"TAZ" vom 16. Oktober 2010

Die Statik des Augenblicks

BOLSCHEWISMUS

Vom Kader zum Zwangsarbeiter: Ante Ciligas großartiger Erfahrungsbericht über das stalinistische Russland

Vergessene Klassiker der linken Bolschewismuskritik neu aufzulegen, ist nicht nur angesichts des Neobolschewismus von Intellektuellen wie Slavoj Zizek, Alain Badiou oder Dietmar Dath eine gute Sache. Im Fall des Erfahrungsberichts des jugoslawischen Kommunisten Ante Ciliga über das stalinistische Russland ist die Neuauflage zudem fast eine deutsche Erstveröffentlichung. Während Ciligas Buch, zuerst 1938 in Paris erschienen und 1940 ins Englische übersetzt, in beiden Sprachräumen ein linksradikales Standardwerk wurde, dessen präzise Beobachtungen in Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1951) ebenso Eingang fanden wie später in Guy Debords "Gesellschaft des Spektakels" (1967), blieb die 1953 in einer obskuren antikommunistischen Buchreihe erschienene, stark gekürzte deutsche Übersetzung unbeachtet. Der Berliner Kleinstverlag Die Buchmacherei hat sie jetzt neu aufgelegt.

Gefängnis als Universität

Ciliga kam 1926 als hoher Funktionär der jugoslawischen KP nach Russland, und nur mit viel Glück konnte er es 1935 lebendig wieder verlassen. In diesen zehn Jahren hatte er zunächst Gelegenheit, das stalinistische Russland aus der Perspektive des privilegierten Kaders zu studieren, bevor er als dissidenter Kommunist seine Gefängnisse und Arbeitslager kennen lernte. Sein Bericht bietet ebenso Einblicke in die inneren Kreise der Macht und die Mentalität der nachwachsenden Eliten an den Kaderschulen, an denen er anfangs unterrichtete, wie in die Auseinandersetzungen unter den inhaftierten linken Oppositionellen. Das Gefängnis von Werchni-Uralsk, in dem Hunderte Oppositionelle aller Schattierungen zusammengepfercht sind, erlebt er als "eine wahre Universität der sozialen und politischen Wissenschaften - die einzige unabhängige Universität in der UdSSR".
Weit mehr als auf die staatlichen Kommandohöhen und die Diskussionen der geschlagenen Linken blickt Ciligas auf das Alltagsleben der Bevölkerung. Anhand der Figuren, denen er auf seiner Odyssee begegnet, entfaltet er ein dichtes Bild der russischen Gesellschaft, die unter dem ersten Fünfjahresplan gerade in den Strudel von Zwangskollektivierungen und brutal forcierter Industrialisierung gerät. Die Geschichten resignierter Arbeiter, zaudernder Oppositioneller und opportunistischer Parvenüs, die Charakterstudien über GPU-Schergen, Kinder der Parteifunktionäre oder in Ungnade gefallene Bolschewiki stehen stets exemplarisch für ganze Klassen und Gruppen.
Dabei entsteht ein Bild des Stalinismus als gigantisches Modernisierungsprojekt, in dem sich rohe Gewalt mit dem Versprechen einer besseren Zukunft verbindet. Ciliga beschreibt sowohl das Schicksal der ungezählten Bauern, die wegen Kartoffeldiebstahls im Konzentrationslager enden, als auch die Revolutionierung der rückständigen Dörfer durch Kino und Radio, moderne Medizin und Traktoren. Nirgends tritt ihm die Einheit von Fortschritt und Barbarei jedoch drastischer entgegen als während seiner Verbannung nach Sibirien, das sich während der Fünfjahrespläne praktisch in ein einziges riesiges Arbeitslager verwandelt. Die atemberaubende Entwicklung der Städte, von Holzindustrie, Goldgewinnung, Straßen und Kanälen baut auf den Leichenbergen von Millionen Arbeitssklaven auf. "Der Fünfjahresplan", hält er allen Bewunderern der Entwicklung Russlands entgegen, " ist fortschrittlich, aber nicht sozialistisch. Wenn er sich an der Zahl der Fabriken erkennen ließe, wäre der Sozialismus in Amerika längst verwirklicht."
Von einer bloß demokratischen Stalinismuskritik unterscheidet sich Ciligas Bericht durch seine Parteilichkeit für die ausgebeuteten Klassen. Genau dies führt ihn schließlich zum Bruch mit der linken Opposition um Trotzki, der noch in der Verbannung das russische Industrialisierungstempo als Beleg für "die Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsmethoden" feiert.

Trotzkis Fehler

Trotzki, notiert Ciliga lakonisch, "ist im Grunde der Theoretiker eines Regimes, dessen Verwirklicher Stalin ist". Anstatt die russischen Arbeiter selbst gegen das Regime zu mobilisieren, habe er nur einen Fraktionskampf innerhalb der herrschenden Elite geführt. Trotzkis Überzeugung, die im Kern sozialistische Wirtschaft Russlands werde lediglich von einer stalinistischen Bürokratie überformt, stellt sich für Ciliga angesichts der elenden Lage der Arbeiterklasse in den Fabriken und Arbeitslagern als der blanke Hohn dar. Was er in Russland vorfindet, ist kein "deformierter Arbeiterstaat" - so die trotzkistische Formel bis heute - sondern schlicht "Staatskapitalismus". Sein Versuch, die Entstehung dieses Regimes aus der Oktoberrevolution nachzuvollziehen, treibt ihn schließlich sogar dazu, "das Allerheiligste des Kommunismus und meiner eigenen Ideologie" vom Sockel zu stoßen: Lenin, der mit der Machtübernahme ein "Verteidiger der Statik des Augenblicks und nicht mehr der Dynamik der Epoche" wurde.

Ciligas Buch ist kein theoretisches. Die Fragen, die der Begriff des Staatskapitalismus aufwirft, kümmern ihn nicht weiter: Für sein Urteil genügen ihm die augenfälligen Klassenunterschiede, die vollständige Entrechtung der Arbeiter und das gigantische Heer der Sklaven im Gulag. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bot er damit jedoch eine hervorragende Illustration der theoretischen Analysen, die andere Dissidenten fernab des Geschehens ausarbeiteten - allen voran die deutsch-holländischen Rätekommunisten, die nach anfänglicher Begeisterung für den Roten Oktober zu einer vernichtenden Kritik des Bolschewismus übergingen.

Ciliga illustriert, was andere Dissidenten fernab des Geschehens theoretisch ausarbeiteten.

VON FELIX BAUM

 

Zeitschrift "Sozialismus oder Barbarei"

Im Land der verwirrenden Lüge

Die deutsche Ausgabe von Ante Ciligas "Im Land der verwirrenden Lügen" ist endlich wieder aufgelegt worden. Der erste Teil des Buches erschien 1938 in Frankreich mit dem Titel "Au pays du grand mensonge". Ciliga beschreibt seine Erlebnisse und Beobachtungen von 1926 bis 1933 in Moskau, Leningrad und Werchne-Uralsk. Seinen Weg vom kommunistischen Kader und Ausbilder, zur trotzkistischen Oppositon, von dort in den Knast und ins Lager. Im Lager nahm er aktiv an den Debatten und Aktionen der weit aufgefächerten kommunistischen Oppositon teil. Dieses Buch schlug hohe Wellen in der anti-stalinistischen Linken.

Ante Ciliga begann seine Politisierung 1918 in der kroatischen sozialdemokratischen Partei, in der er 1919 bereits einen linken Flügel bildete, um sich noch im selben Jahr - nach Beteiligung an der ungarischen Revolution - der frischen jugoslawischen KP anzuschliessen. Für seine weitere Biografie sei an das ausführliche Nachwort von Stephen Schwartz (erschienen u. a. in Revolutionary History) und Philippe Bourrinets Text "Nationalistische Barbarei oder Weltrevolution? - Ante Ciliga (1898-1992) - Lebensweg eines Kommunisten aus Kroatien" (erschienen im Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr. 13) verwiesen. Sein Buch legt Zeugnis ab über die Debatten der rechten und linken Bolschewisten-Leninisten (wie sich die Trotzkisten nannten), Dezisten (Demokratische Zentralisten) und Anhängern der Arbeitergruppe (siehe Artikel zur russischen Linken in dieser SoB). Gerade um die Frage des Charakters des Staates, der diese Oppositionellen in Knast und Lager hielt, wurde immer wieder heftigst gestritten.

Ciliga selbst trennte sich 1932 im Lager von Trotzkis Analyse des degenerierten Arbeiterstaates und schloss sich den Positionen der linken Kommunisten an, die Russland als staatskapitalistisch bezeichneten. Dieser Bruch wurde in Frankreich erneuert und endgültig vollzogen. Veröffentlichte Trotzkis Bulletin im Februar 1936 noch den Artikel "staatliche Repression in der UdSSR"von Ciliga, stand er einige Monate später für Trotzki auf der anderen Seite der Barrikade. Neben der in der deutschen Ausgabe leider gekürzten Dokumentation dieser politischen Entwicklung (während die englische Ausgabe 573 Seiten umfasst, kommt die deutsche nur auf knappe 300), zeigt sich auch die Fähigkeit von Ante Ciliga die Klassenrealität von unten genau zu beschreiben.

Diese eindrucksvollen Skizzen setzen sich im 2. Teil des Buches (1941 in Frankreich unter dem Titel "Sibérie, terre d'exil et de l'industrialisation" erschienen) fort. Die heutige Lektüre ist immer noch anregend, um sich ein weiteres Puzzlestück der Geschichte (wieder) anzueignen. Die Debatte der kommunistischen Linken war 1938 auch unter den schwierigsten Bedingungen von Stalinismus, Faschismus und aufziehendem Weltgemetzel noch eine internationale. So vollzog die (österreichische) Gruppe RKD (Revolutionäre Kommunisten Deutschlands) nach ausgiebiger Diskussion (nach Lektüre des Buches) den Bruch mit em Trotzkismus und war in der Lage im besetzten Frankreich eine Propaganda für den revoionären Defätismus zu entwickeln.

