Rheinische Zeitung, Flyer Nr. 294 vom 23.03.2011
Eine wunde, die sich nicht schliessen will
Zur Niederschlagung linksradikaler Matrosen und Bürger durch die Rote Armee - "Die Kommune von Kronstadt"
Vor ziemlich genau 90 Jahren, im März 1921, besiegte die sowjetische Armee die Matrosen und die widerständige Bevölkerung der Festung Kronstadt, etwa 20 Kilometer westlich vor dem damaligen Petrograd (heute wieder St. Petersburg) auf der vorgelagerten Insel Kotlin. Klaus Gietinger, Regisseur und Autor zahlreicher Filme und Bücher, beschreibt in seinem aktuellen Buch "Die Kommune von Kronstadt“ die Niederschlagung der linksradikalen Kommune mit ihren etwa 50.000 EinwohnerInnen durch die Rote Armee.
Wurden die selbstbewussten Matrosen, die Trotzki einst als „Schönheit und Stolz der Oktoberrevolution“ bezeichnete, wegen ihrer linksradikalen Haltung als Verräter der Oktoberrevolution betrachtet, so bewertete Alexandra Kollontai das Problem der BolschewistInnen damit, ob sie den Kommunismus mit Hilfe der ArbeiterInnen verwirklichen würden oder ob sie über deren Köpfe hinweg mit Hilfe der Sowjetbeamten regierten. Ihr damaliger Lebensgefährte Alexander Schljapnikow führte die innerparteiliche Arbeiteropposition an. Wie die viele andere führende GenossInnen der KP wurde er 1937 erschossen. Zur gleichen Zeit, als die militärische Schlacht um die Macht in Kronstadt entbrannte, fand der 10. Parteitag der Russischen Kommunistischen Partei statt, der ihren Monopolanspruch einschließlich des Fraktionsverbotes in den eigenen Reihen besiegelte und damit zum endgültigen Wegbereiter dessen wurde, was als Stalinismus und "Realsozialismus“ am Ende kläglich scheitern musste.
Dem Autor liegt daran aufzuzeigen, wie sehr sich die Bolschewiken allesamt in eine für die Revolution verhängnisvolle Politik verstrickten. Intervention und Bürgerkrieg, aber auch die Bewunderung für den preußischen Beamtenkapitalismus, veranlassten Lenin und seine Führungsriege, soeben errungene, demokratische und selbstverwaltete Strukturen in der Armee und in den Fabriken wieder abzuschaffen. An ihre Stelle pfropften sie den RevolutionärInnen zentralistische Befehlsstrukturen auf, die auch nach dem schrecklichen Bürgerkrieg gegen den Willen vieler ArbeiterInnen und Soldaten beibehalten wurden. Ebenso brachte die Politik gegenüber den BäuerInnen und der Landbevölkerung den Bolschewiken keine Sympathien ein, weil die unerträglich hohen Abgaben mit brutaler Gewalt durchgesetzt wurden und sich Hunger und Not auf dem Land und in den Städten verbreiteten. Die Folge war, dass es starke Opponenten in den Sowjets gegen die Bolschewiken gab und dass die Losung die Runde machte, den Sowjets die Macht zu geben und nicht der bolschewistischen Partei. Auch Lenins Neue Ökonomische Politik ist am Ende das Eingeständnis des Scheiterns seiner blanken Zwangspolitik, mit der er die Mehrheit der Bevölkerung nicht für die eigene Sache gewinnen konnte.
Der Hauptteil des Buches besteht aus gut 70 Seiten spannender Schilderung der Ereignisse vor und während der verhängnisvollen Ereignisse in Kronstadt, die den Wendepunkt der russischen Revolution zur Verfestigung einer Diktatur markierten, die nichts mit der Diktatur des Proletariats im Sinne der Pariser Commune zu tun hatte, auf die sich die Bolschewiken zynisch beriefen, als sie die Kriegsschiffe der aufständischen Matrosen nach der Niederschlagung in "Marat“ und "Pariser Kommune“ umbenannten. 2.500 Kronstädter Matrosen wanderten in die Gefängnisse und später in Straflager, wo die meisten zu Grunde gingen.
Einhundertdreiundreißig Textstellen sind mit Fußnoten gekennzeichnet, die wiederum von einer Literaturliste ergänzt werden. Der Text stammt aus einer Artikelserie, die der Autor 1997 für die junge Welt unter dem damaligen Chefredakteur Holger Becker verfasste. Von den damals veröffentlichten LeserInnenbriefen, die der Autor wieder abdrucken ließ, war die Mehrzahl ablehnend und einige enthielten inkriminierende Vorwürfe wie Hetze, Geschichtsfälschung, Antikommunismus und Anarchismus (was damals als Stigma verstanden wurde und nicht als Bezeichnung einer legitimen Einstellung). Der Schlussteil des Büchleins enthält eine Art stichwortartige Auseinandersetzung mit dem negativen Vergleich von Kommunismus und Faschismus, der in diesem Kontext anscheinend eher darauf zielt, dem Vorwurf zu entgehen, mit dem hier herrschenden Totalitarismusverständnis und dem daran angepassten Geschichtsrevisionismus unter einer Decke zu stecken, als das tatsächliche Ausmaß und das Erschrecken über die Unmenschlichkeit im Namen der Revolution und des Sozialismus wirklich gut zu reflektieren.
Klaus Gietinger dürfte etlichen Leuten durch seine zahlreichen Bücher und Filme bekannt sein. Sein 2009 erschienenes Buch über den Konterrevolutionär Waldemar Pabst, das auch die Verstrickung der damaligen SPD-Führung um Ebert und den sozialdemokratischen Reichswehrminister Noske in die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aufzeigt, kommentierte der Berliner Tagesspiegel: „Eine Wunde, die sich nicht schließen will. Besonders schwer tut sich die SPD damit.“ Ähnlich könnte mensch wohl auch zu den KommunistInnen der leninistischen Hauptströmung und ihrer späteren trotzkistischen Abspaltung in Bezug auf die Ereignisse in Kronstadt kommentieren. (PK)
Der Kölner Autor Werner Ruhoff hat das Buch "Eine sozialistische Fantasie ist geblieben" im gleichen Verlag veröffentlicht. Er hat dafür u.a. die anarchistische Kommune Longo Mai in der Provence, die Kommune Niederkaufungen bei Kassel und die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) in Köln besucht. Und er hat 2004 den ersten Kölner Umsonstladen in der MüTZe in der Berliner Straße mit initiiert.
