muss. Sie bieten nichts an, was mit strukturierten und vordefinierten Methoden der Gruppenbildung wie zum Beispiel Community Organizing oder Transition Towns vergleichbar wäre. Sie wenden anscheinend auch keine Kommunikationsmethoden wie zum Beispiel Themenzentrierte Interaktion (TZI) oder Gewaltfreie Kommunikation (GFK) an. Stattdessen beschreiben sie ihre Gruppenprozesse von einer viel grundsätzlicheren Basis her.

Vieles erinnert an fundamentalistische Ansätze alternativer Ökonomien der 1970er/80er Jahre: Der Bedarfslohn, die Rotation, die Ablehnung jeder Leitungs- oder auch nur   Koordinierungsfunktion und Diskussionen ohne Ende. Auch dass – mit den o.g. Ausnahmen – keine Namen von AutorInnen genannt sind, erinnert an den subversiven Charme alter Zeiten. Allzu oft wurde damals jedoch die Erfahrung gemacht, dass unter der ungeregelten Oberfläche gesellschaftliche Dominanzen als informelle Hierarchien umso wirksamer wurden, je stärker sie tabuisiert waren.

Ich möchte mir nicht anmaßen, nachdem ich das Buch gelesen habe, eine realistische  Einschätzung des Projekts Cecosesola abgeben zu können. Aber ich habe den Eindruck, dass sich dort trotz einiger Ähnlichkeiten zu früheren selbstverwalteten Betrieben und Projekten möglicherweise eine andere Dynamik entwickelt hat. Zum einen ist das Projekt allein von der Größe her kaum vergleichbar. Zum anderen scheint mir der Ansatz, den Organisierungsprozess nicht ausgehend von ideologischen Ansprüchen zu gestalten, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen, ein deutlich anderer. Aber wie passiert das genau? Wurden konkrete Methoden entwickelt, mithilfe derer die gemeinsamen Prinzipien umgesetzt und Erfahrungen innerhalb der komplexen kooperativen Strukturen vermittelt werden?

Und wieviel Raum bleibt bei solcher Einigkeit und angesichts dieser Intensität eines Wir für
dissidente Auffassungen und Empfindungen? Werden abweichende Meinungen wirklich offensiv eingeladen, willkommen geheißen und als Bereicherung erlebt? Wie wird Vorsorge getroffen, dass dieses Wir – vor allem bei einem unausgesprochenen Konsens – nicht in eine repressive Atmosphäre umkippt, in der einige Wenige sagen wo es lang geht, und alle anderen sich dem schweigend unterordnen?

Wie gehen die Kooperativistas damit um, dass die Fähigkeiten, sich in Versammlungen zu äußern und andere von der eigenen Position überzeugen zu können, unterschiedlich verteilt sind? Welche Rolle spielen Sympathien und Freundschaften bzw. Konflikte im sozialen Miteinander? Und wie funktioniert die Horizontalität in der Praxis, insbesondere gegenüber Außenstehenden oder in politischen Netzwerken? Wenn es keine Repräsentation durch einzelne Personen gibt – welche Alternativen haben die Kooperativistas entwickelt?

Nach dem Wenigen, was ich bisher von Cecosesola wusste, hatte ich viele Fragen. Beim Lesen war ich hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach einem Zusammenhang, der über eine sachliche Zusammenarbeit hinaus die ganze Person fordert, und dem Gruseln vor so viel Enge.
Nachdem ich das Buch gelesen habe, weiß ich mehr über die Kooperative und habe noch mehr Fragen. Darum freue ich mich sehr auf die Lesereise der Kooperativistas und bin gespannt auf ihre Antworten und den Austausch mit ihnen.

Übrigens scheint es nur ein Gerücht zu sein, dass Cecosesola von Tupamaros gegründet wurde. Im Buch findet sich kein Hinweis darauf, und meine Nachfrage ergab: „Ich habe heute vorsichtshalber nochmal nachgefragt hier bei uns - vor allem Compañeros und Compañeras, die schon von Anfang an dabei sind - ob an der Tupamaro-Geschichte etwas dran ist. Zum Leidwesen von möglichen Tupamaro-Sympathisanten muss ich jedoch feststellen, dass eine solche Verbindung nie bestanden hat, geschweige denn in der Gründung von Cecosesola eine Rolle gespielt hat.“ (Mail von Jorge Rath vom 01.03.2012).

Der Übersetzerin und den HerausgeberInnen dieses Buches gebührt ein großes Dankeschön dafür, dass sie die teilweise doch eher ungewöhnlichen Herangehensweisen und Erfahrungen aus Cecosesola einem deutschsprachigen LeserInnenkreis erschlossen haben.

Elisabeth Voß, Berlin

 

"ila 354 / 2012

 Gelebte solidarische Utopie

Neues Buch über einen Kooperativenverbund in Venezuela

Cecosesola hat unseren Begriff vom Machbaren verändert“, so die HerausgeberInnen im Vorwort zum Buch über den bemerkenswerten Kooperativenverbund in der Millionenstadt Barquisimeto im Westen Venezuelas. Einzigartig an Cecosesola (Central Cooperativa de Servicios Sociales Lara), dem „Dachverband für soziale Dienstleistungen“ ist, dass er sich politisch neutral im heutigen Venezuela versteht. In der jüngsten Vergangenheit ließ sich der Kooperativenverbund weder von Hugo Chávez’ Projekt des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ vereinnahmen, noch unterstützte er die Opposition. Die MitarbeiterInnen von Cecosesola wollen ein solidarisches Leben in Barquisimeto aufbauen. Das jüngst erschienene Buch „Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative“ beschreibt die Geschichte und Struktur dieses Kooperativenverbunds. Im Zuge der Kooperativenbewegung der 60er-Jahre wurde Cecosesola 1967 gegründet. Inwiefern nach 45 Jahren von einem erfolgreichen Beispiel für Basisdemokratie und ökonomische Selbstverwaltung gesprochen werden kann, lässt sich allein an der Anzahl der Unterorganisationen ablesen. Bis zum heutigen Tag arbeiten 85 verschiedene basisdemokratische Kooperativen und Vereine im Dachverband der Cecosesola.