Die Herausgeber sind für den fairen Preis von 12 Euro zu loben und dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, so dass ähnliche Projekte ermöglicht werden können. Die massenhaften Zeichenfehler der digitalen Übertragung sind dann hoffentlich zu korrigieren. Das Buch bekommen ihr im Buchladen, bei der SoB oder bei: http://www.diebuchmacherei.de

g

 

Portal "SOPOS" (Sozialistische Positionen) 10-2010

Licht im "Land der verwirrenden Lüge"

Das Buch, das as zuerst im Jahre 1938 auf französisch und dann 1953 als "Rotes Weißbuch" auf deutsch erschienen ist, hat das Schicksal hinter sich, das so vielen Zeugnissen von ehemaligen Anhängern des russischen Staatskapitalismus in den 50er und noch mehr 60er und 70er Jahren beschieden war. Veröffentlicht in den Zeiten des heißen Kalten Krieges und einer im Westen Deutschlands skeptisch bis abwehrend eingestellten Linken wurde ihm nicht die Bedeutung beigemessen, die ihm beikam.

amit stand Ciliga aber nicht alleine. Weder die späteren Veröffentlichungen Solschenizyns über den Archipel Gulag noch die Gründung einer Massenorganisation polnischer Arbeiter mit antikommunistischer Ausrichtung haben in der deutschen Linken zu jener Entmischung zwischen den Anhängern eines antidemokratischen Staatskapitalismus bzw. Etatismus und einer libertären, radikaldemokratischen Orientierung geführt. Das "Solidarnosc" just zerschlagen wurde, als die Gewerkschaft in ihr Programm Forderungen nach Arbeiterkontrolle über die Produktion und Selbstverwaltung aufgenommen hatte, daran darf 30 Jahre danach ruhig einmal erinnert werden – auch im Westen dürften da manche bürgerlichen Freunde der "Solidarnosc" aufgeatmet haben. Mag sein, dass dies mit der Schwäche der autochthonen Libertären nach 1945 zu tun hatte, so dass sich wenigstens die in Westdeutschland nach 1968 entwickelnde antiautoritäre Linke vom etatistischen Erbe der Mehrheitsströmungen in der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung affiziert war oder minoritär blieb.

Auf den Zusammenbruch der staatskapitalistischen Systeme im Osten und die Transformation in privatkapitalistische Gesellschaften waren die Mehrheitsmilieus der deutschen Linken daher denkbar schlecht vorbereitet. Die westdeutsche Linke stand so nach der Übernahme der DDR in privatkapitalistische Regie vor einem Scherbenhaufen.

Insoweit kommt die Neuherausgabe des Buches von Ciliga natürlich viel zu spät – obwohl bezweifelt werden darf, dass sie in den 80er Jahren viel bewirkt hätte. Dennoch ist es den Herausgebern Jochen Gester und Willi Hajek hoch anzurechnen, dass sie Ciliga erneut auf dem Büchermarkt präsentieren. Ihre Intention wird im Vorwort deutlich gemacht – und das Buch löst ihr Erkenntnisinteresse auf herausragende Weise ein: "Es ist recht lächerlich, sich an die Vorstellung zu klammern, diese (staatskapitalistischen – d. Rez.) Systeme könnten in ähnlicher Verfasstheit wieder auferstehen, es sei denn als Alptraum. All dies macht es heute unumgänglich, das untergegangene Vergesellschaftungssystem grundsätzlicher in den Blick zu nehmen."(S. 10).

Was Ciligas Buch unter diesem Aspekt besonders interessant macht, ist seine Verknüpfung von Erfahrung, genauer Beobachtung und theoretischer Reflexion. Dazu kommt eine Unvoreingenommenheit und Offenheit, die den Entwicklungsgang Ciligas deutlich macht ohne aufdringlich die eigene Person in den Vordergrund zu schieben.

Als Ciliga im Herbst 1926 in die Sowjetunion reiste, hatte er schon ein reiches Leben als Militanter der sozialistischen und kommunistischen Bewegung im Südosten Europas hinter sich. Schon als Gymnasiast hatte er – zunächst unter nationalistischen Auspizien – gegen die morsche Habsburgermonarchie gekämpft und sich unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges sozialistischen und dann kommunistischen Überzeugungen zugewandt. Dazu kam sein Einsatz in der Ungarischen Räterepublik 1919 und ein Jahr später die Teilnahme an Fabrikbesetzungen in Italien. Sein Aktivismus führte zu seiner Aufnahme in die Leitung der jugoslawischen KP, deren Haltung in der Nationalitätenfrage umkämpft war. Zwischen 1926 und 1935 lebte er in Russland. Nach seiner Ausreise führte er ein recht abenteuerliches Leben, das von der Angst vor stalinistischer Verfolgung geprägt war und unter anderem zur Zusammenarbeit mit Zeitungen im Ustascha-Kroatien führte und nicht immer klare Linien erkennen lässt. Seine späten Arbeiten werden zum Teil als antisemitisch kritisiert. 1992 starb Ciliga mit 94 Jahren in Zagreb, in einem Landstrich des blutigen Bürgerkrieges und ethnischer Säuberungen, in denen nationalistische Eliten mit dem Mittel der rassistischen Mobilisierung und der Gewalt ihre Clanherrschaft absicherten. Das alles wird in einem biographischen Artikel von Stephen Schwartz im Anhang des Buches spannend dargestellt (S.279–302).

Ciliga blieb bis zum 21. Mai 1930 auf freiem Fuß und durchlebte danach das sowjetische Gefängnis- und Lagersystem. Bis zu seiner Verhaftung durch die GPU lernte er die Differenz zwischen sozialistischer Propaganda und sowjetischer Realität kennen.: "Der frische Rhythmus des sowjetischen Lebens war von einer tiefen sozialen Immoralität durchdrungen. Ganze Gruppen von Arbeitern und Bauern erklommen die sozialen Höhen und behaupteten alle Arten leitender Stellungen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung... Die aufsteigenden Schichten machten sich einen bestimmten bourgeoisen Geist, einen Geist kaltherzigen Egoismus’ und niedriger Berechnung zu eigen. Sie waren fest entschlossen, ohne Rücksicht auf den Nächsten sich ein gutes Stück aus dem großen Kuchen herauszuschneiden und mit skrupellosem Zynismus Karriere zu machen. Um zum Ziele zu kommen, scheuten sie nicht vor einem schamlosen Umbuhlen der Mächtigen zurück. An jeder ihrer Bewegungen, jeden ihrer Gesichtszüge war die mit Skrupellosigkeit gepaarte Kriecherei abzulesen. In all ihren Handlungen und all ihren Reden, die gewöhnlich von revolutionären Phrasen strotzten, war genau zu erkennen, wes Geistes Kind sie waren." (S.21f) Diese neue Herrschaftsschicht, eine Bürokratie in Wirtschaft, Politik und Verwaltung, setzte sich 1929 bei der Aufgabe der "Neuen Ökonomischen Politik" gegen das bäuerliche Russland durch: "Die Geschichte stellte sie vor die Wahl: entweder ihre beherrschende Stellung zu verlieren oder Russland durch die rasche Entwicklung seiner Produktivkräfte radikal umzuwandeln... Das Gewitter entlud sich über Russland und vernichtete die jahrhundertealte patriarchalische Struktur des Landes." (S.51ff)

Diese Form der ursprüngliche Akkumulation erzeugte aber in den neugeschaffenen industriellen Zentren des Landes keine neue soziale Struktur, die den Idealen des Sozialismus entsprochen hätte: "Vielmehr, die kapitalistischen und bürokratischen Methoden festigten sich wieder: Leistungsloben, Trennung von Arbeit und Verwaltung, so dass die Arbeiter nur noch einfache Ausführende waren, Konsolidierung des Lohnempfängersystems, wachsende Ungleichheit der Bezahlung zugunsten der Bürokraten." (S. 58) Damit ist im Kern das wesentliche über die soziale Struktur der damaligen Sowjetunion gesagt und Ciliga kommt zu folgender Einschätzung: "Der Sozialismus ist keine Fabrik, sondern ein System der Beziehungen zwischen den Menschen. Diese Beziehungen, so wie sie in Russland sind, haben nichts Sozialistisches. Die Kollektivierung ist kein Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern ein Duell zwischen staatlichem Großkapital und kleinem Privatkapital." (S. 74) Weiter weist Ciliga sehr klar darauf hin, dass die politische Unterdrückung anderer sozialistischer Strömungen nicht erst mit Stalin begonnen hat: das erste Konzentrationslager sei in Kholmogory am Weißen Meer im Jahre 1922 mit Anarchisten gefüllt worden (S. 112). Im Verlauf seiner Inhaftierung erkennt Ciliga in den Diskussionen zwischen den Verfolgten und Inhaftierten, dass von den Trotzkisten nichts zu erwarten war: "So gelangte ich, der ich selber an der russischen Opposition beteiligt gewesen war, zu folgendem Schluss: Trotzki und seine Anhänger sind dem bürokratischen Regime in der UdSSR zu eng verbunden, um den Kampf gegen dieses Regime bis zur äußersten Konsequenz führen zu können." (S. 118) Durch seine Erfahrungen in den Gefängnissen und den Lagern von Irkutsk, Werchni-Uralsk, und Krasnojarsk gewinnt Ciliga in Sibirien weitere Einblicke in die elende Lage der rechtlosen Bauernschaft und der kujonierten Arbeiterschichten, die nicht zu den Privilegierten gehören. Völlig desillusioniert nutzt er seine italienische Staatsangehörigkeit aus und erreicht, dass er am 3. Dezember 1935 endlich aus der Sowjetunion ausreisen kann, noch rechtzeitig vor den großen Säuberungen, die er als Oppositioneller mit Sicherheit nicht überlebt hätte.

Nicht nur die Frage nach gesellschaftlichen Sicherungen der Meinungs-, Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheiten stellt sich im Angesicht dieser erschütternden Geschichte einer terroristischen Industrialisierung unter der roten Fahne. Nicht nur die Frage nach einer demokratischen Selbstorganisation und –verwaltung ohne Hierarchien und Bürokratien hinter dem Türschild der "Rätemacht" ist durch Ciliga gestellt. Strukturell ist angesichts der Weiterentwicklung von gewaltsam durchgesetzten Transformationsprojekten zu Industriegesellschaften in China, Vietnam und auch Kuba die Frage zu stellen, ob man nicht Abschied nehmen sollte von einer Theorie, die immer wieder und immer noch die Entwicklung der Produktivkräfte zum Fortschritt per se erhebt.