Werner Ruhoff
"Der Freitag" vom 08.04.2011
Erinnerung an die Kommune von Kronstadt
Am 16.März jährte sich in diesem Jahr zum 90ten Mal die Niederschlagung des Arbeiter- und Matrosenaufstands von Kronstadt. Das Datum wurde kaum beachtet, obwohl es lange Jahre für viele Linke eine Zäsur in ihrer Einschätzung der Sowjetunion darstellte. Auch für den in Frankfurt/Main lebenden Filmemacher und Buchautor Klaus Gietinger bedeuten die Ereignisse von Kronstadt den „point of retourn der russischen Revolution“. Der Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ hat seine historische Darstellung der Vorgeschichte, des Verlaufs und des Endes des Kronstädter Aufstandes, die er 1997 in einer mehrteiligen Serie in der jungen Welt veröffentlicht hat, zum Jahrestag als Buch veröffentlicht. Es ist ein löbliches Unterfangen, schon wegen der historischen Amnesie, die es dazu auch in linken Kreisen gibt. In seiner Darstellung weist der Autor die sowohl von Anhängern Stalins als Trotzkis verbreiteten Behauptungen zurück, dass der Aufstand von Zaristen und Konterrevolutionären zu verantworten sind. Die Erhebung war vielmehr das Ergebnis der Unzufriedenheit über die ökonomische Situation und den beginnenden Bürokratismus in der jungen Sowjetunion. Im Grunde forderte die aufständische Kommune etwas, was die Bolschewiki nur wenig später gezwungenermaßen nachvollzogen, den Übergang vom Kriegskommunismus zur Neuen ökonomischen Politik. Später von den Bolschewiki als Ultralinks verurteilte Konzepte, wie die sofortige Abschaffung des Geldes als Zahlungsmittel, wurden auch von den Kronstädtern abgelehnt. Gietinger macht deutlich, dass die Kronstädter eine wesentliche Rolle in den russischen Aufständen seit 1905 gespielt haben und es daher umso verhängnisvoller war, dass die Bolschewiki diesen Protest aus den eigenen Reihen als konterrevolutionär brandmarkten und niederschlugen. Es war kein Zufall, dass fast zeitgleich das parteiinterne Fraktionsverbot beschlossen wurde. Hier zeigt Gietinger überzeugend den Beginn der Verstaatlichung der Bolschewiki auf. Umso verhängnisvoller, dass Vermittlungsversuche, die es auch aus den Reihen der Bolschewiki gab, nicht aufgegriffen wurden. Hier hätte der Autor auch auf die politischen Fehler auf Seiten der Kronstädter stärker herausarbeiten können. So waren sie wenig kompromissbereit, weil sie die der Illusion aufsaßen, international unterstützte Vorreiter einer Dritten Revolution in der SU zu sein. Auch manche Einschätzung in Gietingers Arbeit ist historisch fraglich, beispielsweise, dass Lenin von Rosa Luxemburg spätestens seit 1911 nichts mehr hielt oder der Vergleich Lenins mit Noske. Auch das Trotzki die russische Bauernschaft hasste, kann zumindest aus dessen Schriften nicht begründet werden. In einen zuerst bei Konkret veröffentlichten Aufsatz über die Einschätzung zur Bauernfrage bei Karl Marx im Allgemeinen und zur russischen Dorfgemeinschaft Mir im Besonderen geht Gietinger dagegen sehr gründlich auf die theoretischen Fragen ein, die die Ursache für die Landwirtschaftspolitik der Bolschewiki waren, die eben nicht mit Hass auf die Bauern erklärt werden kann. Im letzten Aufsatz, der ebenfalls zuerst in der jungen Welt veröffentlicht war, setzt sich der Autor mit dem „Schwarzbuch des Kommunismus“ auseinander, in dem die Sowjetunion als Mörderischer als den Nationalsozialismus dargestellt wurde. „Jeder, der …. (P.N.) von einer gerechten Gesellschaft träumt oder in irgendeiner Weise wagt, von Revolution zu sprechen, wird so gleichzeitig zum Mitschuldigen am „roten Holocaust“ gemacht“, benennt Gietinger präzise die Funktion dieses „Schwarzbuches für Weisswäscher“.
Peter Nowak
Sozialistische Zeitung (SoZ) April 2011
90 Jahre Aufstand von Kronstadt
Vor 90 Jahren, am 16. März 1921, attackierten 50 000 Rotarmisten unter General Tuchatschewski die Festung Kronstadt in der 14 000 Matrosen zusammen mit der Zivilbevölkerung der Stadt, die "Dritte Revolution" gelebt hatten.
Kronstadt gab einem Aufstand den Namen, der den Niedergang der Oktoberrevolution symbolisiert, wie kein anderer. Danach war die Sache gelaufen.
Ende 1920: Sieg der Roten Armee gegen die Weißen Truppen. Doch das Land litt nicht nur unter den Folgen des Weltkrieges, des Diktates von Brest-Litowsk und des Bürgerkrieges. Das Land litt auch unter den chaotischen Verhältnissen des Kriegskommunismus. Während die Abschaffung des Geldes nicht funktionierte, führte die Abschaffung der Wahl der Offiziere und der kollektiven Leitung, ja der Räte überhaupt, von der Diktatur des Proletariats, zur Diktatur einer Partei. Der Oberste Volkswirtschaftsrat brachte keinen Plan zustande. Das Kommissariat für Versorgungsfragen konnte die Bevölkerung weder kostenlos mit den Gütern, noch mit Wohnungen versorgen. Die Industrieproduktion brach zusammen. Der Hunger stieg. Die Bauern sollten ihre Überschüsse per Zwang abgeben.
Um das Getreide einzutreiben erklärten die Bolschewiki den Dörfern den Krieg, und belegten die Dorfgemeinschaften, meist Mittel- und Kleinbauern mit rücksichtslosem Terror. Eintreibungskommissionen verbreiteten Angst und Schrecken. Die Abgaben waren so hoch, dass den Bauern nichts blieb als zu verhungern.
Kronstadt, die Petrograd vorgelagerte Festung, war voller Matrosen. Revolutionärer Matrosen. Schon 1901 gärte es dort und im Revolutionsjahr 1905 waren sie mit dabei. Die bäuerlich-anarchistisch geprägten Matrosen mussten jedoch kapitulieren.
Im Februar 1917 fackelten die Kronstädter nicht lange. Der Admiral der Flotte und zahlreiche Offiziere wurden hingerichtet. Der Ankerplatz entwickelte sich zu einer Art Freier Universität. Agrarkommunen wurden gegründet und „Alle Macht den Räten“ zum Grundsatz erhoben. Auch die Linken Sozialrevolutionäre (LSR), die aus der Volkstümlerbewegung stammten, hatten viele Sympathien bei den Matrosen. Die wiederum Anweisungen der provisorischen Regierung unter dem rechten Sozialrevolutionär Kerenski einfach missachteten.
Als im Oktober 1917 die Bolschewiki zusammen mit den LSR die Macht eroberten, waren die Kronstädter Matrosen ganz vorn mit dabei. Leo Trotzki titulierte sie als "Schönheit und Stolz der Revolution".
Die Kronstädter Matrosen kämpften tapfer im nun folgenden Bürgerkrieg gegen die Weißen, obwohl sie den autoritären Führungsstil in Trotzkis Roter Armee nicht guthießen.