Die kritische Auseinandersetzung mit der westlich-kapitalistischen Kultur nimmt bei Cecosesola eine zentrale Funktion ein. Diese Kultur wird in den Augen der Cooperativistas als eine „der Macht und der Herrschaft“ entlarvt. In Venezuela habe sich über Jahrhunderte eine Mentalität entwickelt, mit der die Menschen in jeder Lebenslage versuchen, für sich als Individuum ihren eigenen Vorteil zu erlangen. Diese allgegenwärtige Kultur des Egoismus versucht Cecosesola zu verlassen und Auswege aufzuzeigen. Zwischenmenschli­che Beziehungen, wie z.B. Gleichberechtigung und das Miteinander im täglichen Produktionsprozess, stehen in einem absoluten Kontrast zur materialistischen Welt außerhalb der Kooperative. Gleichberechtigte Kommunikation und der Abbau von Hierarchien schaffen ein Klima des harmonischen, einheitlichen Miteinanders in der Organisation. Entscheidun­gen werden in Versammlungen im Konsens getroffen. So fanden im letzten Jahr insgesamt 3000 wöchentliche Treffen der einzelnen Kooperativen und Projekte innerhalb des Dachverbandes statt. Groß- und Kleinprojekte werden in diesen ständigen Versammlungen beschlossen. Heute hat Cecosesola 1200 angestellte Mitarbei­terInnen. Innerhalb des Verbunds werden die einzelnen Aufgaben der MitarbeiterInnen im Rotationsprinzip verteilt. Die Löhne sind einheit­lich, eineN ChefIn gibt es nicht.
Das erste Projekt der Cooperativistas war kurz nach der Gründung ein Beerdigungsinstitut. Dies war nötig, da es Ende der 60er-Jahre für viele Menschen in Barquisimeto unerschwinglich war, ihren verstorbenen Angehörigen ein würdevolles Begräbnis zu ermöglichen. Mittlerweile sind ca. 17 000 Familien Mitglied in diesem Projekt, das zusätzlich mit einer Sterbeversicherung verbunden ist. Damit ist es das größte Bestattungsunternehmen im Westen Venezuelas. In der breiten Öffentlichkeit machte sich Cecosesola erstmals im Jahre 1974 einen Namen. Da die privaten Transportunternehmen von Barquisimeto Druck machten, die staatlich regulierten Fahrpreise zu erhöhen, gründeten die Cooperativistas nach einer kurzen Phase des Protestes ihre eigene Busli­nie SCT (Servicio Cooperativo de Transporte). Mit Hilfe von Krediten konnten 128 Busse für die SCT gekauft werden, die mit ihren niedrigen Ticketpreisen den privaten Unternehmen Konkurrenz machte. Aber auch mit den Behörden kam es zu einem Konflikt, der im Jahre 1980 in einer Enteignung sämtlicher Busse der SCT gipfelte. Nach einer Entscheidung des Innenministers bekam Cecosesola nach einigen Monaten die Busse zurück. Doch weil zwei Drittel der ehemals fahrtüchtigen Busse demoliert worden waren, musste die SCT ihren Betrieb einstellen. Dem gesamten Kooperativenprojekt der Cecosesola drohte damit das finanzielle Aus.

Etwa zur selben Zeit schuf sich Cecosesola ein weiteres finanzielles Standbein mit karitativem Hintergrund: drei Gemüsemärkte in den einkommensschwächsten Vierteln von Barquisimeto. Hier werden Obst und Gemüse zum Kilo-Einheitspreis verkauft, und auch andere Lebensmittel (wie Brot, Vollkornnudeln, Getreideflocken, Tomatensauce, Kräuter, Gewürze, Honig). Diese Märkte fanden schnell Anklang, so dass die inzwischen ausgedienten Stadtbusse zu mobilen Gemüsemärkten umfunktioniert wurden, die weitere Stadtteile mit Lebensmitteln beliefern. Mitte 1986 wurden bereits 30 Stadtteile und drei feste Wochenmärkte von den Cecosesola-Agrarkooperativen mit Nahrungsmitteln versorgt. Zurzeit werden auf den selbstorganisierten Märkten wöchentlich rund 450 Tonnen Obst und Gemüse verkauft. Laut Selbstbeschreibung versorgen sich hier rund 55 000 Familien – etwa ein Viertel der Bevölkerung von Barquisimeto. Durch den neugewonnenen finanziellen Spielraum konnten in den folgenden Jahren Projekte wie z.B. ein integrales Gesundheitszentrum oder eine Kooperative für Kreditvergabe gegründet werden.

Welchen Weg Cecososela in Zukunft einschlagen wird, ist durchaus noch offen. Die Zukunftsprojekte werden an die Bedürfnisse in der Stadt und der Region angepasst. „Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela“ ist ein sehr informatives Buch über den in Deutschland sicherlich unbekannten Kooperativenverbund Cecosesola. Empfehlenswert für alle, die sich vertieft über die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in Venezuela informieren wollen.

Niels Wiese
 

Trend-online 5/6 2012

 Der lange weg zur "harmonie"

ein Buch zum Kooperativenverbund Cecosesola in Venezuela

Cecosesola

Die Kooperativistas betreiben große Gemüsemärkte, produzieren Lebensmittel und bieten Gesundheitsversorgung und andere Dienstleistungen an. Die Organisation hat 20 000 Mitglieder und 1200 Beschäftigte, die einen jährlichen Umsatz von 100 Millionen US- Dollar machen.
Das Buch „Auf dem Weg“ von der Buchmacherei
Sehr ausführlich wird zunächst über die ersten zwanzig Jahre berichtet, vor allem über eine gemeinnützige Transportkooperative, die es mit reichlich Gegenwind zu tun hatte und schließlich scheiterte. folgt eine Reflexion der emotionalen und kulturellen Hintergründe, die eine solidarische Zusammenarbeit oft erschweren. Kulturelle Muster, die als typisch venezolanische »Tropenversion der westlichen Kultur« gelten, werden dargestellt. Im Abschnitt „Auf dem Weg zur Harmonie“ beschreiben sie die Veränderung der Beziehungen untereinander. Dabei sprechen sie sich für ein kollektives Handeln aus, dass die individuelle Entwicklung befördert. Kapitel »Auf dem Weg zu einem kollektiven Gehirn?« beschreibt dann nochmal genauer, wie aus »formalen Versammlungen Orte der Begegnung« werden, in denen es keine hierarchischen Strukturen gibt. Das Buch schließt mit einem Bericht über ein Gesundheitszentrum, die Bedingungen im „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und einem Nachwort von John Holloway.