Eine systemkritische Konnotierung der Umwelt- und Klimakrise als Konsequenz des kapitalistischen Akkumulationsregimes ist aus dieser Perspektive nicht zu erwarten. Im Gegenteil, der Linken konnte diese Erkenntnis erst enteignet und dann entschärft werden zu dem, was sich heute als das politischen Projekt eines "Green New Deal" präsentiert. Dieser hält bekanntlich kapitalistische Profitwirtschaft und ein Leben mit den Grenzen der Natur und Ressourcen für vereinbar. Diese Trennung, die in den Gründungsjahren der Grünen überwunden schien, und die linksbürgerliche Vereinnahmung der ökologischen Problematik war auch deshalb möglich, weil Sozialismus mit Fortschrittsmythen identifiziert und die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation in Russland als Aufbau des Sozialismus verklärt werden konnte, wie Ciliga deutlich aufzeigt. Die Warnungen und die Erfahrungen der Libertären, dass es sich um nichts anderes handele als die Vernichtung eigenständiger Bauerngesellschaften, die frühkapitalistischen Mustern entsprechende Versklavung und Unterdrückung der Arbeiterklassen, wurde schlicht nicht bzw. nur von minoritären Gruppierungen der Linken zur Kenntnis genommen.

Wir wissen heute, dass die osteuropäischen Gesellschaften sich zudem durch einen Grad an Umweltzerstörung und –vernutzung auszeichneten, der bis heute an den gesunkenen Lebenserwartungen der dort lebenden Menschen ablesbar ist. Tschernobyl ist zum Menetekel einer auch insoweit beispiellosen industrialistischen Verwüstung von Menschenleben und Natur geworden. Der spätstalinistische Klassenkompromiss zwischen Arbeiterschaft und Politbürokratie kann all das nicht aufwiegen. Und selbst die Zerschlagung des Hitlerfaschismus wird die aufgeklärten Sozialisten nicht vergessen lassen, dass zuvor fast zwei Jahre eine muntere Kooperation Stalins mit dem schon damals massenmörderischen Hitlerregime funktionierte. Es wird Zeit, jede etwaige Nostalgie in dieser Hinsicht endgültig hinter sich zu lassen. Dazu trägt Ciligas Buch erhebliches bei.

STEFAN JANSON

 

"Neue Rheinische Zeitung" online-Flyer 273, v. 27.10.2010

Erfahrungen in der Sowjetunion

Anté Ciliga wurde 1898 in Istrien, damals zu Österreich-Ungarn gehörig, geboren und starb 1992 in Zagreb. Ein Jahr lang war er Auslandsvertreter der Komintern in Wien, als er sich 1925 entschied, in die Sowjetunion zu gehen. Begeistert für die Sache des Proletariats, wollte er an Ort und Stelle die Ergebnisse und Erfahrungen der Oktoberrevolution studieren. Aber bald war er zutiefst enttäuscht, schloss sich der trotzkistischen Opposition an und musste fünf Jahre in Gefängnissen und Lagern durchleben.

Seine Empörung über die soziale Spaltung und die unmenschlichen Verhältnisse führte dazu, dass er auch von Lenin Abstand nahm, weil der Revolutionsführer die Marschrichtung zu diesem „Staatskapitalismus“ einge-schlagen habe, indem die Fabrikkomitees der ArbeiterInnen mit dem Sieg der Bolschewiken durch die Staatsbürokratie wieder enteignet und die Belegschaften zu unterdrückten Lohnarbeiter- Innen dagradiert wurden. 1935 durfte Anté Ciliga als italienischer Staatsbürger endlich ausreisen, nachdem das zunächst mit allerlei Tricks verhindert werden sollte, um der sowjetischen Reputation im Ausland nicht zu schaden. 1941 landete er im Todeslager von Jasenovac, nachdem er von der jugoslawischen KP an die Polizei der Ustascha verraten worden war.

Anté Ciliga beschrieb ausführlich seine Erlebnisse und Eindrücke in der Sowjetunion. In Frankreich erschienen sie 1938 als Buch, das heftige Diskussionen auslöste. Auch Camus und Sartre, so die Herausgeber, waren gegensätzlicher Meinung über die Veröffentlichung, welche die Illusionen über die „Heimat aller Arbeiter“ zerstörte. 1953 erschien die deutsche Übersetzung in der BRD, aber im Vergleich zu Frankreich und Spanien fand sie kaum Resonanz. In Frankreich wurde das Buch mit dem Titel „Au Pays du Grand Mensonge“ (Im Land der großen Lüge) 1977 noch einmal vollständig verlegt. Nach Ciligas Tod erschien der Bericht 1995 auf Kroatisch und gleichzeitig in New York im Jahresband des Journal of Croatian Studies.

Die Erlebnisberichte und Schlussfolgerungen des einmal zutiefst überzeugten kroatischen Kommunisten Anté Ciliga hat der linke Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ nun erneut veröffentlicht. Der Text basiert unter dem Titel „Im Land der verwirrenden Lüge“ auf der deutschen Originalfassung von 1953. Um ihn in den Kontext der Biografie des Autors zu stellen, wurde am Schluss eine biografische Skizze mit einer Würdigung des Menschen Anté Ciliga von dem Autor Stephan Schwartz übernommen.(1)

Der Bericht umfasst etwa 260 Seiten und ist aufgeteilt in zwei Bücher. Das erste Buch beginnt mit schockierenden Enttäuschungen und enthält zahlreiche Beobachtungen, die der Autor eindringlich beschreibt. Als Historiker und Philosoph unterrichtete Ciliga eine Zeitlang an der Leningrader Hochschule und Akademie. Die unzähligen ArbeiterInnen Leningrads hätten den Stolz der Revolution noch an sich, aber gleichzeitig ist von der „roten Bourgeoisie“ die Rede, mit der die neuen MachthaberInnen gekennzeichnet werden. Die Ermordung des Leningrader Gouverneurs Kirow löste eine Verfolgungswelle aus, durch die Tausende von ArbeiterInnen nach Sibirien verbannt wurden. Im Milieu der neuen KarrieristInnen passten sich die Leute an. Die Wissenschaft wurde nach den Wünschen der Parteiführung manipuliert, der Lebensstandard einer neu entstehenden Führungselite lag mit seinen materiellen Privilegien deutlich über dem der gehorchenden ArbeiterInnen, die unter schwierigsten Bedingungen arbeiten mussten und kaum das Nötigste zum Leben hatten. Diese Einteilung galt sogar in den Gefängnissen. Haft- und Todesstrafen wurden häufig wegen Vergehen verhängt, die aus blanker Not begangen wurden. Die neu entstehende Klassengesellschaft stieß ihn ab. Ciliga sympathisierte mit dem einfachen Volk und schloss sich der trotzkistischen Opposition an, die mit der rigiden Durchsetzung des Ersten Fünfjahrplanes in die Fänge des allgegenwärtigen Geheimdienstes GPU geriet. Er kam ins Gefängnis, wo die Verhöre nur nachts stattfanden und Mitgefangene von Folterungen berichteten. Damit begann sein fünfjähriger Leidensweg durch das Labyrinth der sowjetischen Gefangenenlager bis nach Sibirien, von dem das zweite Buch handelt.

Die Berichte fallen unter die „desillusionierende Literatur“, die vor dem zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges wegen ihrer möglichen Demotivierung im Kampf gegen den Faschismus und gegen Restauration und Imperialismus zum ideologischen Arsenal der Konterrevolution gerechnet wurde. Selbst unter den TrotzkistInnen gab es eine massive Ablehnung, als Ciliga die Politik Lenins kritisierte. Der Text beinhaltet durchaus eine neue Aktualität nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Machtbereichs, weil er retrospektiv gelesen einen Grundstein des Scheiterns sichtbar werden lässt. Gefängnisse und Lager waren keine Randerscheinungen in dieser Gesellschaft. Die gesellschaftliche Polarisierung in Henker und Opfer mit ihren verzweigten Grauzonen richtete das Handeln vieler Menschen aus. Die Gesellschaft lebte alltäglich mit dieser Gewalt, sie wurde traumatisiert, verrohte und verleitete zum Opportunismus. Wie sich diese Stimmung und die Vorteilnahme in der sowjetischen Gesellschaft von oben aus breit machten, veranschaulichen die Berichte an einigen Stellen.

Der spanische Anarchist Abel Paz, Mitstreiter und Biograf des legendären Anarchisten Durruti, gab während einer Veranstaltung im Kölner Allerweltshaus auf die Frage aus dem Publikum nach der Aussicht auf eine neue Revolution in Europa die Antwort, diese habe sich mit dem Verrat an der Spanischen Revolution und den zahllosen negativen Erfahrungen der Menschen mit der stalinistischen Herrschaft in Mittelosteuropa auf unabsehbare Zeit erledigt.

Meiner Meinung nach müssen die inzwischen sehr verschwommenen und diskreditierten Begriffe Sozialismus und Kommunismus im Lichte der Erfahrung von Unmenschlichkeit und Scheitern ganz neu hinterfragt und diskutiert werden. Eine Aufarbeitung der Verbrechen ist bisher nur unzureichend geschehen, sei es aus Scham oder aus Angst vor dem Verlust von Illusionen oder um das Lehrgebäude des dogmatischen Marxismus nicht allzu sehr zu beschädigen. Mit der Neuauflage dieser erschütternden Berichte des jugoslawischen Kommunisten Anté Ciliga haben die Herausgeber einen mutigen Beitrag geleistet, der bei AntikapistalistInnen nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt und bei Einigen sogar wieder den alten Tonfall über den vermeintlichen Klassenverrat herauszulocken vermag. Aber ohne sich der Tatsache der sozialen Spaltung und Gewaltexzesse im sowjetischen Machtbereich zu stellen, wird es einen Weg in eine humanere, nachkapitalistische Gesellschaft nicht geben. Auch die Herausgeber schreiben im Vorwort, es sei lächerlich, sich an die Vorstellung zu klammern, dass sich dieses System in ähnlicher Weise noch einmal wiederholen könnte, es sei denn als Alptraum. Und damit lassen sie Rosa Luxemburg zu den Problemen der Russischen Revolution auch noch einmal zu Wort kommen. (PK)

(1) Revolutionary History (http://revolutionaryhistory.co.uk/euro/ciliga.html.)