Doch als dieser Krieg gewonnen war, öffnete ihnen der Urlaub in die Dörfer ihrer Heimat die Augen. Die Unterdrückung der Bauern machte sie wütend.
Sie verlangten nun, da die Gefahr der Invasionen vorüber war, die Rückkehr zu den demokratischen Leitungsprinzipien in der Flotte.
Als sich die Versorgungslage Ende Februar 1921 weiter verschlechterte, die Rationen radikal gekürzt wurden, rebellierten zuerst die Arbeiter in Petrograd. Die Bolschewiki antworteten mit Aussperrung und Verhaftungen.
Nun sprang der Funke auf Kronstadt über. Die Mannschaften versammelten sich auf den Schlachtschiffen und verabschiedeten eine Resolution, deren Sprengkraft die der Panzerkreuzer bei weitem überstieg.
Inhalt: Neuwahlen der Sowjets, Pressefreiheit, Freiheit für die politischen Gefangenen aus den sozialistischen Parteien. Befreiung der Bauern aus der Abgabenpflicht, freies Handwerk ohne Ausbeutung. Doch sie forderten kein bürgerliches Parlament, sondern sahen dies als überholt an.
Eine Versammlung am nächsten Tag empfing die Abgesandten der Bolschewiki Kusmin und Kalinin mit militärischen Ehren, als diese aber von Konterrevolution sprachen und Unterwerfung verlangten, wurden sie festgenommen.
Während die Krönstädter einen neuen Sowjet wählten, eine Zeitung herausgaben, brach die Rebellion der Arbeiter in Petrograd zusammen. Mit importierten Lebensmitteln war es gelungen sie zu beruhigen.
Trotzki entschloss sich nun sofort die Rebellen anzugreifen.
Die forderten „Alle Macht den Sowjets und nicht den Parteien“, was immer wieder falsch wiedergegeben wird mit: „nicht den Bolschewiki“.
Mit solchen Feinheiten hielt sich Gregori Sinowjew, u. a. Vorsitzender des Petrograder Sowjets, nicht auf. Er drohte die Kronstädter abzuknallen wie die Rebhühner. Doch das gelang fürs erste nicht. Tuchatschewskis Truppen wurden auf dem Eis zurückgeschlagen.
Die Kronstädter glaubten nun, die Proletarier aller Länder würden sich mit ihnen verbünden, doch die bekamen nichts mit von deren Radiobotschaften. Es sei eine konterrevolutionärer Aufstand, von weißen Generalen geführt, behauptete auch Lenin, widersprach sich aber in derselben Rede, indem er wusste, die Kronstädter seien „vielleicht sogar auch `linker'," als die Bolschewiki.
Was denn nun? Weißgardisten oder Linksradikale? Und er unterstellte ihnen – wider besseres Wissen - sie wollten die Freiheit des Handels. Eben genau das, was er kurz darauf mit seiner Neuen Ökonomischen Politik einführte.
Lenin nutzte die Kämpfe auch um auf dem 10. Parteitag die innerparteiliche Opposition zu zerschlagen. Er führte das Fraktionsverbot ein. Die damit belegten Bolschewiki dankten es ihm, indem sie sich freiwillig zum Kampf gegen Kronstadt meldeten.
Am 16.3. hatte Tuchatschewki schließlich genug Truppen, meist Ahnungslose aus Asien, zusammen. Er ließ die Festung angreifen. Nach schweren Kämpfen waren die Kronstädter besiegt, einem Teil gelang die Flucht nach Finnland. Die anderen wurden exekutiert oder in die nördlichen Lager deportiert, wo die meisten elend umkamen. Die Revolutionierung der Revolution war erstickt. Einer der letzten Aufrufe der Kronstädter lautete:
"Das Blut der Unschuldigen wird auf die Häupter machttrunkener und grausamer kommunistischer Fanatiker kommen. Es lebe die Macht der Sowjets!" Zumindest der erst Satz erfüllte sich. Alle leitenden Bolschewiki inklusive Trotzki, Sinowjew und Tuchatschewski wurden Opfer Stalins.
Klaus Gietinger
"Graswurzelrevolution" Nr. 358, April 2011
Erinnerung tut Not: Kronstadt 1921
Überraschender Antibolschewismus in der jungen Welt
Warum ein Buch über Kronstadt? Ist hier nicht alles dokumentiert, alles gesagt? Ist es nicht linker Alltagsverstand, dass auf dem Marinestützpunkt vor Petrograd 1921 keine Konterrevolution stattfand, sondern ein verzweifelter Kampf gegen die brutale Terrorherrschaft der Bolschewiki – und zwar mit dem Ziel einer echten Rätedemokratie?
In Manuel Kellners Einführung in den Trotzkismus (Reihe theorie.org, Schmetterling Verlag, 2004) ist jedenfalls zu lesen: „Ein tragischer [!] Tiefpunkt war das Jahr 1921 mit zahlreichen Protesten und Streiks und dem Aufstand von Kronstadt. Trotzki hat bis zum Ende seines Lebens für die Niederschlagung dieses Aufstands [dem es um was ging?] die politische Verantwortung übernommen [wie heldenhaft!]. So wie die überwältigende Mehrheit der Parteimitglieder damals [na dann!] war und blieb er der Meinung, dass die sowjetische Regierung bei Strafe des Untergangs dazu gezwungen war [die arme!]. Eine besondere persönliche Rolle als ‚Schlächter von Kronstadt’ spielte Trotzki allerdings nicht [na dann!]. Das ist eine ursprünglich von anarchistischen Kreisen in die Welt gesetzte Legende.“ „Bloßgestellt“ wird die anarchistische Legende durch einen pauschalen Verweis auf eine Sammlung von Texten Lenins, Trotzkis u.a. über Kronstadt! Noch schöner wird es, wenn Georg Fülberth in seinem Buch über den „Sozialismus“ (Reihe „Basiswissen“, Papy Rossa Verlag, 2010) Kronstadt kein einziges Mal erwähnt!
Zum „Basiswissen“ über Sozialismus gehört allem Anschein nach anderes: „Er“, so Fülberth resümierend über den Realsozialismus, „hatte Leistungen [!] hervorgebracht und wies einige Vorzüge [gegenüber wem oder was?] auf, die ihn jedoch letztlich nicht auf Dauer in den Volksmassen verankern konnten.“ Dieses blöde Volk aber auch!
Vor dem Hintergrund solcher Publikationen sind Veröffentlichungen, die die Kronstädter Ereignisse in Erinnerung rufen, leider alles andere als überflüssig. Andererseits: Wird eine Artikelserie aus der jungen Welt – hier erschien der Text Gietingers 1997 ursprünglich – Aufklärendes bieten? Man halte seine Vorurteile zurück und lese erst einmal. Und Gietinger stellt klar: „Die größte Revolte, der die bolschewistische Herrschaft je ausgesetzt war, hatte begonnen. Und sie kam von links.“ (41)
Das ist doch schon einmal erfrischend, und insgesamt überrascht der nicht allzu lange Text durch eine konfrontative Schreibe und einen konsequenten Anti-Bolschewismus.