Die Geschichte

1967 ging die Initiative von Priestern aus und begann mit viel Enthusiasmus, aber bereits 1974 legte sich die Begeisterung. Die Kooperativen hatten sich der traditionellen vertikalen Struktur angepasst, mit einer klaren Hierarchie. Zunächst kam mit einer neuen Geschäftsleitung ein Veränderungsprozeß.
Entscheidend waren dann aber Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen. „In nur einem Jahr hatte Cecesesola seine bürokratische Phase hinter sich gelassen, war auf die Straße gegangen und hatte sich einer sozialen Bewegung angeschlossen.“ 1 Als sich ihre Mobilisierungsfähigkeit mit der Zeit verbrauchte, gründeten sie selbst eine gemeinnützige Transportkooperative und kauften von einem Kredit 92 Busse.
Der Gegenwind war stark. Für die Kulturgruppen war das zu reformistisch, für eine Oppositionsgruppe, die einen reinen Wirtschaftsbetrieb wollte, zu gemeinnützig. Gegenwind kam zudem von Parteiaktivisten, die Einfluß gewinnen wollten, von den Medien und von der Transport- Innung und einem Transport- Syndikat, die eine Erhöhung der Fahrpreise wollten. Ende 1977 ging die Kooperative in Caracas auf die Straße, um für eine Erhöhung des Kredites und eine Subventionierung des Fahrpreises zu demonstrieren. 1978 bekamen sie einen Kredit und kauften weitere 35 Busse. Auch der Zuschuss wurde schließlich vom Stadtrat bewilligt.
„Das hatte es in Venezuelas Demokratie noch nicht gegeben: Dass eine Basisorganisation, die von keiner politischen Partei kontrolliert wird, einen Stadtrat, der in der Hand der beiden großen Parteien war, dermaßen vorführt. So etwas war für die meisten Politiker nicht hinnehmbar- egal, welcher Partei sie angehörten. Der SCT (Anm. die Transportkooperative)musste gestoppt werden; darin waren sie sich einig[...]Ende 1979 nahmen die Versuche zu, Cecosesola zu isolieren. Die Pressekampagne wurde verstärkt und die Parteien machten in den Stadtteilen Propaganda gegen uns angebliche Linksextremisten.“ 2
Am 19. März 1980 führte die Kooperative eine Umsonstfahr- Aktion durch. Das hatte es noch nicht gegeben, ein Transportunternehmen organisierte ein kostenloses System auf freiwilliger Basis. Die Nutzer waren begeistert. Die Polizei nicht, sie stürmte das Betriebsgelände, verhaftete einige Arbeiter und beschlagnahmte die Busse. Paar Tage später kamen Rechnungsprüfer in die Kooperative. Jetzt begann der Exodus, 17 Kooperativen verließen den Verbund. Nach einem Marsch auf Caracas, einem Richterspruch und 140 Tagen konnten sie wieder ihr Betriebsgelände betreten. Von 127 Bussen waren nur noch 32 fahrtüchtig. Hier war mutwilliger Vandalismus am Werk gewesen.
Schließlich bauten sie Wochenmärkte und einen Gemüsehandel auf. Busse wurden zu mobilen Gemüsemärkten umgebaut. 1985 beschlossen sie die endgültige Schließung des Transportunternehmens. „Wir hatten eine Aktivität entdeckt, mit der wir von politischen Entscheidungen unabhängiger waren.“ 3 Märkte, mit denen sie zudem erfolgreich waren.

Ein Plädoyer für Arbeitsdisziplin?

Bei der Arbeit geht es um die lohnmäßige Entschädigung für diese Stunden und die Eingrenzung von Arbeitszeit und -intensität. „[...]wenn wir aus den Abhängigkeitsverhältnissen aufbrechen, merken wir, dass Arbeit und Lohn ihren ursprünglichen Charakter verlieren. Dabei entsteht eine wirtschaftliche Produktivität, die nicht nur höher ist, sondern auch einen anderen Inhalt bekommt.“ 4 Arbeit wird immer weniger Arbeit. Der Begriff der westlichen Arbeitskultur könnte eine Art Zwangsjacke werden. Andererseits wurden von Mitte bis Ende der 1990er Jahre auf jedem Markt ein Komitee für Arbeitsdisziplin gegründet. Durch die Rotation ist es möglich, in allen Bereichen zu arbeiten. Die Preise werden gemeinsam festgelegt. Sie richten sich nicht nach dem Gesetzen des Marktes. Die Kooperativen haben ein eigenes System solidarischer Finanzierung entwickelt, mit einem Generalfonds und lokalen Fonds.

Ein Plädoyer gegen erstickenden Kollektivismus und für Individualität

Für Cecosesola sind Individualität und Kreativität sehr wichtig. Die Beteiligten entwickeln eine globale ganzheitliche Sicht auf das Leben. Sie zeigen sich in Alltagssituationen konkret verantwortlich. Mit den Veränderungen wird auch das Verhalten vielschichtiger. Sie wollen keine erstickende Welt des Kollektivismus, sondern ein kollektives Handeln, dass die individuelle Entwicklung vorantreibt. Ergebnis dieses Transformationsprozesses ist eine offene und flexible Organisation in ständiger Bewegung. In der das Vertrauen zunimmt und sich die Beziehungen zu den anderen verändern. Damit wird ein Gefühl der Zugehörigkeit erreicht. Ziel ist die persönliche Veränderung und die Entwicklung all unserer Möglichkeiten im Rahmen kollektiven Handelns.

Ein Plädoyer gegen das Plündern im chaotischen venezolanischen Alltag

Es ginge vor allem darum, die kulturelle Prägung zu überwinden, jede Gelegenheit für den persönlichen Vorteil auszunutzen. Zudem ende der vielbeschworene egalitäre Zug der Venezolaner in Gleichmacherei. Solidarität verkomme zu einem komplizenhaften Ausnutzen der Situation. In Venezuela würden die Sammlerkultur und die westliche Kultur aufeinandertreffen. Es sei eine tropische Variante der westlichen Kultur. In der Sammlerkultur würden keine Anstrengungen zur Produktion von Lebensmitteln unternommen. „Das Wirtschaftssystem Kapitalismus erzeugt in uns eine erschreckende Fähigkeit zum Plündern[...]Manche rechtfertigen dieses Handeln mit unserer Armut. Das Plündern ist aber in größerem oder geringerem Maße in allen sozialen Schichten zu beobachten. Manchmal sieht es so aus, als sei unser Bedürfnis nach unmittelbarer Aneignung unersättlich.“5 Im venezolanischen Alltag befällt viele das Gefühl der Gesetzlosigkeit und/ oder Chaos.

Das Besondere I: Die Struktur ist nichts Statistisches, sondern ein fließender und flexibler Prozess.

In dem Dachverband gibt es weder Direktoren noch Hierarchien. Es finden jährlich 300 gemeinsame Treffen statt - neben den wöchentlichen Treffen der einzelnen Gruppen und Arbeitsbereiche. Bei den Versammlungen verschwanden nach und nach die Abstimmungen und machten dem Konsens Platz. Auch die Ausbildung und Schulung wurde Schritt für Schritt von allen gemeinsam angegangen, nicht nur von „ExpertInnen“. Sie arbeiten ohne Chefs und im Rotationsverfahren, es wird ein Einheitslohn bezahlt. Damit ist es ihnen gelungen, die übliche Bürokratisierung zu vermeiden.