WERNER RUHOFF

 

"Direkte Aktion" Nr. 262

Marxistischer Dreisatz

AntE Ciligas Odyssee durch die Sowjetunion. Eine Buchbesprechung.

Wenn ich alte marxistische Traktate über die Sowjetunion lese, überkommt mich meist ein mentaler Brechreiz. Das mag dem Privileg geschuldet sein, heute Geschichte aus einer anderen Warte beurteilen zu können. Schließlich hätte man ja selbst, wie ein Großteil der internationalen Arbeiterbewegung, dem Mythos vom "Heimatland aller Werktätigen" auf den Leim gehen können. Auch manch Anarchistin war davor nicht gefeit. Doch spätestens seit dem 1921 niedergeschlagenen Aufstand von Kronstadt war die Positionierung in der anarchistischen Bewegung eindeutig, wurde genug Wissen über den "Arbeiter- und Bauernstaat" gestreut. Und nicht zuletzt gab es in den Jahren, ja Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution eine Debatte in der Arbeiterbewegung, unter welcher revolutionären Strategie sich diese formieren muss, um eine freie Gesellschaft hervorbringen zu können. Nein, mangelnde Informationen über das Wesen des Bolschewismus können es nicht gewesen sein.
So ist es immer wieder erschütternd festzustellen, zu welchem Luftschloss sich noch Jahre später viele Linke die Sowjetunion ausmalten. Dies gilt auch für den jugoslawischen Kommunisten Anté Ciliga, der 1926 in die Sowjetunion auszog, um fast zehn Jahre später, nach einer leidvollen Odyssee, als Gegner des Leninismus hinauszukommen. Seine Erfahrungen schrieb er 1936 bzw. 1941 in zwei Bänden nieder, die bis in die 1960er zu Diskussionen in der europäischen Linken beitrugen. Noch in den 1970ern veröffentlichten auch spanische Anarchisten Ciligas Abrechnung mit der Sowjetunion. In Deutschland wiederum erschien lediglich 1953 eine stark gekürzte Übersetzung des französischen Originals, die von der Linken weitestgehend ignoriert wurde, sicherlich auch, weil sie im Rahmen einer dezidiert antikommunistischen Buchreihe erschien. Nun haben Jochen Gester und Willi Hajek Ciligas Aufzeichnungen aus dem "Land der verwirrenden Lüge" wieder herausgegeben und der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht.

Schattenriss einer Gesellschaft

Die Lektüre des Buches lohnt sich allemal, allein schon wegen der persönlichen Impressionen vom Innenleben der Sowjetunion. Was dabei Ciligas "Feldforschungen" so besonders macht, ist, dass er die Sowjetunion in ihren verschiedensten Facetten kennen lernen konnte: Er kam sowohl mit einfachen ArbeiterInnen in Berührung wie auch Studenten und der Intelligenzija; er hatte Einblicke in die Bürokratie und war selbst als politischer Kader aktiv. Als Oppositioneller lernt er letztlich die Verbannungsorte, Lager und Gefängnisse von innen kennen mit ihren Insassen aller Couleur. Auf diese Weise zeichnet Ciliga anhand verschiedener "sozialer und psychologischer Typen" das Bild einer Klassengesellschaft, die er als "staatskapitalistisch" bezeichnet. Ein "neue Aristokratie" aus Bürokraten und Parteifunktionären habe die Privilegien der alten Eliten geerbt, nur um die Arbeitermassen mit den Methoden Machiavellis und Napoleons brutaler zu knechten, als es je im Kapitalismus der Fall gewesen. Immer wieder lässt Ciliga die Hoffnung durchblicken, dass sich die "historische Mission" der gerade darbenden ArbeiterInnen doch noch erfüllen könnte. Denn: "Eine Klasse ergibt sich nicht, sie kämpft". Das ist für Ciliga die notwendige Implikation einer Klassengesellschaft.
Zu einer "radikalen Kritik" nicht nur der "stalinistischen Exzesse", sondern auch der "leninistischen Vorstellung von Masse und Avantgarde" soll die Neuauflage des Klassikers den Herausgebern zufolge beitragen. Das tut sie zwar, doch lässt die analytische Tiefe etwas zu wünschen übrig - ein Umstand, der auch der Tatsache verschuldet ist, dass in der Neuauflage erneut zentrale Passagen fehlen, die bereits in der deutschen Erstübersetzung unterschlagen wurden. Dies gilt vor allem für das Kapitel, in dem Ciliga in einer Art kritischem Dreisatz von Stalin über Trotzki zu Lenin gelangt, um endlich auch diesen vom Sockel zu stürzen. Seine Reflexionen bleiben aber auch in gekürzter Wiedergabe stets plausibel.

"Lenin auch" - wer noch?

Wird Ciliga aus der konkreten Erfahrung mit Stalins Regime heraus zunächst in der trotzkistischen Opposition aktiv, wendet er sich schon bald auch von Trotzki ab. Diesem wirft er vor, den Systemcharakter der gesellschaftlichen Probleme zu leugnen, wenn er die Sowjetunion lediglich für einen durch die Politik der stalinistischen Bürokratie "deformierten Arbeiterstaat" halte. Wer Trotzkis "Verratene Revolution" gelesen hat, weiß wovon Ciliga spricht. Die Grundlagen des Sowjetsystems verteidigte Trotzki, der selbst die "Militarisierung der Arbeit" und die sowjettypische Arbeitsfront organisiert hatte, vehement, ebenso wie die Politik der Turboindustrialisierung. In Anbetracht dieser sowjetischen Auswüchse, der Millionen Menschen zum Opfer fielen, wirkt Trotzki mit seiner Kritik an wirtschaftspolitischen Details wie ein Korinthenkacker. Nicht umsonst gaben viele trotzkistische Oppositionelle Ruhe, als sie Trotzkis Programm von Stalin verwirklicht sahen. Darauf verweist auch Ciliga, der den Konflikt zwischen Stalin und Trotzki als Fraktionskampf in der herrschenden Elite wertet.
In Konsequenz schwört Ciliga denn auch der heiligen Ikone Lenins ab, denn "die russische Revolution war … ein organisches Ganzes. Und Lenin konnte nicht als daran unbeteiligt angesehen werden." Als entscheidende Weichenstellung gilt Ciliga dabei die Phase ab 1919, in der den ArbeiterInnen die in Kollektivproduktion betriebenen Fabriken entrissen und der Bürokratie untergeordnet wurden. Mit dieser Monopolisierung sowohl der politischen als auch der wirtschaftlichen Macht in den Händen des Staats habe Lenin "ein totalitäres und bürokratisches Regiment auf den Thron gesetzt". Infolge dieser Erkenntnis stellt sich Ciliga auf den Standpunkt der bereits 1922 zerschlagenen "Arbeiteropposition" (siehe Artikel unten).
So plausibel die Kritik an Lenin als Politiker klingt, als Erklärung für die Entwicklung der Revolution ist sie zu sehr subjektbezogen, wenn sie deren Tragik an der "Entfremdung zwischen ihm [Lenin] und den Massen" festmacht. Revolutionen haben komplexe Dynamiken, deren Verlauf entscheidend davon abhängt, wie sich die daran beteiligten Bewegungen zuvor formiert haben. Daher der bekannte anarchistische Leitspruch, dass die revolutionäre Organisation der Embryo der neuen Gesellschaft sein muss. Doch die Bewegung um Lenin hatte sich, wie fast die gesamte alte marxistische Bewegung, über autoritär organisierte Parteien formiert mit dem Ziel, die staatliche Macht zu erobern. In dieser revolutionären Strategie spielte ein Sozialismus von unten bzw. der Gewerkschaftssozialismus - wie ihn auch die Arbeiteropposition z.T. wünschte - von vornherein keine Rolle. Wer die russische Tragödie verstehen will, muss in die Zeit zurückgehen, wo diese strategischen Weichen gestellt wurden - und den Mut haben, auch den letzten Heiligen zu entehren.

HOLGER MARCKS

 

"Weltrevolution" Nr. 163

Zeugnis einer fast verschütteten Debatte

1953 erschien mitten im Kalten Krieg in der Reihe »Rote Weißbücher« im Verlag für Politik und Wirtschaft Ante Ciligas Aufzeichnungen »Im Land der verwirrenden Lüge«. Gekürzt aufgelegt als anti-kommunistische Agitationsausgabe bei Kiepenheuer und Witsch, dem damaligen »Hausverlag« des Gesamtdeutschen Ministeriums. Die schon längst vergriffene Ausgabe ist in dem Berliner Kleinverlag »die Buchmacherei« neu erschienen. Diese Wiederveröffentlichung ist nun eingebettet in die Wiederaneignung eines Teils der verschütteten linkskommunistischen Geschichte. Es gibt ein neues Vorwort der Herausgeber und ein biografisch interessantes Nachwort.
Worin besteht der besondere Wert von Ante Ciligas Aufzeichnungen? Kritik aus revolutionärer Perspektive hatte es schon vor ihm gegeben: Früh wurde die anarchistische Kritik, wie Alexander Berkmans 1925 erschienenes Buch »Der Bolschewistische Mythos – Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922«, bekannt. Panait Istrati hatte nach seiner zweiten Reise 1929 durch das post-revolutionäre Russland die Lage der Arbeiterklasse dramatisch geschildert (dieses Buch erschien 1929 auf französisch und 1930 auf deutsch). Victor Serges aus Russland herausgeschmuggelter Brief entwarf schon 1933 ein beklemmendes Bild der politischen Enge und Repression. Was Ante Ciliga auszeichnet ist sein besonderes Drama: Im Herbst 1926 wurde er von der jugoslawischen KP aus seinem Exil in Österreich, wo er als Delegierter der KPJ im Balkansekretariat der Komintern tätig war, an die Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten des Westens in Moskau entsandt, 1927 nahm er Kontakt mit der trotzkistischen Opposition auf, damit begann seine Reise durch Knast, Lager und Verbannung. Die Jahre 1931 – 33 verbrachte er im Lager »Isolator« in Werchne-Uralsk und nahm dort aktiv teil an den Auseinandersetzungen zwischen den diversen trotzkistischen Gruppen, der Arbeitergruppe und den Dezisten, an deren Ende die Gründung der »Föderation der Linkskommunisten« stand.
 