Einige Beispiele:
1.) „Trotzki organisierte die Rote Armee, baute diese nach klassischem Vorbild auf: Dem preußischen Kadavergehorsam. Dies bedeutete die Rücknahme wichtiger ‚Errungenschaften’ der Revolution (Milizsystem, Wahl der Offiziere, Soldatenräte) und war, wie die Zertrümmerung der deutschen Novemberrevolution, konterrevolutionär.“ (14)
2.) „‚Arbeit, Disziplin, Ordnung werden die sozialistische Sowjetrepublik retten’ hieß der Titel von Trotzkis Vorschlag zur Militarisierung der ganzen russischen Gesellschaft. ‚Sozialismus ist uns Organisation, Ordnung und Solidarität’, sagte der deutsche ‚Bolschewik’, der ‚Mehrheits-Sozialdemokrat’ Friedrich Ebert im Januar 1919 auf der Eröffnung der Nationalversammlung. Hatte er von Trotzki abgeschrieben? Oder klangen beide nur so ähnlich, weil sie Freunde des deutschen Militarismus waren?“ (15)
3.) „Das Land war nun praktisch im permanenten Aufstand gegen die städtische Herrschaft der Bolschewiki.
Lenin ordnete am 6. August 1918 an, dass jeder Bauer, der mit der Waffe in der Hand angetroffen wurde, sofort zu erschießen sei. Der deutsche ‚Mehrheitler’ Gustav Noske (SPD) hat einen solchen Befehl gegen die deutschen Arbeiter erst im März 1919 erteilt. Die Bolschewiki waren eben schneller.“ (19f.)
Gietinger, für den Kronstadt den „entscheidende[n] Wendepunkt der Russischen Revolution“ markiert (7), richtet gegen den Bolschewismus – „preußisch-bolschewistische[r] Kriegskommunismus“ (38) – jene analytische Polemik, wie sie im 19. Jahrhundert (nicht nur, aber vor allem) von anarchistischer Seite gegen Marx und den Marxismus insgesamt gerichtet wurde. Beispielsweise von André Léo, die Marx’ Verhalten in den Auseinandersetzungen innerhalb der Ersten Internationale wie folgt analogisierte: „Während Bismarck allen zwischen Rhein und Oder den Kopf verdrehte und Wilhelm sich zum Kaiser krönte, kürte sich Karl Marx zum Hohepriester der Internationale.“
Auf das Verhältnis von Marx zu den Bolschewiki geht Gietinger leider nicht ein, aber wenige Bemerkungen sprechen dafür, dass Gietinger Marx tendenziell als Libertären rezipiert.
So heißt es über die Kronstädter: Sie „wollten keinen Kapitalismus, kein Parlament und keinen freien Handel. Sie wollten Sozialismus, Marx’ freie Assoziation der Produzenten“ (56f.).
Man könnte hinzufügen, dass jene Idee der „freien Assoziation der Produzenten“ von einem Großteil der Internationale gerade gegen Marx’ zentralistisch ausgerichtetes Konzept verteidigt wurde. Hatte Marx doch erklärt: „Die Zukunft wird entscheiden, dass der Boden nur nationales Eigentum sein kann. Das Land an assoziierte Landarbeiter zu übergeben, würde heißen, die ganze Gesellschaft einer besonderen Klasse von Produzenten auszuliefern.“
Und sagten die Bolschewiki nicht: „Die Belegschaftsangehörigen zu Besitzern zu machen, käme einem Wechsel vom Privatkapitalismus zum Kollektivkapitalismus gleich, die kapitalistische Wirtschaftsordnung aber würde weiter bestehen bleiben. In unseren Putilow-Werken würden beispielsweise wenige Großaktionäre von einer größeren Anzahl Privilegierter abgelöst werden, die Privilegien als solche aber bestehen bleiben. Das wäre kleinbürgerlicher Proudhonismus. Wir marxistischen Kommunisten wollen den Kapitalismus mit der Wurzel ausrotten. Land, Produktionsmittel, Bergwerke, Banken, Handelsunternehmungen, alles muss verstaatlicht werden, und die Zügel des Staates müssen in den Händen der Kommunistischen Partei bleiben. So nur kann die marxistische Lehre von der Diktatur des Proletariats verwirklicht werden, ohne die es keinen Kommunismus gibt.“
Dass eine grundsätzliche Differenz zwischen Marx und den Bolschewiki bestehe, was Gietinger in einem im Anhang des Buches veröffentlichten Text („Das Missverständnis“) anhand der unterschiedlichen Positionierungen gegenüber der russischen Dorfgemeinde zu beweisen versucht, schlägt m.E. fehl und Gietinger muss selbst konstatieren, dass Marx „[n]icht unschuldig“ an der Politik der Bolschewiki sei (101). Und wenn bei Gietinger einmal vage von dem „von Marx geerbte[n] Kommuneprinzip“ die Rede ist (28), welches die Bolschewiki aufgegeben hätten, dann darf man ein wenig historische Konkretisierung gegenüber der Kommuneschrift von Marx erwarten, von der Arthur Rosenberg immerhin meinte: „Hier unterdrückt er [Marx] vollkommen jede theoretische oder taktische Meinungsverschiedenheit, die er selbst mit den Männern der Kommune gehabt hatte. (…) Theoretisch war dies ein teilweiser Rückzug des Marxismus vor dem Proudhonismus. (…) Die Schrift von Marx über den Bürgerkrieg von 1871 hat eine außerordentliche historische Bedeutung. Denn mit diesem kühnen Schritt annektierte Marx die Kommune für sich. Erst seitdem hat der Marxismus eine revolutionäre Tradition vor den Augen der Menschheit.“
Auch andere Stellen lassen sich kommentieren. So heißt es z.B.: „‚Die Kommunisten haben sich die alte Taktik der Jesuiten ‚Verleumdet, verleumdet, etwas bleibt ja vielleicht doch hängen’ vorzüglich angeeignet’, konstatierten die [Kronstädter] Rebellen (Rosa Luxemburg, hatte schon 10 Jahre zuvor Trotzki ähnliches nachgesagt).“ (46)
Ja, und AnarchistInnen haben dasselbe schon berechtigterweise Marx und Engels vorgeworfen, wie der gerade erschienene Band von Wolfgang Eckhardt über den Konflikt zwischen Marx und Bakunin in der Internationale eindrucksvoll nachzeichnet (siehe Wolfgang Eckhardt: Michael Bakunin, Konflikt mit Marx, Teil 2, Karin Kramer Verlag 2011; siehe dazu die Rezension in dieser GWR).
Gietingers Ausblenden dieser alten Streitereien führt ihn leider auch zu etwas fragwürdigen Schlussfolgerungen, wenn er erklärt: „Beide starken Männer Russlands [Lenin/Trotzki] waren Kinder des 19. Jahrhunderts, Freunde des Preußentums, der Disziplin und des Autokratismus.“ (78f.)