Das Besondere II: die Beziehungen und sich selbst verändern

„Am Anfang liegt über jeder Selbstverwaltungserfahrung ein besonderer Zauber, und alle kümmern sich um die Organisation in ihrer Gesamtheit. Aber plötzlich und ohne es zu merken, werden wir darin zu Inseln, jeder zu seiner eigenen. Gründungsmitglieder beginnen, Privilegien für sich zu fordern. Die Hierarchie taucht in unterschiedlichen Gewändern wieder auf. Die Organisation verknöchert zusehends. Es kommt zur Bürokratisierung und damit zum Tod der anfänglichen Leidenschaft. Stattdessen blüht die Korruption in all ihren Spielarten.“ 6
Viele Leute, die die Kooperativen besuchten, glaubten einfach die Verfahren übernehmen zu können, um ebenfalls erfolgreich zu sein. Sie teilten die Hallen ähnlich auf, setzten sich zu Besprechungen in einen Kreis oder benutzten die gleichen Gerätschaften. Dabei beachteten sie aber nicht die Beziehungen, die in Cecosesola entwickelt wurden.
„Wir haben jedoch gelernt, dass die herrschende Kultur auch in uns drinsteckt und die Art unserer Beziehungen bestimmt. Diese Art von Beziehungen erschwert unter uns die Selbstorganisationsprozesse[...]Offensichtlich wird, sobald in einer Organisation der Kampf um die Macht als zentrales Motiv zum Verschwinden gebracht wird, eine kollektive Energie freigesetzt, die unter anderem in einer vorher ungekannten wirtschaftlichen Produktivität zum Ausdruck kommt.“ 7
Es war ein langer Weg von einer hierarchischen bis zu einer horizontalen Struktur mit Konsens- und Rotationsprinzip. Und es ist ein Versuch, „die kapitalistisch- patriarchale Kultur zu überwinden und stattdessen zu einem solidarischen Miteinander zu kommen.“ 8 Aber immer noch schleppen die Mitglieder der Kooperative Elemente der alten Gesellschaft mit sich herum. Selbstveränderung und Basisdemokratie beansprucht viel Zeit, da bleibt wenig Energie, sich politisch einzumischen. „Aber: Die große revolutionäre Veränderung ist nicht denkbar ohne die vielen Veränderungen im Kleinen.“ 9

Im Sozialismus des 21. Jahrhunderts

In vier Jahrzehnten hat sich Cecosesola enorm verändert. Aber auch die politischen Verhältnisse. Seit 1999 ist Hugo Chavez Präsident von Venezuela. Seitdem ist in der Verfassung verankert, Kooperativen jeglicher Art zu bilden. Das führte zu einem Gründungsboom. Viele Kooperativen existieren allerdings nur auf dem Papier, weil die Gründer nur die Zuschüsse kassieren wollten. Und viele aktive Kooperativen wurden von Firmen gegründet, um an öffentliche Aufträge zu kommen oder um Kosten zu sparen.
„Die Selbstverwaltung von Cecosesola passt nicht so richtig in das staatssozialistische Schema[...]Die Autonomie ist für den Staat ein Risiko. Das ist immer noch dieselbe Politik, die versucht, die Basisorganisationen zu kontrollieren. Die Sprache hat sich geändert, die Symbole und die Farben. Aber die politische Mentalität der Kontrolle hat sich nicht geändert.“ 10

Auf dem Weg

Ausführlich wird in dem Buch zunächst über die ersten zwanzig Jahre berichtet, vor allem über den Gegenwind, mit dem die Transportkooperative zu kämpfen hatte. Diese unterlag schließlich. Zu kurz kam mir dabei, woher der plötzliche Erfolg der Gemüsemärkte kam. Sie waren jetzt von politischen Entscheidungen unabhängig, aber hatten sie nicht auch mit Konkurrenten auf dem Markt zu tun.
Auch die Rolle von Gewerkschaftern scheint mir zu negativ gefärbt. Die Gegner der Transportkooperative versuchten innerhalb der Cecosesola Gewerkschaften zu etablieren und Lohnerhöhungen von 200 Prozent durchzusetzen, die die finanziellen Möglichkeiten der Kooperative überstieg. Es wurden schließlich zehn Prozent beschlossen, danach gab es keine Gewerkschaft mehr. Das Fazit in dem Buch: „Wo Schmalhans Küchenmeister ist, kann der Mensch eben keine großen Gelage feiern.“
Gleichzeitig freuen sie sich, dass die Arbeitsproduktivität steigt, weil es keine Chefs mehr gebe. Auf den Gemüsemärkten wurden sogar Komitees für Arbeitsdisziplin etabliert. Über das Beerdigungsinstitut schreiben sie Folgendes: „1981 hatten 30 KollegeInnen 30 Beerdigungen pro Monat organisiert. Im Jahr 2000 waren nur noch 20 ArbeiterInnen für 73 Beerdigungen und 38 Aufbahrungen zuständig und produzierten außerdem noch jeden Monat 80 Särge.“ 11Auch in der postmodernen Arbeitswelt mit flachen Hierarchien steigt die Produktivität, man kann es auch Selbstausbeutung nennen. Auch dort ist der ganze Mensch, vor allem seine Kreativität und Individualität gefragt.
Gut kann ich verstehen, wenn sich Menschen in einer chaotischen Gesellschaft mit permanentem Unsicherheitsgefühl wie in Venezuela gegen das Plündern aussprechen. Allerdings kollidiert das mit dem Konzept der Aneignung, dass vor einigen Jahren in der radikalen Linken in Deutschland propagiert wurde. Auch heute noch hängen in den Straßen Plakate, die zum Plündern aufrufen. Statt soziale Rechte also Plündern, was zur Kriminalisierung führen kann, in einer Gesellschaft, in der das Eigentum über allem steht.
Interessant fand ich den Abschnitt zum kulturellen Hintergrund und den Veränderungen der Beziehungen. Sie haben sich mehr mit den Beziehungen im Alltag beschäftigt und gemeinsam die Beziehungen analysiert, die im alltäglichen Handeln entstehen. Im Gegensatz zu anderen selbstverwalteten und selbstorganisierten Projekten haben sie sich um die internen Strukturen gekümmert. Viele dieser Initiativen scheitern an internen Streitigkeiten, die Beziehungen untereinander sind nachhaltig zerrüttet. Und das liegt daran, dass sich informelle Machtverhältnisse herausbilden, es gibt den „Chef“, den „Experten“, die Mitläufer etc. Daher sind auch die fließenden Strukturen mit Rotation, Konsens etc. sehr hilfreich.
Die Veränderungen der Beziehungen und die flexible Struktur sind jene Besonderheiten, die diese Organisation auszeichnen und deshalb auch das Buch empfehlenswert machen.
Zu kurz erschien mir der Abschnitt „Cecosesola im 'Sozialismus des 21. Jahrhunderts'“. Sie schreiben: „Ein erfolgreiches Großprojekt wie Cecosesola ruft Neider auf den Plan, und für den Staatssozialismus sind Organisationen, die auf ihrer Unabhängigkeit bestehen und sich nicht verplanen lassen, in der Regel suspekt[...]Cecosesola wird immer wieder vorgeworfen, Teil der Opposition zu sein.[...]Die Mitglieder von Cecosesola machen dagegen immer wieder klar, dass sie als Projekt keiner Partei und keiner Religion anhängen.“12 Einige Kooperativistas befürchten sogar eine Enteignung. Dabei steht sogar in der Verfassung, dass eine Dezentralisierung des Staates und die Verlagerung der Entscheidungsbefugnis an die Basis vorgesehen sind. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass Cecosesola nicht auch Vorteile hat, seit Chavez an der Macht ist.