Dieser Text möchte untersuchen, wie diese Diskussion durch die Veröffentlichung des Buches in die internationale revolutionäre Diskussion eingeflossen ist. Wie die Diskussion der russischen Linken – die sämtlich liquidiert wurden – die internationalistische linkskommunistische Auseinandersetzung nach einigen Jahren doch noch bereichern konnte. Vorangestellt ist ein Blick auf die Generation der »Bewegung für die Befreiung der Arbeiterklasse« und eine kurze Skizze der diskutierten Themen.
 
Generation 1917

Verfügte Ante Ciliga über eine besonders geniale Persönlichkeit, die ihn zu einer solchen Erfahrung befähigte? Nein – er war wie seine ganze Generation 1917 euphorisiert worden. Viele verbanden wie Ciliga ihre eigene elendige Situation mit der ihrer ganzen Klasse. Der Kampf der russischen Arbeiterklasse riss den Horizont auf für eine emanzipatorische Zukunft und machte zugleich offenkundig, wer den Schlüssel zu dieser in der Hand hatte. Das Ende des imperialistischen Weltgemetzels schien greifbar nahe. Hunderttausende junge Arbeiter in Europa traten ein in die »Bewegung für die Befreiung der Arbeiterklasse« (so Agis Stinas über sein Engagement als Jugendlicher 1917). Sie nahmen an vorderster Front Teil an den Klassenkämpfen in ihren Ländern, sie beteiligten sich an den Auseinandersetzungen mit Sozialdemokraten und innerhalb der Gewerkschaften für eine revolutionäre Politik und gegen die staatlichen Institutionen und den Krieg. Sie wurden durch die revolutionäre Welle zu Revolutionären gemacht und als Revolutionäre nahmen sie an ihr begeistert teil. Auch Ante Ciliga war als Soldat der k.u.k Armee von der russischen Revolution begeistert. Er organisierte sich gleich in dem linken Flügel der kroatischen Sozialdemokraten, nahm an der ungarischen Räterepublik teil und polemisierte 1919 innerhalb der Partei für die Weltrevolution. Hunderttausende seiner Generation gingen den gleichen Weg und bauten die kommunistische(n) Partei(en) mit auf. Die russische Revolution und die Gründung der Kommunistischen Internationale war für sie der Beginn der Weltrevolution. Ihre Arbeit in der Arbeiterklasse und in der Partei war Teil dieser weltweiten Kampfbewegung. Konnte diese Kampfwelle erlahmen? Konnte diese Partei Fehler machen oder gar zu einer konterrevolutionären Kraft werden? Bis auf wenige spektakuläre Ausschlüsse (z. B. Boris Souvarine 1924) und die besondere Entwicklung in Italien und Deutschland blieben die meisten Revolutionäre mindestens bis 1926 (Agis Stinas gar bis 1931) in der Partei, obwohl die Degeneration der Revolution und ihrer Organisationen immer offensichtlicher wurden. Ciligas Weg ist auch hier typisch: »Während meiner Haft im »Isolator« beteiligte ich mich erst spät an Diskussionen über Lenins Rolle. Ich gehörte einer Generation junger KommunistInnen an, für die Lenin unantastbar war. Für mich stand außer Frage, dass er immer recht gehabt hatte. Die Ergebnisse - die revolutionäre Eroberung der Macht wie ihr Erhalt - sprachen schließlich dafür. Dadurch waren für mich und meine Generation sowohl Taktik als auch Mittel gerechtfertigt.«

Die »kommunistische Linke« in Russland

Die Opposition der russischen Linken hatte sich in der Regel um einen Antrag auf den jährlichen Parteikongressen Anfang der 20er organisiert. So führten die Demokratischen Zentralisten auf dem IX. Parteitag vom März-April 1920 ihre Kampagne gegen die »Militarisierung der Arbeit«, die Arbeiteropposition auf dem X. Parteikongress im März 1921 die sogenannte Gewerkschaftsdiskussion. 1921 kam Kronstadt und das Fraktionsverbot. Die Arbeitergruppe um Gavriel Miasnikow (ehemaliges Mitglied der Arbeiteropposition) veröffentlichte ihr Manifest zum XII. Parteitag 1923 und intervenierte illegal in der Streikwelle. Damit wurde klar zum Ausdruck gebracht: das Klassenterrain zu diesem Zeitpunkt umfasste den Kampf in der Partei und an der Seite des kämpfenden Proletariats. Doch der Niedergang der Revolution schritt weiter fort.
 
Als Ciliga Ende 1930 im Lager eintraf, waren fast alle übriggebliebenen Militanten der Opposition im Lager oder der Verbannung. Beeindruckend ist, welche Tiefe und Ernsthaftigkeit die Diskussion im Lager annahm. Die Gruppen hielten Sitzungen ab und jede Tendenz gab ihre eigene Zeitung heraus. Die Diskussionen waren bestimmt von »sozialistischen Illusionen«, viele Linke hatten sich mit Trotzki am »linken« Kriegskommunismus orientiert und jede noch so radikale Kritik an der NEP war letztendlich ein Plädoyer für die Kollektivierung (die Stalin nach seinem »Linksschwenk« scheinbar Trotzkis Plan folgend durchführte). Doch auch die Kritiken aus der Arbeiterperspektive, die mit Trotzki gebrochen hatten, gingen letztendlich davon aus, dass der Sozialismus in Russland aufzubauen sei. Andere sahen die historische Klemme und verwarfen nicht nur die Möglichkeit des »Sozialismus in einem Land«, sondern stellten gleich den proletarischen Charakters der Revolution von 1917 in Frage. Die Diskussionen im Lager waren somit ein Panoptikum angefüllt mit Leidenschaft, aber von Ungenauigkeiten und Verwirrungen. Konnte die Diktatur des Proletariats, die eine Diktatur der Partei geworden war, als eigenständige Gesellschaftsform »in Richtung auf den Sozialismus« bezeichnet werden. Nach zehn Jahren war die internationale Ausweitung ausgeblieben, welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
Zusätzlich beachtenswert ist an Ante Ciligas Buch, dass er nicht nur die Diskussion um die politische und ökonomische Macht in Russland nachzeichnet, sondern sich auch bemühte die soziale Realität der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in Russland einzufangen. Die Berichte über das Massensterben auf dem Land erreichten die Lager, die Lage der Arbeiterklasse war verheerend. Nach dieser Bestandsaufnahme erfolgte für Ciliga und andere nicht nur der Bruch mit dem herrschenden russischen Stalinismus, sondern auch mit dem Trotzkismus.
 
Miasnikow in Paris

Die Analysen der russischen Linken waren in den 20ern einer kleinen Schar von oppositionellen Linken in Westeuropa bekannt. 1923 verteilte die KAI in Berlin Flugblätter gegen die Repression der Arbeitergruppe, 1923 und '24 veröffentlichte Worker's Dreadnought Texte der Arbeitergruppe auf englisch, 1925 besuchte Sapranow als Vertreter der Dezisten illegal Karl Korsch, 1927 veröffentlichten »le reveil communiste« und »von den aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkämpfern« (übersetzt von Hedda Korsch) die Plattform der 15. Somit waren die Diskussionen der linken Kommunisten bereits bekannt, als 1930 Gavriel Miasnikow nach Knast und Folter nach Paris fliehen konnte. In Paris schließt sich Miasnikow der Gruppe »l'ouvrier communiste« (ein Nachfolgeprojekt von »le reveil communiste«) um Pappalardi (ehemaliges Gründungsmitglied der italienischen Fraktion) an. Warum führte dies nicht zu einer Umgruppierung der oppositionellen Kommunisten im Allgemeinen und der internationalistischen Linken im besonderen?
 
Zehn Jahre nach der Oktoberrevolution hatte sich die Welt dramatisch gewandelt. Die Revolution in Deutschland war blutig unterdrückt und spätestens 1923 hatte die Arbeiterklasse eine herbe Niederlage erleiden müssen. Der britische Generalstreik 1926 war niedergeschlagen worden und die chinesischen Revolutionäre wurden mehrmals der Konterrevolution ausgeliefert, bevor 1929 die Weltwirtschaftskrise ausbrach. Die euphorische Stimmung war abgeklungen, die wenigen Revolutionäre, die sich außerhalb der bereits stalinisierten Parteien organisierten, waren eingeklemmt zwischen Stalinismus und Faschismus. Frankreich war zwar das Zentrum der internationalen Diskussion, KommunistInnen aus Deutschland, Italien, Rumänien usw. fanden sich hier ein, doch beschränkte dieses Milieu sich auf einige Dutzend. Die Tiefe und Dramatik des historischen Wendepunktes war zwar spürbar, jedoch noch nicht analysiert. In welcher historischen Phase befinden wir uns? Welche politischen und organisatorischen Schlüsse sind daraus abzuleiten?
 
Die Gruppe »l'ouvrier communiste« um Miasnikow war politisch stark der Traditionslinie der KAPD verpflichtet. Somit waren sie früh dazu in der Lage, das politische Scheitern der russischen Revolution festzustellen. Doch befand sich nach ihrer Analyse nicht nur der Kapitalismus in seiner Todeskrise, sondern wir befanden uns weiterhin in einer offenen revolutionären Phase. Welche Probleme diese Analyse mit sich zog, erkennen wir im nächsten Abschnitt.
 

Internationalistische Diskussion in Frankreich

Während Trotzki innerhalb der Arbeiterklasse Russlands wegen der »Militarisierung der Arbeit« verhasst war, galt er für die meisten kommunistischen Oppositionellen außerhalb Russland nach seiner Ausweisung 1929 als tadelloser Führer der Weltrevolution. Trotzki strebte sofort eine Umgruppierung an. Alfred Rosmer wurde nach Deutschland geschickt, französische Genossen reisten nach Prinkipo. Trotzkis Entscheidungskriterium für eine Zusammenarbeit war die Haltung zum russischen Staat. So brach er mit den »Korschisten« und lobte die »linke Fraktion der PCI« für ihr Gründungsmanifest von Pantin 1927 und den Bruch mit »le reveil communiste«. Die italienische Fraktion akzeptiert 1930 Trotzkis Plattform der ILO als Grundlage der Diskussion. Während »le reveil communiste« 1929 in einem offenen Brief an die Basis der PCF und der Kommunistischen Internationalen die Möglichkeit einer Wiederbelebung der KI verwirft und die fraktionelle Orientierung der Trotzkisten und Bordigisten (so wurde die Fraktion um die Zeitschrift »Prometeo« bezeichnet) als konterrevolutionär denunzierte.
 