Aber das 19. Jahrhundert war doch nicht nur Disziplin und Autokratismus. Erst recht nicht innerhalb der sozialistischen Bewegung. Man lese die jetzt von Eckhardt zugänglich gemachten Stellungnahmen aus den Reihen der anti-autoritären Fraktionen der Internationale – in denen immer die Freiheit im Mittelpunkt steht – und es scheint nicht übertrieben, vielmehr den Sozialismus des 20. Jahrhundert als autoritären zu kennzeichnen und damit auch als – zumindest aus meiner Perspektive – ungeheuren Rückschritt gegenüber dem hoffnungsfrohen Treiben des 19. Jahrhunderts.
Etwas irritierend ist auch, wenn es bei Gietinger heißt: „Alle wichtigen Revolutionen dieses Jahrhunderts wurden von meuternden Matrosen ausgelöst oder begleitet“ (22) Spanien 1936? Diese kritischen Anmerkungen sollen aber nicht davon ablenken, dass Gietingers Text durchaus gelungen ist und dies nicht nur, weil er keineswegs einer marxzentrierten Perspektive unterliegt. Wie selbstverständlich wird da von „der im Oktober 1917 weitgefächerten Linken Russlands“ (55) gesprochen und Narodniki, AnarchistInnen und RätekommunistInnen als Stichwortgeber der Ideen der Kronstädter genannt (57).
Dass, obwohl sich Gietinger auf vielerlei anarchistische Texte zu Kronstadt bezieht, er nirgendwo auf Volins Die unbekannte Revolution zu sprechen kommt, überrascht. Volins Schrift, von der ein Teil unter dem Titel Der Aufstand von Kronstadt 2009 in zweiter Auflage im Unrast Verlag veröffentlicht wurde, sei allen Interessierten ausdrücklich ans Herz gelegt.
So erstaunt man jedenfalls über den kämpferischen Text sein kann, so sehr stellt sich Ernüchterung ein, wenn man die teilweise – je nach Geschmack und Stimmung – lächerlichen oder beschämenden LeserInnenbriefe liest, die auf Gietingers Ausführungen seinerzeit antworteten. „Wieder fordert mir ein Artikel“, heißt es da z.B., „der von Antibolschewismus/Antikommunismus und Geschichtsfälschungen strotzt und in einer Zeitung veröffentlicht wurde, die sich doch wohl radikal sozialistisch versteht, eine Geduldsprobe ab.
Nichts steht dagegen, dass sich auch ein relativ junger Mensch mit Geschichte befasst. Nur dann sollte er wirklich einschlägige Literatur bzw. Dokumente zu Rate ziehen. Zum Beispiel W. I. Lenins Darstellung der Kronstädter Ereignisse. Oder ist Lenin nicht der kompetenteste [!] in dieser Frage? Lenin hat jedenfalls die Kronstädter ‚dritte Revolution’ klar als von weißgardistischen Generälen unter Ausnutzung von Unzufriedenheiten, auch Fehlern der Bolschewiki, beeinflusste kleinbürgerliche Konterrevolution bezeichnet.“ (82)
Dass auch der zuständige Chefredakteur Holger Becker allem Anschein nach durch die Veröffentlichung Probleme bekommen hat, macht die Sache nur noch bitterer. Dass dieser sich für die Veröffentlichung aussprach, obwohl selbst anderer Meinung (7), verdient vielmehr Respekt und ist vorbildlich.
Etwas ärgerlich ist meines Erachtens nur Gietingers im Anhang veröffentlichte Rezension des Schwarzbuch des Kommunismus, wo über Noltes „selten dämliche Herleitung“ der „Nazis als Folge des Kommunismus“ hergezogen (115) und der Herausgeber Courtois zum ehemaligen „unangenehmen linksintellektuellen Dummschwätzer“ erklärt wird, der „sich seit 1989 (…) unter Beibehaltung“ einer „borniert-dogmatischen Denkweise zu[m] unangenehmen rechtsintellektuellen Dummschwätzer gewandelt“ hätte (114). Mag alles sein, aber Rudolf Rocker war weder rechts noch dumm, als er Anfang der 1930er Jahre erklärte: „Es muss überhaupt hier klar ausgesprochen werden, dass der Sieg des Bolschewismus über die russische Revolution der erste Auftakt der faschistischen Gegenrevolution in Europa gewesen ist.“
Philippe Kellermann
Portal "Sozialistische Positionen" (SoPos) 4-2011
90 Jahre Kommune von Kronstadt – die endgültige Niederlage der Arbeiterdemokratie in der Russischen Revolution
...eine noch offene Wunde"
Wer erinnert sich noch an die Kommune von Kronstadt? Schon die Begrifflichkeit weist auf die tiefe Verankerung dieser tragischen Ereignisse in der Geschichte der sozialrevolutionären Emanzipationsbewegungen hin. Der Titel ist auch ein bewusster Hinweis auf die ebenfalls fast vergessene Kommune von Paris, die im März 1871 eine Koalition von Sozialisten und Radikaldemokraten bei den Gemeinderatswahlen von Paris in die Stadtregierung brachte. Und diese Koalition machte Ernst mit dem eigenen Programm. Mindestlöhne, Nachtarbeitsverbot, Gleichstellung der Beamten mit normalen Lohnabhängigen, Frauenwahlrecht, die radikale Demokratisierung der Staatsmacht, all das machte diese Kommune de Paris zum Angriffsziel einer bemerkenswerten Koalition von bürgerlichen Franzosen und monarchistischen Deutschen, die sich noch ein paar Monate zuvor in einem blutigen Krieg gegenübergestanden hatten.
Diese Kommune von Paris war trotz ihrer Fehler ein Vorbild für die Aktivisten der Arbeiterbewegung in der Internationalen Arbeiterassoziation, deren Sekretär Karl Marx jener in der Adresse ihres Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich ein bleibendes Denkmal geschaffen hat: "Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse. Seine Vertilger hat die Geschichte schon jetzt an jenen Schandpfahl genagelt, von dem sie zu erlösen alle Gebete ihrer Pfaffen ohnmächtig sind."
Für Lenin bildete die Kommune von Paris sogar das Leitbild für seine agitatorische, nie ernst gemeinte Schrift "Staat und Revolution", die er 1917 im finnischen Exil schrieb, um sich bei der seit Februar 1917 anschwellenden basisdemokratischen Rätebewegung der Arbeiter und Bauern Russlands Gelände für die durch und durch autoritär und etatistisch ausgerichteten Bolschewiki gut zu machen. So paradigmatisch die Haltung zur Pariser Kommune sozialistische Arbeiterbewegung von liberalen Arbeiterfreunden schied und gelegentlich noch scheidet, so verhält es sich mit der Kommune von Kronstadt, die alle Spielarten der leninistischen von den libertären Strömungen der sozialistischen Bewegung scheidet. Das Buch von Gietinger ist hier eindeutig positioniert, seine Polemik wendet sich vehement gegen alle Spielarten leninistischer, trotzkistischer und stalinistischer Geschichtsverdrehungen.