Das Buch schließt mit einem Nachwort von John Holloway: „ Der Besuch bei Cecosesola war eine große Lernerfahrung für mich. Er hat mir Sachen gezeigt, die ich nie zuvor gesehen habe, hat meinen Geist in neue Richtungen geweitet, neue Fragen für mich aufgeworfen.“
AktivistInnen von Cecosesola waren am 2. und 3. Mai in Berlin: 

http://www.cecosesola.solioeko.de/
Die Kooperative:  http://cecosesola.blogspot.de/
 Rezension von Elisabeth Voß:  http://www.cecosesola.solioeko.de/Heft331-Seite3.pdf
Alix Arnold:  http://www.cecosesola.solioeko.de/Heft330-Seite3.pdf
 

Anne Seeck

Anmerkungen
 1Cecosesola, Auf dem Weg, Berlin 2012, S. 23
 2Ebd. S. 36f.
 3Ebd. S. 49
 4Ebd. S.88
 5Ebd. S. 81
 6Ebd. S.101f.
 7Ebd. S. 103f.
 8Ebd. S. 8
 9Ebd. S. 12
 10Ebd. S. 154
 11Ebd. S.47
 12Ebd. S. 151f.

 

TAZ am 19.5.2012

Wenn der Kampf um die Macht wegfällt

Ein Traum wird wahr: Eine Kooperative in Venezuela kennt keine Chefs - und ist damit erfolgreich

Ein Modell wollen sie nicht sein. Auf keinen Fall. "Es gibt kein Patentrezept, jeder muss seine eigenen Lösungen finden", sagen sie ein ums andere Mal. Und doch ist die venezuelanische Kooperative eine Inspiration dafür, dass eine Assoziation von Freien und Gleichen scheinbar auch mit zehntausenden Menschen zu realisieren ist. Es muss ein Geheimnis geben bei Cecosesola.
Ein Leben ohne Chefs? Wie soll denn das gehen, dass sich so viele Menschen andauernd im Konsensverfahren verständigen? Und kommt man bei so vielen Treffen und Gesprächen überhaupt noch zu Muße, Leben und Lieben? "Wenn wir unsere Kommunikation als Arbeit sehen würden, wäre das furchtbar", sagt die 34-jährige Carolina Colmenaves, die seit 16 Jahren bei Cecosesola arbeitet und gerade mit zwei weiteren Mitgliedern auf Lesereise in Europa ist. "Aber wir gehen auch in Parks oder machen Liebe, sonst hätten wir keine Kinder. Und wir haben viele!"
Cecosesola heißt ausgeschrieben und übersetzt "Dachverband der Genossenschaften für soziale Dienstleistungen im Bundesstaat Lara". In der Millionenstadt Barquisimeto betreibt Cecosesola drei Wochenmärkte, auf denen sich rund 55.000 Familien mit Gemüse größtenteils von verbandseigenen Landkooperativen versorgen. Zum Verbund gehören über 50 Basisorganisationen mit rund 20.000 Mitgliedern: ein Transportbetrieb, eine Sparkasse, Läden für Möbel und Haushaltsgeräte, ein Beerdigungsbetrieb sowie sechs Gesundheitsprojekte, in denen jährlich knapp 200.000 Menschen behandelt werden. Der Jahresumsatz: etwa 100 Millionen US-Dollar. Chefs gibt es nicht, Jobrotation ist üblich, Entscheidungen werden im Konsens getroffen.
Womöglich ist das Geheimnis in der besonderen Geschichte von Cecosesola zu finden. Allerdings nicht in ihrer Gründung, denn die hatte ironischerweise eine antikommunistische Schlagseite. 1961 hob John F. Kennedy die "Allianz für den Fortschritt" aus der Taufe, um mit Sozialprogrammen die Guerillabewegung in Lateinamerika einzudämmen. Mit Mitteln der CDU-nahen Adenauer-Stiftung und der katholischen Caritas unterstützte das jesuitische Centro Cumila in Venezuela die Gründung von Genossenschaften. Cecosesola wurde 1967 als Dachverband initiiert.
Doch 1972 kündigten ihre Begründer die Allianz mit der Allianz auf und schlossen sich der "Stiftung für kommunitäre Organisierung der Marginalisierten" an. Cecosesola ist bis heute linksorientiert, zur Regierung von Hugo Chavéz mit seinem autoritären Staatssozialismus hält sie Distanz. Als die Rechtsopposition im Jahr 2002 mit einem Streik Venezuela lähmte, unterstützte Cecosesola weder den Streik noch Chavéz.
Cecosesolas Geschichte ist manchmal geradezu dramatisch bewegt. Mitten im Kampf gegen städtische Fahrpreiserhöhungen wurde 1974 eine Transportgenossenschaft gegründet, "von privaten Busbetreibern und der Stadt heftig bekämpft", wie Jorge Rath erzählt. Der 61-jährige gebürtige Deutsche arbeitet seit 13 Jahren bei Cecosesola - inzwischen als Akkupunktur-Therapeut und Website-Betreuer. Er berichtet, die Kerngruppe von Cecosesola habe sich anfangs täglich getroffen und alles gemeinsam entschieden. So sei eine besondere Gesprächskultur entstanden, die es bis heute gebe.
Durch den Abbau von Hierarchie und den Aufbau von Vertrauen sei die "kollektive Energie" geradezu explodiert, heißt es dazu in dem Buch, aus dem die Mitglieder der Kooperative bei ihrer Lesereise vortragen. Solidarität vervielfache sich "genau dann, wenn wir verschwenderisch mit ihr umgehen".
In den siebziger Jahren organisierte die Buskooperative unzählige Demos, Märsche und Umsonsttransporte für die Bevölkerung. Aber viele Busse wurden beschlagnahmt und zerstört, der Ruin drohte. 1983 begann die Gruppe damit, die restlichen Busse zu mobilen Gemüsemärkten umzubauen. Diese - inzwischen stationären - Märkte wurden ein Riesenerfolg, zumal die Cooperativistas Gemüse billiger verkauften. Aber das war wohl nicht der einzige Grund: "Offensichtlich wird, sobald in einer Organisation der Kampf um die Macht als zentrales Motiv zum Verschwinden gebracht wird, eine kollektive Energie freigesetzt, die unter anderem in einer vorher ungekannten wirtschaftlichen Produktivität zum Ausdruck kommt", ist in dem Buch über Cecosesola zu lesen.
Die 40-jährige Ilse Marquez, die in der Kooperative unter anderem in der Buchhaltung arbeitet, weiß viel über die "patriarchalisch-kapitalistische Kultur" zu sagen, die sie überwinden wollen. Auch deshalb habe man sich entschlossen, "Frauen"-Aufgaben wie Kloputzen oder Kochen rotieren zu lassen. In der Küche etwa wechseln sich Frauen und Männer wöchentlich ab.
Die kollektive Entscheidungsfindung im Konsens sei vielleicht ihr größter Erfolg, glaubt Marquez. In allen Betrieben gibt es wöchentliche Versammlungen, hinzu kommen weitere Treffen zur Koordination oder zur Pflege und Analyse ihrer Beziehungen.
Aber wie geht die Gruppe mit Fehlverhalten um? Marquez: "Wenn einer etwas klaut, fragen wir in seiner Gegenwart: Was steckt dahinter? Warum haben wir als Kollektiv es nicht geschafft, ihm bei der Transformation zu helfen?" Für Außenstehende, gibt sie zu, sei das nicht leicht zu erklären. Sie praktizierten eben eine neue Form des Denkens. "Kommunikation wird überraschend flüssig", heißt es dazu im Buch. "Manchmal brauchen wir nicht einmal mehr darüber zu reden, um zu wissen, was wir alle denken. Telepathie wird greifbar." Womöglich sei man schon "auf dem Weg zum kollektiven Gehirn". Vielleicht liegt darin das Geheimnis: Die Cooperativistas sehen das Unsichtbare, die menschliche Verbundenheit, als ihren kostbarsten Schatz, den sie hegen und pflegen.