An dieser Stelle müssen wir innehalten und uns den Hintergrund der Diskussion verdeutlichen. Tiefere Grundlage für die unterschiedlichen Einschätzungen (innerhalb der Linkskommunisten von »Prometeo« und »le reveil communiste« und den Trotzkisten) ist nicht die Frage des »Staatskapitalismus«, sondern die Analyse der historischen Phase. Hier verläuft die Frontstellung für die folgenden Jahre. »le reveil communiste« (und ab 1930 »l'ouvrier communiste«) geht ähnlich wie Trotzki von einer offenen revolutionären Phase aus. Dieser kann sich nicht von der Einschätzung der »revolutionären Phase« trennen und orientiert sich ab 1933 hin zum Aufbau einer neuen (vierten) Internationale. Die Analyse der historischen Phase ist also eng verbunden mit der Frage der Organisierung. Kein Wunder, dass der Bruch zwischen Fraktion und Trotzki schon 1931/32 erfolgt. Die Fraktion entschließt sich gegen solche voluntaristischen Abenteuer und für das intensive Studium der dramatischen Kernfragen: wie konnte die erste erfolgreiche proletarische Revolution solch ein Gebilde hervorbringen, wie konnte die Führerin der Weltrevolution – die KI – zu einer Kraft der Konterrevolution werden, wie konnte sich die Phase des revolutionären Aufbegehrens und der Euphorie in eine der Desillusionierung und Isolation wenden? Angetrieben von diesen Fragen wurde 1933 Bilan gegründet.
 
Die ernsthafte und tiefe Analyse der russischen Revolution befähigte die Fraktion dazu, einige wichtige Prinzipien zu konkretisieren, hierzu zählen insbesondere die Kritik der nationalen Befreiungsbewegungen und die Kritik der demokratischen Illusionen. Die größte Prüfung kam mit dem spanischen Bürgerkrieg. Die UdSSR und ihre Kommunistischen Parteien traten als imperialistische Macht mit Deutschland und Italien in den europäischen (wenn nicht schon in den globalen) Machtkampf ein, Trotzki sprang ihnen an die Seite und sah eine neue »revolutionäre Phase« eintreten. Doch auch die vielen linkstrotzkistischen Gruppen, die bereits mit Trotzki gebrochen hatten, und auch die Minderheit der Fraktion schlossen sich dieser »revolutionären Hoffnung« an. Spätestens hier erkannte die Fraktion das Gift der antifaschistischen Ideologie.
 
Umgruppierung und Bereicherung während des 2. Weltkriegs

Die Politik der Volksfront und des Antifaschismus hatten den internationalen Klassenkampf in die Irre geführt und das Klassenterrain verlassen. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs verschärfte die Lage noch mehr. Die Reste der revolutionären Linken waren desorientiert, die trotzkistischen Gruppen hatten endgültig das eine oder andere imperialistische Lager gewählt. Doch traten erstmals wieder neue und junge Militanten auf. Der Kern der zukünftigen französischen Fraktion orientierte sich an den Lehren der Arbeit von Bilan und war ab 1941 gar wieder in der Lage jährliche Konferenzen abzuhalten. Der Vormarsch der Nationalsozialisten hatte die RKÖ/RKD ins Exil nach Frankreich und Belgien getrieben. Als ursprünglich trotzkistische Organisation hatten sie 1938 als einzige gegen die Gründung der IV. Internationalen gestimmt und entwickelten einen unnachgiebigen revolutionären Defätismus. Die Wühlarbeit der RKD, die Flugblätter unter deutschen Soldaten und unter der französischen Zivilbevölkerung zur Fraternisation verteilte, war Orientierung für alle Revolutionäre, die die Aufgabe des Klassenterrains nicht mitmachen wollten. So gründeten sich um die RKD 1942 die »communiste revolutionaire«. Die RKD und die CR schrieben und verteilten teilweise zusammen mit dem Kern der späteren französischen Fraktion Flugblätter, und sie begannen eine vertiefende Diskussion über die russische Frage. In dieser Diskussion spielte das Buch von Ciliga eine große Rolle. Nun kamen unnachgiebiger Internationalismus, Einschätzung der historischen Phase und Arbeiterperspektive (»von unten«) in der Diskussion zusammen und machten es möglich, dass die Positionen der italienischen, deutschen und russischen Linken sich gegenseitig befruchteten.
Die Linkskommunisten in der Tradition der italienischen Linken waren bisher sehr skeptisch gegenüber der frühzeitigen Einschätzung des russischen Staates als »Staatskapitalismus« gewesen. Ihnen war es wichtiger, eine fundamentale Bilanz der revolutionären Welle zu ziehen und sich daran zu organisieren.
Der Fraktion gelang es, sich durch die gemeinsame illegale Arbeit und tiefen Diskussionen, die ernsthaften Auseinandersetzungen, die Ante Ciliga aus dem Lager schildert, anzueignen. Es ist nun keine Überraschung mehr, dass auch um diese Zeit herum das Studium von Rosa Luxemburg intensiviert wurde und die Auseinandersetzung mit der deutsch-holländischen Linken ernsthaftere Formen annahm. Internationalistische Perspektive und die Überzeugung, dass die Revolution nur die Sache der Arbeiterklasse selbst sein könne, waren der Kern des Linkskommunismus. 1943 stellt die Konferenz der Fraktion erstmals fest, dass die UdSSR »staatskapitalistisch« sei. Doch war dies nun kein Label, sondern fußte auf dem Kampf um eine revolutionäre Position in den düstersten Zeiten des Weltgemetzels und der Konterrevolution. Zum 1. Mai 1945 verteilten RKD, CR und die Fraktion gemeinsam ein Flugblatt an die Proletarier in Russland, Italien, Deutschland, Frankreich .... »Vorwärts zur kommunistischen Weltrevolution!«
Diese revolutionäre Position ist bis heute nicht abgebrochen, doch um die heutigen Aufgaben auf den historischen Lehren aufzubauen, müssen diese erstmal wieder freigeschaufelt und angeeignet werden. Die Herausgeber des Ciliga Buches sind ebenso um das »historische Erbe des Marxismus« bemüht und beziehen sich mit Rosa Luxemburg auf die Grundlage jeder revolutionären Veränderung der »lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen« - dem ist zuzustimmen. Das Interesse an der Wiederaneignung scheint vorhanden, die erste Auflage ist schon ausverkauft und eine Diskussionsveranstaltung in Berlin brachte dreißig Interessierte GenossInnen zusammen.

Aus „Weltrevolution" Nr. 163 (http://de.internationalism.org/)

 

"analyse & kritik" 556

vom linkskommunisten zum ustascha-freund

1926 fuhr der kroatische Kommunist Ante Ciliga voll Begeisterung in die junge Sowjetunion. Dort wurde er schnell zum Kritiker der sowjetischen Entwicklung. Zunächst sympathisierte er mit der trotzkistischen Opposition, der er aber bald vorwarf, lediglich Symptome zu kritisieren. Seitdem reklamieren einige rätekommunistische und anarchistische Gruppen Ciliga für sich. Das könnte sich jetzt ändern. Denn der Berliner Verlag Die Buchmacherei hat Ciligas Schrift über seine Jahre in der Sowjetunion aufgelegt und auch seinen weiteren Werdegang nicht verschwiegen. Genau schildert Ciliga das Leben in Sibirien, wohin er in den 1930er-Jahren mit vielen anderen Oppositionellen deportiert wurde. Auch die soziale Realität beschreibt der Autor präzise. So hatte sich 15 Jahre nach der Oktoberrevolution die Lohnschere wieder weit geöffnet: SpezialistInnen konnten jetzt 20 Mal so viel verdienen wie einfache ArbeiterInnen. Doch Ciliga kam zunehmend auch zu äußerst zweifelhaften Urteilen. So behauptete er, viele Sowjetmenschen würden auf eine Besetzung durch NS-Deutschland hoffen. Obwohl er in die USA hätte emigrieren können, kehrte er in das von der faschistischen Ustascha regierte Kroatien zurück. 1944 floh er vor den Tito-Partisanen nach Deutschland. "Er war neugierig auf die sozialen Verhältnisse in Deutschland zwischen dem NS-Staat und den Massen", bagatellisiert der britische Historiker Stephen Schwartz im letzten Kapitel diesen Schritt. Anfang der 1990er-Jahre wurde Ciliga noch einmal auf unrühmliche Weise bekannt, weil der ultrarechte kroatische Präsident Tudjman Ciligas Angriffe auf die von der Ustascha ermordeten Juden wiederholte und damit einen internationalen Skandal ausgelöste. Als Stichwortgeber für Links- oder RätekommunistInnen taugt ein solcher Mann also keineswegs.