Gietinger macht in seiner Schrift darauf aufmerksam, dass das gesellschaftliche Vorbild der Bolschewiki, aber auch Trotzkis wie auch das der Mehrheitssozialdemokratie das von oben industrialisierte Preußendeutschland mit einer straff organisierten Kriegswirtschaft gewesen ist: "Widerspruchslose Unterordnung unter einen einheitlichen Willen ist für den Erfolg der Prozesse der Arbeit, die nach dem Typus der maschinellen Großindustrie organisiert wird, unbedingt notwendig" (S. 16). Und schon bald nach der Oktoberrevolution wurde dieses Programm durchgesetzt, ein Programm, das auch bald auf die Mitwirkung der linken Sozialrevolutionäre (LSR) verzichtete, die als Vertreter einer humanistischen Linie vielfach versuchten, das Schlimmste am proklamierten Roten Terror zu verhindern– wobei nicht verschwiegen werden soll, dass die LSR aus Empörung über die Friedensverhandlungen Trotzkis mit dem deutschen Kaiserreich selbst zu terroristischen Mitteln griffen und dafür den Bolschewiki eine Steilvorlage für ihre Ausschaltung gaben. Der im Sommer 1918 einsetzende Bürgerkrieg wurde weitgehend auf Kosten der Bauernschaft, die über 80% der Bevölkerung stellte, von der bolschewistisch kommandierten Roten Armee durchgekämpft. In diesem Zusammenhang sind Gietingers Hinweise auf Marx’ berühmten Brief an die russische Sozialistin Vera Sassulitsch 1881 zu lesen, dass ihm exakt die russische Dorfgemeinschaft, denen die Kommunisten nach 1918 den Garaus machten, als Ausgangspunkt für die sozialistische Umgestaltung Russlands geeignet erschien (S.88).
5o Jahre nach der Kommune von Paris bildete sich die Kommune von Kronstadt im Februar 1921, Monate nach dem Ende des Bürgerkrieges und parallel zum 10. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands, in Petrograd. Kronstadt war eine stark armierte Festung vor der nordrussischen Metropole Petersburg, die Matrosen der Baltischen Flotte wurden in den revolutionären Bewegungen Russlands zur Avantgarde gezählt. Ihrer Bewegung 1921 vorangegangen waren Streiks in den großen Fabriken der Stadt, die als Reaktion auf Hunger, Inflation und zunehmende politische Unterdrückung durch die Bolschewiki ausbrachen. Die Arbeiter- und Soldatenräte hatten im Oktober 1917 die militärische Machtübernahme durch die Bolschewiki gegen die letzte linksbürgerliche Regierung praktisch gestützt und politisch begrüßt. Sie waren zu diesem Zeitpunkt längst entmachtet und zur praktischen Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft gar nicht mehr in der Lage. In den Betrieben herrschte wieder das Prinzip der "Ein-Mann-Leitung". In der Armee waren die freiheitlichen und demokratischen Ideen der russischen Soldatenräte aus dem Frühjahr 1917, wie etwa der Wählbarkeit der Kommandanten nach der Einwerbung und Einsetzung ehemals zaristischer Offiziere durch Trotzki nur noch Hörensagen aus ferner Zeit. Die Bolschewiki hatten einen Krieg gegen die Bauernschaft entfacht, der sich sachlich um die Kontrolle der Lebensmittelproduktion drehte, militärisch aber mit größter Brutalität durch Tscheka und Parteieinheiten unter großen Opfern geführt wurde. Politisch führten diese Feldzüge zur langfristig wirkenden Entfremdung der Bauernschaft von der neuen staatlichen Herrschaft.
Die verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen Bauernschaft und Matrosen führten zusammen mit dem Widerstand des Petrograder Proletariats gegen seine andauernde Entmündigung zur Forderung nach Sowjets ohne Kommunisten, zur Einrichtung einer basisdemokratisch agierenden Selbstverwaltung auf den Festungsinseln im Finnischen Meerbusen. Die Versuche der Bolschewiki, in den Fabriken ein an Taylor und deutschen Disziplinarvorstellungen ausgerichtetes Fabrikregime zu errichten, stieß auf manigfaltigen Widerstand. Dem unbedingten Machtanspruch der Bolschewiki waren die Matrosen und Bewohner Kronstadts aber auf Dauer nicht gewachsen. Am 18. März 1921 waren die erbittert geführten, blutigen Kämpfe in Kronstadt vorbei, die Überlebenden wurden, soweit sie nicht fliehen konnten, auf Wunsch Lenins auf die berüchtigten Solowezki-Inseln deportiert. Der 18. März war zugleich der 50. Jahrestag der Proklamation der Kommune von Paris und wurde in Petrograd von den Bolschewiki mit einer Militärparade gefeiert. Die ökonomischen Forderungen der Matrosen wurden übrigens vom parallel stattfinden Parteitag der KPR(B) mehr oder minder als legitim anerkannt, und unter Zulassung kapitalistischer Elemente im Wirtschaftsleben zum Programm als "Neue Ökonomische Politik" erhoben. Lenin selbst soll gesagt haben, dies sei der Thermidor, aber es sei "unser Thermidor". Auch so kann man Geschichte interpretieren.
All das beschreibt Gietinger in seiner flüssig geschriebenen und quellenmäßig gut belegten Schrift, der eine weite Verbreitung schon deshalb zu wünschen ist, weil die Kommune von Kronstadt heute so vergessen zu sein scheint wie die von Paris.
Die Kommune stand nie im Zentrum der politischen und theoretischen Diskussionen in der deutschen Linken seit 1968. Lediglich zum 50. Jahrestag ihrer Zerschlagung durch die Bolschewiki 1971 veranstaltete die libertäre Linke in Berlin einen "Kronstadt"-Kongreß, zu dem Johannes Agnoli Bemerkungen über Spontaneität und Organisation beitrug und der niederländische Rätekommunist Cajo Brendel in grotesker Weise seine Marxorthodoxie zu retten versuchte, indem er den Oktoberumsturz 1917 als eine bürgerliche Revolution interpretierte. Danach ist es um Kronstadt still geworden, von gelegentlichen Versuchen abgesehen, ihre Liquidation zu verteidigen. Bemerkenswert zahlreich sind besonders die Apologien der leninistischen Politik aus trotzkistischer Richtung. Der ISP-Verlag versammelte die Äußerungen Lenins, Trotzkis und Serges 1981 in einem kleinen Sammelband. Immerhin wird der libertäre Sozialist und Augenzeuge Serge zitiert: "Zu Hunderten, wenn nicht zu tausenden wurden die Kronstädter Matrosen auf der Stelle erschossen. Drei Monate nachher holte man noch welche aus den Gefängnissen in Petrograd heraus, nachts, in kleinen Gruppen, um sie in den Kellern oder auf dem Schießplatz zu exekutieren." Auch später noch legten kritischere trotzkistische Gruppen wie "Linksruck" eine Reihe von Materialien gegen die Kommune von Kronstadt vor und in der Regel war das Ergebnis klar: hier war die Konterrevolution am Werk gewesen, bis hin zu dem Unsinn, dass der reaktionäre General Wrangel mit 70.000 Mann an der Schwarzmeerküste bereit gestanden hätte, um im ca. 3000 km weit entfernten Kronstadt zu intervenieren. Soweit zur Wahrheits- und Freiheitsliebe dieser Epigonen. Man mag die Aktualität dieser Auseinandersetzung bezweifeln. Aber man täusche sich nicht: die Haltung zu Kronstadt entscheidet auch heute noch wie ein Lackmustest über die individuelle Haltung zu jeder Form von Modernisierungs- und Parteidiktatur. "Die Kommune von Kronstadt" ist hier eindeutig, sie steht auf der Seite der spätestens im März 1921 untergegangenen Reste von Arbeiterdemokratie in Russland. Sie lebt durch dieses Buch fort im Bewusstsein der libertären Linken, mögen leninistische Pfaffen noch so sehr ihre Mantren von der historischen Notwendigkeit ihrer Unterdrückung aufsagen.