Ute Scheub

"Barrikade" 7/2012

Eine „führerlose“ Organisation in Bewegung – geht das?

Über den autonomen Genossenschaftsverband CECOSESOLA im Bundesland Lara von Venezuela.

Mit rund 20.000 Mitgliedern in diversen eigenständigen Genossenschaften und Kollektivbetrieben um die regionale Landeshauptstand Barquisimeto [eine Million Einwohner westlich von Caracas gelegen] berichtet das neue Buch der Berliner Buchmacherei Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela. Nun, es ist eben nicht eine Kooperative, sondern der regionale Dachverband, eben CENTRAL COOPERATIVA DE SERVICIOS  SOCIALES DEL ESTADO LARA und dieser Zusammenschluß erwirtschaftete einen Umsatz von umgerechnet 100 Millionen US$ (430 Mio. Bolívares) im Jahr 2010.
 Kann eine Entscheidungsfindung in so einem großen „Betrieb“ tatsächlich immer „im Konsens“ getroffen werden, wie die Autoren behaupten und der „unorthodoxe“ Marxist John Holloway (Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen) tatkräftig bestätigt? Wozu bedarf es dann aber gut 6 Prozent an „Hauptamtlichen“, die als trabajadores asociados den doppelten Mindestlohn als Vorschuß verdienen? – Beachtlich auch, daß sich jedes Mitglied diese verantwortlichen Tätigkeiten noch selbst aussuchen kann. Wie funktionieren „horizontale Strukturen“, wie eine Selbstverwaltung ohne Chefs, denn „Rotation ist Prinzip: Niemand soll sich auf bestimmten Posten einbunkern oder es sich auf Kosten anderer bequem machen. Die Aufgabe in der Verwaltung werden immer von neuen Kooperativistas übernommen, damit möglichst viele auch diese Bereiche kennenlernen und sich entsprechende Kompetenzen aneignen können.“ (S. 8)

»Unsere Treffen werden so zu Möglichkeiten, ein »Wir« ohne Grenzen zu erleben. Ein Wir, das auch bedeutet, dass wir uns Kriterien zu eigen machen, die wir alle teilen. Flexible Kriterien, die im Konsens geändert werden, wenn sich die Umstände andern und wir uns in der Reflexion verändern. Diese gemeinsamen Kriterien erleichtern die Beteiligung aller an den Entscheidungen. Es gibt kein Leitungsgremium, keinen Geschäftsführer und keine Aufsicht mehr, auf denen wir uns »ausruhen« könnten, um uns damit der eigenen Verantwortung zu entziehen. Wir versuchen dafür zu sorgen, dass die Treffen nicht zu einem Ersatz für die Geschäftsleitung oder den Geschäftsführer werden, denn auch das würde unsere Entwicklung beschneiden. Wir fällen zwar weiterhin Entscheidungen auf unseren Treffen, aber auf der Grundlage unserer jeweiligen gemeinsamen Kriterien soll auch jede Person oder Gruppe die Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, die im Alltag getroffen werden müssen. Genauso wie alle Anwesenden gleichermaßen für Entscheidungen, die auf einer Versammlung zustande gekommen sind, die Verantwortung tragen. Eine Verantwortung, die je nachdem auch beinhalten kann, dass man für verursachte Schäden finanziell aufkommt.« (Seite 127)

Daraus „ergibt sich, dass Konsens für uns etwas völlig anderes bedeutet als Einstimmigkeit. Für die Einstimmigkeit müssen alle Mitglieder anwesend einer Gruppe oder Organisation anwesend sein. Das entspricht einer Abstimmung, bei der alle dafür sind.  In unserem Fall ist die Entscheidung Konsens, wenn sie unserem »Wir« entspricht, d.h. den Kriterien, die wir in diesem Moment teilen – unabhängig davon, ob diese Entscheidung von einer Person, einer informellen Gruppe oder auf einer Versammlung gefällt wurde.“

 Daß diese Form der Entscheidungsfindung nichts mit unserer deutschen Vorstellung von einem „Konsens“ zu tun hat, ist augenfällig. Wenn es möglich ist, daß nur eine einzige Person aufgrund ihres »Wir«-Gefühls in einem Moment etwas entscheidet, dann führt das zwangsläufig zu der Erkenntnis, daß „es keine »endgültigen« Entscheidungen, außer in den Fällen, in denen für Verbesserungen keine Zeit mehr bleibt“ gibt. Daraus folgt dann konsequent: „Es gibt jederzeit das Recht zu protestieren. Das Thema kann jederzeit und auf jedem Treffen neu verhandelt werden, falls jemand nicht einverstanden oder der Meinung ist, dass beim Zustandekommen des Beschlusses persönliche Kriterien die Überhand gewonnen haben.“

In der Realität bedeutet dies – nach jahrelangen eigenen Erfahrung in einem recht überschaubaren Kollektivbetrieb –, dass einmal gefällte Entscheidungen nicht mehr hinterfragt werden, weil rückwirkend kaum Änderungen möglich sind im ökonomischen Alltag oder es extrem unangenehm sein kann, immer und immer auf einem oder mehreren Fehlern eines einzelnen oder einer kleinen „informellen Gruppe“ des Kollektivs herumzuhacken. Diese blauäugige Verklärung der realen Umstände, die in einem wirtschaftlichen Betrieb bestehen, sind evident.  Wer macht sich gerne zum Kritiker, wenn hinter dem Rücken der Mehrheit Entscheidungen gefällt wurden, die dann jedoch »endgültig« sind, weil zum Beispiel Verträge nicht so einfach durch ein späteres Plenum rückgängig gemacht werden können? Die Welt um uns herum besteht eben nicht aus „Gutmenschen“, die einsehen, daß ein Vorstand oder ein anderes Gremium einer Genossenschaft einen bösen Schnitzer gemacht hat, der von einem Plenum nachträglich aufgehoben wurde.