Peter Nowak

 

"Neues Deutschland" 12.2.2011

das grosse rätsel stalinismus

Es ist bezeichnend, dass anlässlich des Todes des ehemaligen ZK-Mitglieds der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Verfolgten des Stalinismus und Verfasser eines der ersten größeren Berichte eines Überlebenden des Gulag, Anté Ciliga, im Jahr 1992 in Deutschland lediglich ein Nachruf erschien. Bei diesem handelte es sich zudem um eine Übersetzung eines Artikels des französischen marxistischen Historikers Philippe Bourrinet. Es ist ebenso bezeichnend, dass Bourrinet hier Ciliga eine überragende Bedeutung bei der Analyse des Stalinismus durch die linken Dissidenten der kommunistischen Bewegung und ihres Kampfes gegen diesen zuerkannte. Ciliga sei, so Bourrinet, »durch sein 1938 erschienenes Buch ›Au pays du grand mensonge‹ zum Sinnbild der Opposition gegen den Stalinismus und das unter Lenin, Trotzki und Stalin errichtete bolschewistische System des Staatskapitalismus« geworden.
Dass Ciligas Bericht in Deutschland bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist, während er in Frankreich, den USA und Großbritannien unter Linken zunächst nach seinem erstmaligen Erscheinen 1938, dann nach dem Zweiten Weltkrieg und zuletzt in den 70er Jahren (von der bei Champ Libre 1977 herausgegebenen Taschenbuchversion sollen in Frankreich 200 000 Exemplare verkauft worden sein) intensiv in der antistalinistischen Linken diskutiert wurde, verdeutlicht auch den lange Zeit provinziellen Charakter der bundesrepublikanischen Linken. Hinzu kam, dass die einzige Übersetzung 1953 in der Reihe »Rote Weißbücher« des im Kalten Krieg streng auf der Linie des Westens agierenden Verlages für Politik und Wirtschaft erschien, die nicht nur wegen ihres stark gekürzten Charakters das Buch für Linke wenig attraktiv machte.
Dabei hat »Im Land der verwirrenden Lüge«, so die deutsche Übersetzung des Titels, mehr zu bieten als eine autobiografische Skizze des Leidenswegs des 1926 als Lehrer an die jugoslawische Parteischule in der Sowjetunion übergesiedelten Kommunisten, seinen Weg in die um Trotzki herum organisierte Linke Opposition und schließlich die Geschichte seiner Verbannung in die verschiedenen Lager des sowjetischen Gulag.
Zunächst stellte Ciligas Bericht erstmalig die Diskussionen innerhalb der verschiedenen verfolgten Fraktionen der bolschewistischen Partei dar, die Ende der 30er Jahre im Westen noch weitgehend unbekannt waren und heute längst wieder vergessen sind. Die Positionen nicht nur der verschiedenen Gruppen der Linken Opposition, von Ciliga zunehmend als »Opposition innerhalb der herrschenden Bürokratie« klassifiziert, sondern auch kleinerer auf die Selbsttätigkeit der entmündigten russischen Arbeiterklasse ausgerichteten Gruppen wie der Arbeitergruppe oder der Demokratischen Zentralisten (Dezisten) wurden so einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dass dies ausgerechnet durch einen Häftling geschehen konnte, wirft ein bezeichnendes Bild auf die Sowjetunion der 30er Jahre, denn, so Ciliga, das Gefängnis sei in Sowjetrussland der einzige Ort gewesen, »an dem sich die Leute auf mehr oder weniger ernsthafte Weise ausdrücken können«.
Aber auch in der von Bourrinet angedeuteten analytischen Hinsicht hatte und hat im »Land der verwirrenden Lüge« Interessantes zu bieten. Denn entgegen den in den 30er Jahren noch präsenten Analysen des Stalinismus als Bonapartismus oder eines »bürokratisch entarteten Arbeiterstaates« (Trotzki), die den sozialistischen Charakter der Sowjetunion nicht grundsätzlich in Frage stellten, beschreibt Ciliga die Entwicklung des Landes als einen Sieg des »Staatskapitalismus über den Privatkapitalismus« und »staatliche Diktatur über das Proletariat«, wie er sie auch im Westen durch Faschismus und New Deal zu beobachten glaubte. Belegt wird dies durch die zahlreichen Darstellungen der Lebensrealität der sowjetischen Arbeiter und Bauern und ihrer spezifischen staatlich organisierten Ausbeutungsbedingungen, für die der Funktionär Ciliga sich einen präzisen Blick erhalten hatte. So kommt er zu einem deprimierenden Fazit bezüglich der auch im Westen bewunderten Aufbauleistungen des jungen Sowjetstaates: »Die gigantischen Verwirklichungen des Fünfjahresplans waren das Werk von Sklavenarbeit. Die gesellschaftliche Lage der theoretisch freien Arbeiter unterschied sich übrigens nicht wesentlich von der der Arbeiter, die nicht frei waren. Das was den Unterschied ausmachte, war der Grad der Versklavung.«
Dass der kleine Verlag »Die Buchmacherei« und die beiden Herausgeber Jochen Gester und Willi Hajek sich an eine Neuausgabe von Ciligas Bericht gewagt haben, dem sie noch einen biografischen Essay zum Autoren von Stephen Schwartz angefügt haben, könnte sich auf die weitere Beschäftigung mit dem Stalinismus als des nach wie vor existenten »großen Rätsels« (so der Titel der englischen Ausgabe) für die Linke des 20. und auch noch 21. Jahrhunderts als großes Glück erweisen, auch wenn sich Ciliga selbst seit den 40er Jahren von dieser bereits verabschiedet hatte.
Leider haben die Herausgeber nur die gekürzte Version auf den Markt gebracht, ins Internet aber immerhin die englische Langfassung gestellt. Ob Anté Ciligas Buch in Deutschland einen ähnlichen Stellenwert wie etwa in Frankreich erhalten wird, bleibt abzuwarten.

AXEL BERGER

 

Portal "Rote-Ruhr-Uni"

das russische rätsel gelöst?

Wie provinziell und selbstbezogen große Teile der Linken in Deutschland immer noch sind, zeigt sich meistens dann, wenn man merkt, dass dieses oder jenes Buch, das für die Debatten der internationalen Linken von großer Bedeutung war oder ist, nicht auf deutsch vorliegt. Oder wenn bedeutende Bücher erst mit Jahrzehnten Verspätung in deutscher Übersetzung gedruckt werden. Ein vergleichbarer Fall liegt mit Anté Ciligas „Im Land der verwirrenden Lüge vor“. Zwar wurde es bereits 1953 in der Reihe „Rote Weissbücher“ verlegt, aber dieser Verlag der Kalten Krieger druckte alles, was gegen den Ostblock gerichtet war und war daher kaum geeignet, um linke Debatten zum Charakter des „real existierenden Sozialismus“ zu initiieren. Zudem erschien der Text nur in einer gekürzten Fassung. In Frankreich dagegen, wo das Buch bereits 1938 erschienen ist und in England, wo 1940 eine Übersetzung erschien, wurde „Au pays du grand mensonge“ bzw. „The russian enigma“ ein Standardwerk der linksradikalen Stalinismuskritik. Georg Scheuer schreibt, Ciligas Buch „[…] wirkte wie ein reinigendes Gewitter in der damals von bürgerlicher, faschistischer und stalinistischer Propaganda verwirrten französischen Linken.“  Von der in den siebziger Jahren erschienenen Taschenbuchausgabe sollen in Frankreich über 200.000 Exemplare verkauft worden sein. Das Buch erschien außerdem noch auf Italienisch, Spanisch und Japanisch. Wie stark Ciligas Werk die Debatten über den Stalinismus inspirierte, zeigt sich daran, dass sowohl Hannah Arendt als auch Guy Debord in ihren Hauptwerken darauf verweisen. In Deutschland wurde erstmals 1947 auf Ciligas Buch hingewiesen. Damals veröffentlichte der linke Stalinkritiker Arkadij Maslow im Bulletin der „Revolutionären Kommunisten Deutschlands“ eine ausführliche Rezension. Diese ist zusammen mit der Übersetzung eines längeren Nachrufs von Philippe Bourrinet im immer wieder empfehlenswerten „Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit“ (No. 13, 1994) erschienen. Und nun hat sich mit dem Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ endlich auch hierzulande jemand gefunden, der Ciligas Buch wiederveröffentlicht hat. Zwar leider nur in der Form eines Nachdrucks der gekürzten deutschen Fassung aus den fünfziger Jahren, doch immerhin bieten sie den fehlenden Abschnitt über die Diskussionen der linken Kommunisten im Lager Werchne-Uralsk als Datei auf ihrer Homepage an.