Gietingers Parteinahme für die Kommune von Kronstadt ist ein wütendes, teils auch sarkastisch geschriebenes Buch. Ihm ist eine breitere Leserschaft zu wünschen. Diese Wunde ist und bleibt offen, solange die Usurpation der Russischen Revolution durch die Bolschewiki als Sozialismusversuch kleingeredet wird.
Stefan Janson
Portal Trend Online Nr 06-2011
"Es geht um die Glaubwürdigkeit der Linken, wollen sie wirklich eine menschenwürdigere Gesellschaft aufbauen"
Vor neunzig Jahren, im März 1921, wurde die widerständige Bevölkerung in Kronstadt von den Bolschewiki besiegt. Klaus Gietinger, Regisseur und Autor zahlreicher Filme und Bücher, beschreibt in seinem Buch “Die Kommune von Kronstadt” sehr eindrücklich, wie es zu diesem Aufstand kam und wie dieser schließlich von den Bolschewiki niedergeschlagen wurde.
Noch im Oktober 1917 hatten sich viele Kronstädter Matrosen am Sturm auf das Winterpalais beteiligt. Trotzki bezeichnete sie als “die Schönheit und den Stolz der Revolution”. Von 1918 bis Herbst 1920 kämpfte die Mehrheit der Kronstädter in einem Bürgerkrieg gegen die Weißen. Sie kämpften in einer Armee, in der Trotzki die Rätedemokratie abgeschafft hatte. Die Rote Armee wurde nach dem westlich- kapitalistisch- militärischen Prinzip aufgebaut. Als die Matrosen nach dem Bürgerkrieg in ihre Heimatdörfer kamen, erlebten sie den Krieg der Bolschewiki gegen die Bauern. Ihre Eltern fragten sie, warum sie für die Unterdrücker kämpfen, denn Eintreibungskommisionen und Erschießungen verbreiteten Angst und Schrecken unter den Bauern. Die “Diktatur des Proletariats” bestand zu 80 Prozent aus Bauern. Die Bolschewiki hatten die Inflation angeheizt und die Bauern verkauften und tauschten nichts, weil sie für ihre Lebensmittel nur wertloses Papier oder nichts erhielten.
Die verfehlte Landwirtschaftspolitik führte wiederum zu einer schwierigen Versorgungslage in den Städten. Als nach dem Bürgerkrieg der “Handel unter der Hand” verboten wurde, nahm der Hunger noch zu. Die Lebensmittelrationen für die Großstädte wurden gekürzt, die Tagesration lag unter 700 Kalorien am Tag.
Aufgrund dieser Situation kam es in Petrograd zu Demonstrationen und Streiks. Aus der Hungerrevolte in Petrograd wurde schließlich eine politische, denn die Arbeiterräte waren schon 1918 entmachtet worden. “Statt Sozialismus mit Arbeiterkontrolle und Betriebsräteherrschaft entstand so ein starres, von der Partei kontrolliertes, nicht funktionierendes Leitungssystem.” (1) Zudem wollten die Bolschewiki von Deutschland lernen. “Arbeit, Disziplin, Ordnung werden die sozialistische Sowjetrepublik retten.”, so Trotzki (2)
Die Ereignisse in Petrograd wirkten sich auf das 20 Kilometer entfernte Kronstadt aus.
Die Kronstädter Matrosen lehnten das Antreibersystem- das Taylor-System- und die Militarisierung der Arbeit ab. Sie wollten: “Eine Sowjetrepublik der Arbeiter, in der der Produzent selbst uneingeschränkt Herr und Verwalter über die Produkte seiner Arbeit sein wird.”(3) Die Kronstädter verabschiedeten die “Petropowlowsk-Resolution”, in der sie u.a. die Neuwahl der Sowjets, Versammlungsfreiheit und die Abschaffung der kommunistischen Parteizellen forderten. “Man kann das Programm der Matrosen, Arbeiter und Bauern Kronstadts daher als eine Mischung aus Maximalismus, Anarcho-Syndikalismus und Rätekommunismus bezeichnen, als letzten Versuch die Ideale des Oktober 1917 zu verwirklichen.”(4) Die Kronstädter wollten “alle Macht den Sowjets und nicht den Parteien”. Dafür wurden sie von den Bolschewiki als Konterrevolutionäre beschimpft, Lenin bezeichnete sie als kleinbürgerlich. 50 000 Bolschewiki kämpften gegen Kronstadt. Die Kronstädter wurden isoliert, in dem die Bolschewiki für die Petrograder Lebensmittel aus dem Ausland einkauften und die Neue Ökonomische Politik eingeführt wurde. “Die Bolschewiki feierten den 50. Jahrestag der Pariser Kommune just an dem Tag, an dem sie die Kommune von Kronstadt endgültig liquidiert hatten”(5) Neben Tausenden Toten auf beiden Seiten wurden 2500 Matrosen in Gefängnisse und Lager gesteckt, wo die meisten vermutlich zugrunde gingen. Opposition wurde im März 1921 zum Verbrechen. Am Ende des Aufstandes war der Mythos vom Arbeiter- und Bauernstaat zerstört. Bald trat Stalin ans Ruder und es erfüllte sich folgender Satz der rebellischen Matrosen: “Das Blut der Unschuldigen wird auf die Häupter machttrunkener und grausamer kommunistischer Fanatiker kommen.”(6)
Der Weg des Realsozialismus war mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes vorgezeichnet. Nach dem roten gegen den weißen Terror unter Lenin kam der “Große Terror” unter Stalin, der Hitler-Stalin-Pakt und der Kampf gegen den Faschismus, der Kalte Krieg, die Stagnation und das Ende.