„Diese Art Entscheidungen zu treffen, kann offensichtlich zu Chaos und Fehltritten führen, die unter Umständen große ökonomische Verluste nach sich ziehen. Aber alle ökonomischen Verluste werden um ein Vielfaches kompensiert durch die Flexibilität und Dynamik, die in der Organisation entsteht, dadurch dass wir uns von den kulturellen Fesseln befreien, die unser aller Kapazitäten und kreatives Potenzial einengen. Heute reiben wir uns nicht mehr im schäbigen Hickhack interner Machtkämpfe auf. Und unsere menschlichen Möglichkeiten sind nicht mehr in hierarchischen Beziehungen eingeschlossen oder im Dickicht parlamentarischer Regelungen gefangen, mit denen angeblich die Beteiligung geregelt wird. Normen auf der Grundlage von Misstrauen, die letzten Endes eine wirkliche Beteiligung nur behindern.

Mit der Zeit wird das Modell der Repräsentation und Vertretung durch eine verantwortliche, direkte und alltägliche Beteiligung ersetzt. Die Treffen haben sich in Räume verwandelt, die ohne Einschränkung für jede und jeden offen stehen. Bei den Themen, die behandelt werden können, gibt es keine Eingrenzung.

Es gibt keine Abstimmungen. Alle Mitglieder oder Treffen machen sich die Entscheidungen zu eigen, die auf der Grundlage der gemeinsamen Kriterien zustande gekommen sind. Ein Quorum für Beschlussfähigkeit ist damit hinfällig.

Ist das nicht alles ziemlich verrückt? Vielleicht – aber wir wissen aus eigener Erfahrung, dass das Ganze funktionieren kann, wenn wir den gegenseitigen Respekt und die Solidarität in unserem Zusammensein vertiefen. Wenn all die Energien freigesetzt werden, die im Dickicht der starren Organisationsformen, die unsere Kultur zu bieten hat, gefangen sind. So entsteht die solidarische Kraft, …“ (Seite 128)

Die Entscheidungsfindung bei CECOSESOLA ist mehr als fragwürdig – nicht weil sie „chaotisch“, sondern weil sie m.E. strukturlos ist. Sollte es Gruppierungen oder Einzelindividuen geben, die das Unternehmen übernehmen wollen, dann bilden sie eben diese „informellen Gruppen“ und fällen Entscheidungen gegen das »Wir«-Gefühl der meistens doch schweigenden Mehrheit. Und selbst wenn falsche Beschlüsse revidiert werden können, ist es eventuell fatal, weil sie unter „Umständen große ökonomische Verluste nach sich ziehen“. Und wer will dafür schon gerne verantwortlich gemacht werden?

Etwas Zahlensalat

 Für mich ist der Umgang mit Zahlen in diesem Buch doch etwas gewöhnungsbedürftig bzw. auch fragwürdig. CECOSESOLA wurde 1967 gegründet bzw. erst 1974 zu einem Dachverband mehrerer kleiner – hauptsächlich von Priestern initiierter Spar- und Kreditgenossenschaften – und dann heißt es plötzlich, dass sie ganze 12 Mitglieder waren, bevor sie mit staatlichen Fördermitteln eine lokale Busverkehrsgenossenschaft, die SCT, gründeten und dadurch in kürzester Zeit wegen der benötigten Busfahrer│innen auf mehr als 300 Genoss│innen anwuchsen.
 Fragwürdig ist auch das »Wir«, das das Buch oder den Bericht geschrieben hat. Es scheint so, als wenn selbstlose Berater mit dem gesamtgesellschaftlichen Konzept für Genossenschaften hier angetreten sind – und auch federführend alles begleitet und geleitet haben, trotz der Infiltration von Spionen, Gegnern und Polizeispitzeln. Das wäre beachtlich und gleichzeitig bedenklich, denn alles wird von möglicherweise immer noch den gleichen Leuten „informell“ angeleitet, die eigentlich längst hätten in der Masse der Mitglieder verschwinden müssen, wie „Fische im Wasser“ halt …

Genossenschaft vs. Gewerkschaft

 Ein spannender Punkt in der Entwicklung von CECOSESOLA  zu „einer sozialen Organisation, einer Bewegung“, ist die Auseinandersetzung in der Buslinien-Kooperative über den Sinn einer Gewerkschaft (in Venezuela sind nur Betriebs-gewerkschaften erlaubt). Hier erklären die Verfasser ganz deutlich, daß sie der Auffasssung sind, daß es keiner gewerkschaftlichen Vertretung der Genossenschaftsmitglieder bedarf. Der zu den überhöhter Lohnforderungen einiger machtgeiler und auf Pöstchensuche befindlicher Agitatoren einer (linken?) Partei als Argument angeführte Spruch lautet: „Wenn in der Küche Schmalhans waltet, kann man keine Gelage feiern.“
 Das ist wirklich nicht spaßig, bedenkt man, daß ansonsten in dem Text sehr gerne von der Verantwortung für die Gemeinschaft, die Kommune und die Verankerung in der übrigen Gesellschaft geredet wird. Eine Kontrolle durch betriebsfremde Gewerkschafter soll also nicht stattfinden – alles dreht sich im eigenen Saft bzw. wird durch interne „Transparenz“ und eine ordentliche Buchführung, die nachvollziehbar macht, daß keine Superlöhne gezahlt werden können, überflüssig. Natürlich waren die Vorwürfe der opponierenden und demagogisch agitierenden Gewerkschafts-Möchtegern-Funktionäre (vielleicht  erhofften sie sich einen besseren Lohn oder gar eine Freistellung als Betriebsgewerkschaftsfunktionär) im Sinne der Kooperative nicht sinnvoll. Eine außer- bzw. überbetriebliche Kontrolle durch eine Gewerkschaft sollte jedoch zu den üblichen Gepflogenheiten gehören.

Das Al Capone-Problem

 CECOSESOLA hat nur die staatliche Kontrolle vor der Zerschlagung gerettet; weil die Buchhaltung (und wer lernt so etwas in wenigen Wochen?) akurat war, konnten die Staatskontrolleure nichts finden, um die soziale Kooperative zu liquidieren, was die interne Opposition forderte. Auch hieraus ist zu lernen – auch für uns in Deutschland. Oder gerade hier. Wenn sie Dich politisch mundtot machen wollen, sollte die Buchhaltung stimmen, sonst ergeht es einem wie Al Capone, dem berüchtigsten Gangster der amerikanischen Geschichte: ihm konnte kein Mord vorgeworfen werden, aber er wanderte in den Knast wegen mangelnder Steuerzahlungen und einer „fehlerhaften“, maipulierten Buchhaltung …