Vom Zentralkomitee nach Sibirien

Anté Ciliga wird 1898 in Istrien geboren, das damals noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört, doch die Zugehörigkeit dieses Landstriches wechselt aufgrund der geschichtlichen Ereignisse mehrfach. So hat Ciliga bis 1919 die österreichische Staatsbürgerschaft und dann bis 1945 die italienische. Dies sollte sich später als seine Rettung erweisen. Er selbst verstand sich als Kroate und war in seiner Jugend in der kroatischen Nationalbewegung aktiv, bis die Oktoberrevolution ihn für den Sozialismus begeistert. In der Kroatischen Sozialistischen Partei gehört er zum radikalen Flügel, aus dem 1920 die kroatische Sektion der Kommunistischen Partei Jugoslawiens entsteht. Bereits 1919 beteiligt er sich mit weiteren Freiwilligen aus Jugoslawien an der ungarischen Räterevolution. Zurück in Istrien wird er inhaftiert und bekämpft nach seiner Haftentlassung die italienischen Faschisten. Anschließend setzt er seine revolutionären Tätigkeiten neben seinem Studium in Prag, Wien und Zagreb fort, bevor er 1924/25 Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Jugoslawiens wird. Im Herbst 1926 schließlich wird er nach Moskau geschickt, „um an der Schule der jugoslawischen Partei zu unterrichten und an der Arbeit der jugoslawischen Sektion der Komintern mitzuwirken.“ Ciliga kommt als begeisterter Anhänger des Bolschewismus in die Sowjetunion und hat dort die Möglichkeit, das Land als privilegierter Kader kennen zu lernen. Doch gerade das macht ihn stutzig. Denn wie kann es sein, dass es hier nach der Revolution noch Privilegien für einzelne Gruppen der Bevölkerung gibt, wo es doch der Anspruch der Kommunistischen Partei ist, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten? Und so registriert Ciliga sehr genau den Unterschied des Lebensstandards zwischen den einfachen Arbeitern und den Kadern, Ingenieuren und Bürokraten. Folgerichtig kommt er so auch in Kontakt mit Personen, die die sozialen Verhältnisse in der UdSSR kritisieren und die ihm seine Beobachtungen bestätigen. Ein jugoslawischer Genosse, der sich schon an der Oktoberrevolution beteiligte hatte, erzählt ihm: „Die Lage ist heute ganz anders als zu meiner Zeit. Der Arbeiter sitzt wieder in der Falle. Die Bürokraten leben, wie einst die Bourgeois gelebt haben. Ihre Frauen spielen die feinen Damen. Eine neue Revolution muss kommen!“ (S. 27) Aufgrund dieser Erfahrungen nimmt Ciliga gemeinsam mit weiteren jugoslawischen Kommunisten Kontakt zur trotzkistischen Opposition auf. Als Reaktion darauf wird Ciliga für ein Jahr aus der KPdSU ausgeschlossen und nach Leningrad versetzt, wo er mit Privilegien wieder für den offiziellen Kurs der Partei gewonnen werden soll. Da er sich aber nicht kaufen lässt, wird er schließlich verhaftet und ins Lager nach Werchne-Uralsk gebracht. Dort findet er das gesamte Spektrum der linken Opposition versammelt: Anarchisten, Sozialrevolutionäre, die Arbeiteropposition, die demokratischen Zentralisten und natürlich verschiedene Fraktionen der Trotzkisten. Ciliga selbst gehört der linken Strömung des „Kollektivs der Bolschewisten-Leninisten“ an, die eine Reform von unten anstrebte. Im Lager konnten sich die politischen Gefangenen frei betätigen. Sie veröffentlichten eigene Zeitungen, hatten die Chance, die oppositionelle Presse zu lesen und damit die Möglichkeit, sich ohne Einschränkungen über die Entwicklung außerhalb des Lagers zu informieren und auch uneingeschränkt über ihre Einschätzung der Sowjetunion zu diskutieren. Angeregt durch die Informationen über die Vorgänge im Land und die Einschätzungen Trotzkis dazu, entfernt sich Ciliga immer weiter von seinen bisher vertretenen trotzkistischen Positionen und nähert sich einem linkskommunistischen Standpunkt an. Er kommt zu dem Ergebnis: „Trotzki ist im Grunde der Theoretiker eines Regimes, dessen Verwirklicher Stalin ist.“ (S. 119) Für ihn ist die Sowjetunion auch kein degenerierter Arbeiterstaat mehr, sondern ein Staatskapitalismus, in dem eine Doppelherrschaft aus „kommunistischer“ Parteibürokratie und der Bürokratie der Spezialisten die Macht ausübt. Die Partei und die zur Produktion und Verwaltung notwendigen Intellektuellen haben die Machtpositionen in der Sowjetunion unter sich aufgeteilt. Mit dieser Kritik nähert sich Ciliga, darauf verweist Stephen Schwartz in seinem Nachwort, der Position von Räte- und Linkskommunisten, die die Entwicklung in der Sowjetunion mit dem allgemeinen Trend zur staatlichen Kontrolle der Ökonomie, etwa im Faschismus oder später im New-Deal, verbinden. 1940 wird Max Horkheimer in seinem Text über den „Autoritären Staat“ zu ähnlichen Auffassungen gelangen. Die Gründung der Föderation der Linkskommunisten im Lager erlebt Ciliga nicht mehr mit, da er bereits vorher nach Sibirien verbannt wird. Nach knapp drei Jahren in der Verbannung gelingt es ihm schließlich Ende 1935 aufgrund seiner italienischen Staatsbürgerschaft aus der Sowjetunion ausgewiesen zu werden. Bereits während der Fahrt aus der UdSSR nimmt er Kontakt zu Trotzki und trotzkistischen Kreisen im Westen auf und versucht eine Kampagne für die politischen Gefangenen in der Sowjetunion zu organisieren. Doch Trotzki will die Kampagne allein auf trotzkistische Gefangene reduzieren und den anderen politischen Strömungen keinerlei Hilfe zukommen lassen. Ciliga nähert sich in der Folgezeit immer mehr sozialdemokratischen Positionen an und versucht eine Einheitsfront gegen den Stalinismus zu schmieden. Bei der Suche nach Bündnispartnern ist er dabei alles andere als wählerisch und scheint dabei nicht mal vor den kroatischen Faschisten halt gemacht zu haben. Bis zu seinem Tod 1992 engagiert er sich fortan wieder für den kroatischen Nationalismus. Sein Lebensweg, der seinen Ausgang in der kroatischen Nationalbewegung hatte, endete schließlich wieder dort.

Linke Opposition gegen Trotzki und Stalin


Aus emanzipatorischer Perspektive ist allein die Zeit in Antè Ciligas Leben von Interesse, die er „Im Land der verwirrenden Lüge“ beschreibt, nämlich seine Erfahrungen in der Sowjetunion von 1926 bis Ende 1935. Das Buch entfaltet keine theoretisch fundierte Analyse der Herrschaftsverhältnisse in der UdSSR, darauf hat Felix Baum in seiner Rezension in der taz zu Recht hingewiesen, aber es beschreibt doch sehr anschaulich die realen Lebensverhältnisse im stalinistischen Herrschaftsbereich. Besonders hervorzuheben ist, dass das Buch die linke Opposition gegen den Stalinismus in der Sowjetunion zurück in das Gedächtnis ruft, die bereits weitgehend vergessen war. Ebenso bedeutend ist m. E. Ciligas Kritik am Trotzkismus, die ähnlich wie die der Rätekommunisten –„Trotzki, der gescheiterte Stalin“ –auf die Gemeinsamkeiten der bolschewistischen Strömungen verweist. Anté Ciliga hat damit, entgegen der Meinung von Peter Nowak,  zur räte- oder linkskommunistischen Kritik des Bolschewismus sehr wohl etwas beizutragen. Denn sein späteres nationalistisches Engagement entwertet natürlich nicht seinen aufschlussreichen Erfahrungsbericht aus dem „Land der verwirrenden Lüge“.

Jens Benicke

Mit Fußnoten unter: http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/Ante-Ciliga-Im-Land-der.html

 

"Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit" Nr. 19 / 2011

Beitrag zu einer kritischen Entmystifizierung der bolschewistischen Revolutionsromantik

Der Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens aktive Kroate Ante Ciliga gehörte zu jenen Kommunisten, die sich im Laufe der zwanziger Jahre aus aller Herren Länder auf den Weg nach Moskau machten, um von dort aus einen Beitrag zu jener Revolution zu leisten, von der er zu diesem Zeitpunkt wohl noch glaubte, daß sie internationalistisch orientiert sei. Seine baldige Erkenntnis, daß Stalins „Sozialismus in einem Land" mit solcherlei Illusionen nichts mehr zu tun hatte und daß die in den Jahren nach dem Oktoberputsch der Bol­schewisten von 1917 weltweit gegründeten Kommunistischen Parteien nach und nach zu nationalen Agenturen der sowjetischen Außenpolitik geworden waren, führten Ci­liga zur Annäherung an die trotzkistische Opposition; allerdings wurde ihm schon schnell klar, daß Stalins Programm einer forcierten Industrialisierung nichts anderes beinhaltete als eine Umsetzung der entsprechenden Vorstellungen des von ihm ausge­schalteten Konkurrenten Trotzki und daß in der Sowjetunion nichts anderes als ein von entsprechenden bürokratischen Apparaten geleiteter Staatskapitalismus installiert wor­den war, der mit einer nach wie vor ideologisch propagierten Rätedemokratie nicht das geringste zu tun hatte. Im Mai 1930 wurde Ciliga, der im Oktober 1926 in Moskau eingetroffen war, verhaftet und verbrachte die nächsten Jahre bis zum Dezember 1935 im Gefängnis in Leningrad, im Lager in Werchne-Uralsk, wo er zu dem linkskommu­nistisch orientierten „Kollektiv der linken Bolschewisten-Leninisten" gehörte und schließlich in Sibirien. Nach seiner Entlassung lebte er in Paris, wo er 1938 seinen Er­fahrungsbericht „Au pays du grand mensonge" veröffentlichte, dem 1950 ein zweiter, bereits 1941 abgeschlossener Band „Siberié, zerre de l'exil et de l'industrialisation" folgte. Beide Bände wurden in den siebziger Jahren unter Hinzufügung eines in der Erstausgabe fehlenden Kapitels über Lenin, das zuerst in der 1950 erschienen zweiten Auflage des ersten Bandes gedruckt worden war, in Frankreich („Dix ans au pays du mensonge deconcertant", Paris 1977) und in England („The Russian Enigma", London 1979), wo der erste Band bereits 1940 erschienen war, neu herausgegeben. Bei der in der Bundesrepublik unter dem Titel "Im Land der verwirrenden Lüge“ Zehn Jahre hinter dem Eisernen Vorhang" 1953 in der antikommunistischen Reihe der „Roten Weißbücher" erschienenen Ausgabe handelte es sich um eine sehr stark gekürzte und insofern ihren Zweck im Kalten Krieg zweifellos erfüllende, ansonsten aber nur mit Bedenken zu gebrauchende Fassung der beiden Bücher Ciligas. Unter dem Titel Ante Ciliga, Im Land der verwirrenden Lüge (Berlin: Die Buchmacherei 2010, 303 S.) liegt diese gekürzte Fassung der beiden Bücher Ciligas nun wieder vor, ergänzt um ein kurzes Vorwort der Herausgeber sowie einen 1995 zuerst in kroatischer und englischer Fassung erschienenen biographischen Essay von Stephen Schwanz (erlaubt sei an die­ser Stelle der Hinweis, daß in Heft 13/1994 des ARCHIVS zwei Beiträge zu Ciliga veröffentlicht wurden: Philippe Bourrinet, Nationalistische Barbarei oder Weltrevolu­tion? Ante Ciliga (1898-1992): Lebensweg eines Kommunisten aus Kroatien, S. 91­118; Arkadij Maslow, A. Ciliga: „Au pays du grand mensonge". Mit einer Vorbemer­kung von Georg Scheuer, S. 119-136). Nachdem Ciligas Buch im Milieu der gegen­über der westlichen Linken in vielfacher Hinsicht verspäteten und durch die „inner­deutsche" Konfrontation im Kalten Krieg zweifellos auch vielfach gehemmten und fehlgeleiteten bundesdeutschen Linken wohl kaum zur Kenntnis genommen worden ist, kann es heute, aus der Distanz und jenseits der fragwürdigen Verwertung im Kontext des Kalten Krieges, als das gelesen werden, was es zu sein beabsichtigte: als Beitrag zu einer kritischen Entmystifizierung der bolschewistischen Revolutionsromantik in ihrer sowohl theoretischen als auch praktischen Dimension, wobei anzumerken bleibt, daß sich in dem Text zwar reichlich Hinweise auf theoretische Auseinandersetzungen finden, es sich aber nicht um einen theoretischen Text im engeren Sinne han­delt, sondern um einen Erfahrungsbericht, der die angeblich sozialistischen Verhält­nisse auf der Ebene der geschilderten sozialen und politischen Auseinandersetzungen eindrücklich demaskiert.

 

nach oben

 

nach oben

 
 

Fenster schließen