Für Klaus Gietinger war Kronstadt der entscheidende Wendepunkt in der russischen Revolution. Er schreibt engagiert gegen leninistische, trotzkistische, stalinistische und verharmlosende Geschichtsschreibung an. Denn beschäftigt man sich mit Kronstadt, kann man leicht zwischen die Fronten geraten. Die Trotzkisten, die ihren Trotzki hochhalten und für die Kronstadt eine Konterrevolution war. Die Marxisten- Leninisten, die ihre Ikone Lenin und ihr Bruderland verteidigen wollen. Die Anarchisten, für die Kronstadt die “Dritte Revolution” war. Dieser Ismen- Streit hilft zwar so nicht weiter, aber er besagt etwas, nämlich ob “Linken” Tote, Inhaftierte, Deportierte, Zwangsarbeitende und Hungernde egal sind und sie diese ihrer Ideologie opfern. Das ist entscheidend. Hier geht es nicht um Erbsenzählerei oder Buchzitate, hier geht es um vernichtete Leben und zerstörte Biographien. Das Buch macht wütend, auf die Bolschewiki, aber auch auf Menschen, die sich heute als “links” bezeichnen und das alles nicht wahrhaben wollen.
Klaus Gietinger hatte im Jahre 1997 eine mehrteilige Serie in der Jungen Welt veröffentlicht, die jetzt zum Jahrestag in diesem Buch erscheint. Darin sind auch Leserbriefe abgedruckt. So: “Bitte erspart uns diesen Müll...” oder “Wieder fordert mir ein Artikel, der von Antibolschewismus/ Antikommunismus und Geschichtsfälschungen strotzt und in einer Zeitung veröffentlicht wurde, die sich doch wohl radikal sozialistisch versteht, eine Geduldsprobe ab.” (7)
Das Buch von Klaus Gietinger ist allerdings kein Antikommunismus, sondern notwendig, um wieder nicht- kapitalistische Alternativen denken zu können. Das Bild von der Vergangenheit zeigt das Bild, das man von der Zukunft hat. Es geht um die Glaubwürdigkeit der Linken, wollen sie wirklich eine menschenwürdigere Gesellschaft aufbauen. Den Herrschenden kommt ein unkritischer Umgang von Linken mit der eigenen Geschichte gerade recht.
So wäre der kritische Text Klaus Gietingers zum “Schwarzbuch des Kommunismus” und seine Abgrenzung von rechter Kritik am Ende des Buches nicht notwendig gewesen. Die Revolte von Kronstadt kam von links und auch Gietingers Kritik an der Niederschlagung.
Die entscheidende Frage, die nach der Lektüre bleibt, ist- wie stehen Linke zur Parteidiktatur oder Rätedemokratie, erstere lehnten die Kronstädter ab, letztere ersehnten sie. Klaus Gietinger, der mit den Kronstädtern symphatisiert, ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Erinnerung tut not, auch in einem entfesselten Kapitalismus in den post”kommunistischen” Ländern. Dieser Kapitalismus ist eben nicht alternativlos, wagen wir neue Wege.
Anne Seeck
barrikade # 6 - November 2011
Streitschrift für Anarchosyndikalismus, Unionismus und revolutionären
Syndikalismus, Hamburg
"mit Herzblut, voll Wut, ätzend sarkastisch"
I.
So alle fünf bis zehn Jahre muß die Geschichte neu erzählt werden, weil eine neue Generation auf die Bühne tritt, die sich das Wissen erstmal aneignen muß. Der Aufstand der Matrosen von Kronstadt, der sich am 28. Februar dieses Jahres zum 90. Mal jährte, gehört zu den grundlegenden Erfahrungen der undogmatischen, anti-autoritären Linken mit Lenin und den Seinen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt zeigte sich klar und deutlich, daß der Bolschewismus unter der Firma »Sowjetmacht« und »Diktatur des Proletariats« einen gigantischen Etikettenschwindel betrieb, der die Diktatur der Partei bemäntelte. Der Aufstand ist ein ewiger Stachel im Fleisch der lenistischen Linken. Aus den»Sturmvögeln der Revolution« von 1917 wurden, gemäß der bolschewistischen Legende, in knapp vier Jahren Agenten des internationalen Kapitals, geführt durch weißgardistische Generäle. Darin waren sich die beiden Erzfeinde Trotzki und Stalin einig, und ihre Apologeten sind es bis heute noch. Das vorliegende Buch zeigt, daß es nicht so war.
II.
Gietingers Schrift über die »Kommune von Kronstadt« ist die überarbeitete und aktualisierte
Fassung einer Artikelserie, die 1997 in der jungen Welt (jW) erschien. In sieben Kapiteln analysiert er den »Krieg der Bolschewiki gegen die Russischen Revolution«, stellt die »Matrosen von Kronstadt, Avantgarde der Revolution« vor, beschreibt die politische und ökonomische Situation am Vorabend der Revolte, den Aufstand, die Maßnahmen der Bolschewistischen Machthaber gegen das rebellierende Kronstadt, das Verhalten der (russischen und europäischen) Linken und die Rache der Sieger an den Kronstadter Rebellen.
Gietinger schreibt mit Herzblut, voll Wut, ätzend sarkastisch – kein abwägendes ‚sowohl als auch‘, sondern klar Partei ergreifend für die »Dritte Revolution«, die sich die Kronstadter auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Und er schreibt gut. Wer will, kann dies selbst anhand seiner Belege nachvollziehen. Daß es offenbar Leute gibt, die dies nicht wollen, offenbaren einige Leserbriefe, die 1997 während des Abdrucks der ersten Fassung dieser Schrift an die jW gingen, und die auch im Buch wiedergegeben werden.
III.
Im Anhang sind zwei Artikel, die auch 1997 erstmals erschienen sind: ein Verriß des »Schwarzbuch des Kommunismus« (der in diesem Zusammenhang etwas deplaciert wirkt) sowie ein längerer Text mit dem Titel »Das Mißverständnis. Über den Volkstümler Marx, die Liebe der Bolschewiki zum Land und die ursprüngliche sozialistische Akkumulation«. Letzterer ist eine Vertiefung des Abschnittes über den »Krieg der Bolschewiki gegen die russische Revolution«, in dem Gietinger en passant noch den ‚orthodoxen Marxisten‘ Lenin mit Marx theoretisch erledigt. Er nimmt damitübrigens eine Diskussion wieder auf, die 1974 Rudi
Dutschke mit seinem »Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen« (1), angestoßen hatte, die seinerzeit zu einem wütenden Aufheulen in der – damals in der BRD noch recht einflußreichen – DKP führte.
IV.
Viele der abgebildeten Fotos sind etwas arg klein geraten (S. 65; 78-80), und daß die Karte von Kronstadt und der Petrograder Bucht nur mit einer Lupe zu betrachten ist (S. 23), wäre nun wirklich nicht nötig gewesen. Sehr angenehm ist dagegen, daß das Buch ein Namensregister enthält.
• J.S.
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