Chavez und sein Pseudo-Sozialismus

 Ein völlig neues Genossenschafts- bzw. Kooperativengesetz gibt es in Venezuela seit Chavez am Ruder ist. Aber der Presidente hat auch das Recht, „antisozialistische“ Betriebe – und das sind im pseudorevolutionär-sozialistisch-staatlichem Diskurs der Bolivaristen um den Putschisten Chavez eben genauso autonome Kollektivbetriebe wie kapitalistische Aktiengesellschaften, wenn es seiner Politik gefällt und es ihm gerade mal in den Kram paßt. Darüber steht auch etwas in dieser wirklich spannenden Geschichte. Und zwar deutlicher, als es sich die Freunde des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ venezolanischer Prägung überhaupt vorstellen können. Das dürfte somit schon fast wieder „reaktionär“ sein, denn wie Luis Alfredo Delgado Bello auszugsweise zitiert wird: „Wir müssen dagegen kämpfen, dass Kooperativismus und Chavismus gleich gesetzt werden. Mit dieser Vorstellung wird der Kooperativismus zu einen weiteren Objekt der Polarisierung, das angegriffen oder unterstützt wird, je nachdem, welche Position die Betreffenden gegenüber der Regierung haben. (…) Beiden liegt die Einschätzung zugrunde, die Politik sei wichtiger als die Kooperativen. Das Genossenschaftswesen wird anderen politischen Zielen untergeordnet. Die Kooperative wird nicht als politische und soziale Option an sich gesehen, die in der Lage ist, hier und heute von uns aus eine andere Gesellschaft aufzubauen, wie wir sie wollen. Diese Sichtweise ist zutiefst politisch und unterscheidet sich grundlegend von derjenigen, die immer wieder verkündet, dass es notwendig sei, die Macht zu übernehmen, um den Anderen die eigene Sichtweise von Gesellschaft aufzudrängen. Als Kooperativistas bauen wir tagtäglich eine neue Gesellschaft auf. Damit zeigen wir uns selbst und allen Anderen, dass eine andere Welt möglich ist.“ (S. 151 – „Venezuela: Frascasaron las cooperativas?“)
 Genossenschaften sind nicht per sé oder Definition etwas Gutes – das wissen wir, seit auch Schlips-träger ihre modernen Firmenkonstrukte genossenschaftlich organisieren oder der Sozialabbau durch privat Selbsthilfe-Genossenschaften kompensiert werden sollen. Genossenschaften sollen der bürgerlichen Gesellschaft helfen, Probleme kostengünstig (also über freiwilllige Lohndrückerei und Selbstausbeutung) unter dem Deckmantel der „Bürgerbeteiligung“ zu verwalten. Mit „Selbstermächtigung“ hat das nichts zu tun. Genauso, wie in Venezuela kapitalistische oder auch staatliche Unternehmen Teilbereiche genossenschaftlich ausgliedern, um die Kosten zu drücken – und auch etablierte Genossenschaften gliedern Nichtgenosse als Lohnarbeiter│innen aus. Der Staat macht es sich bequem, indem er sozialpolitisches Engagement in Armutsquartieren und Elendsvierteln befördert, damit die Armen sich selbst um die Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung kümmern. Daraus kann „solidarische Ökonomie“ entstehen, muss es aber nicht.
 Das größte Problem für deutsche Verhältnisse ist der Vergleich. Was alles in Venezuela möglich ist, stößt hier sofort an gesetzliche Grenzen und erfordert einen Kampf um den durch den Nationalsozialismus eingeschränkten und gefesselten Genossenschaftsgedanken. Genossenschaften dürfen hierzulande keine Kreditgeschäfte machen – da kommen hier gleich die Herren mit dem Schlapphut der BaFin (Bundesfinanzaufsicht), statt sich um wichtigere Dinge zu kümmern. Das bedeutet schlicht, daß hiesige Genossenschaften ihren Mitgliedern keine Kredite geben dürfen in Notzeiten oder auch als Konzept. Dazu bedarf es einer genossenschaftlichen Bank – also weiterer staatlicher Kontrollinstanzen und Behörden.
 Abschließend sei ausdrücklich dieses Buch denjenigen empfohlen, die eine „andere Welt“ wollen und dabei lieber „handeln“ als politisch nur rumlamentieren und die Macht übernehmen wollen. Alternative und solidarische Ökonomie mit dem Kapitalismus in allen unseren Knochen ist bestimmt eine KnochenArbeit, aber es geht darum, nicht alle Utopien auf den berühmten St. Nimmerleinstag nach dem großen Kladderadatsch zu verschieben – der in den deutschen Breitengraden mehr als Lichtjahre entfernt ist.
 • fm

Nachtrag – Tupamaros

 Es hat nach dem Erscheinen des Buches wohl interessiert, ob denn nicht ehamlige uruguayische Tupamaros an der Gründung von CECOSESOLA beteiligt gewesen wären. Deutsche Linke brauchen immer Führer, nur sie können Gewichtiges angestoßen haben, sonst fehlt ihnen der Glaube daran. In diesem Fall ist die Antwort unzweideutig: „Kein Tupamaro hat je an dem Projekt mitgewirkt; schon gar nicht bei der Gründung.“ (contraste, April 2012).
 Das beruhigt mich ungemein, denn derartige Projekte funktionieren wohl gerade deshalb, weil hier eher Pfaffen als leninistische Guerilleros das Sagen haben; dabei haben beide Fraktionen längst ihre Heiligenscheine verloren …

 

"Streifzüge" 56 Herbst 2012

Lesenswert und inspirierend

Die Central Cooperativa de Servicios Sociales del Estado Lara (Cecosesola) ist ein Genossenschaftsverband in der Region der Millionenstadt Barquesimeto in Venezuela. 1967 gegründet umfasst er heute über 50 Kooperativen mit 20.000 Mitgliedern. Diese sind, ursprünglich ausgehend von einem Beerdigungsinstitut, nunmehr auch in der Produktion von Nahrung, im Transportwesen und in der Gesundheitsversorgung tätig sind und versorgen ein Viertel der Stadtbevölkerung in drei eigenen Wochenmärkten mit Lebensmitteln.
Die Organisation ist debürokratisiert worden, sie ist heute schlicht jenseitig: Es gibt keine Hierarchie, man klärt und entscheidet alles in Versammlungen ohne Leitung und Tagesordnung. Am Ende wissen die Teilnehmer, wie sie im Einverständnis aller die anstehenden Aufgaben angehen – "kollektives Gehirn" heißt das.
Die drei längsten Beiträge haben keine Autorennamen, sie "sind Ergebnis einer kollektiven Diskussion, mit der hunderte ArbeiterInnen ihren Arbeitsalltag analysieren und verändern". Man sieht sich nicht als Modell; wie konkrete Menschen zu freundlichen und solidarischen Beziehungen finden, ist weder planbar noch kopierbar.
Der Focus liegt nicht auf dem Kampf mit der dominanten kapitalistisch-staatlichen Umwelt – dem sucht man wo geht auszuweichen. Er liegt auf der Entwicklung und Ausdehnung der autonomen Räume, die man sich schafft: physisch-materielle und geistig-psychische. So wie die Menschen drauf sind, haben sie die herrschende Gesellschaft in sich. Selbst-Änderung und die der äußeren Strukturen sind untrennbar. Mit Staat und Politik muss man rechnen, nicht sich mit ihnen einlassen. Auch wenn Chavez bessere Möglichkeiten bietet. Man ist auf einem langen Weg. Den Ort, wo sich der mit Occupy und Revolten kreuzt, sucht John Holloway im Nachwort jedoch m.E. an der falschen Stelle.
Bei Amazon ist das Buch nicht zu haben. Umso lesenswerter. Und inspirierend.

Lorenz Glatz

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