Rezension in der Zeitschrift
"Contraste" vom Dezember 2005
Eine sozialistische Fantasie ist geblieben
Ein Ex-Banker träumt von einer weltweiten gesellschaftlichen
Alternative - so was gibt's ja tatsächlich bei einem wie ihm, der
lange der DKP (Deutsche Kommunistische Partei) angehört und die
Ent-Täuschung nach dem Zusammenbruch des "real existierenden
Sozialismus" gründlich aufgearbeitet und andere Alternativen
erforscht hat. Werner Ruhoff hat die anarchistische Kommune Longo mal
in der Provence besucht, auch die Kommune Niederkaufungen bei Kassel
und die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim in Köln. Er hat
den ersten Kölner Umsonstladen mit initiiert. Aus seiner Kritik
der neoliberalen Globalisierung, der persönlichen Erfahrung mit
alternativen Lebensgemeinschaften und gezielter Lektüre zu seinem
Thema der Suche nach befriedigenden Lebens- und Arbeitsformen jenseits
des Kapitalismus (MST, Oekonux), entwickelt er seine "sozialistische
Fantasie". Anhand einer fiktiven Reportage und fiktiver LeserInnnenbriefe
können wir uns mit Ruhoffs Vorstellungen auseinandersetzen. Genau
das möchte der Autor erreichen: eine praxisnahe Debatte über
die Möglichkeiten, ein nachhaltiges "gutes Leben" für
alle zu verwirklichen.
So ganz neu ist das nicht. Callenbachs "Ökotopia"
in den siebziger, P.M.s "bolobolo" in den achtziger oder Christoph
Spehrs "Aliens unter uns" in den neunziger Jahren z.B. haben
Vergleichbares unternommen. Ruhoff bleibt dichter an der Praxis. Das
macht seine Erprobung diverser "sozialistisch-libertärer"
Modelle ernsthafter - deren Lektüre allerdings auch weniger vergnüglich.
In Ruhoffs Fantasie sind viele Bereiche aus dem engen
Geldkorsett des Warentauschs befreit: grund und boden, produktionsstätten,
wohnungen, gesundheit, kommunikation, bildung und kunst gehören
zur grundversorgung. (Die eigenwillige Rechtsschreibung im fiktiven
Teil des Werks verwendet die Großschreibung, um Veraltetes zu
kennzeichnen: "Arbeitsplätze", z.B. "Schlachthöfe",
"Kernkraftwerke", "Geld" und "Zinsen",
"Auto", "Gewalt", "Eigentum" oder "Obdachlose".)
Eine überwiegend agrarisch-basisgemeinschaftlich geprägte
Wirtschaft mit Kunst und Handwerk ohne Zwänge wird hier vorgestellt.
Die Ziele der Gesellschaft umfassen vor allem die Deckung de Grundbedürfnisse,
ökologische Nachhaltigkeit und Sicherung der Demokratie. Verschiedene
Maßnahmen, um dies zu erreichen, werden debattiert: eine Art Gesell'sches
Schwundgeld taucht da auf; Obergrenzen für den Verbrauch von Wasser
und Energie, bei deren Überschreitung Abgaben zu zahlen sind; eine
Mischung aus Basis- und Rätedemokratie. Als Anstoß und Transportmittel
für Veränderungen setzt der Autor setzt der Autor große
Hoffnungen in alternative Medien.
Einige philosophische Reflexionen im Epilog - angelehnt
an Kant, Marx und die Kritische Theorie - gipfeln in der Feststellung:
"Macht wird durch subalterne Mitwirkung an der macht gefestigt"
und der Klage: "Es gibt allzu viele Menschen, die in ihrer machtkonformen
Grundhaltung Grenzen und Zumutungen kaum als Einschränkung ihrer
Freiheit wahrnehmen. Macht ist Identität für Unterdrücker
und Unterdrückte". Womit die Hinwendung zum Anarchismus plausibel
wird, die weitgehend - wenn auch nicht durchgängig - dem Ruhoffschen
Entwurf einer Gegengesellschaft zugrunde liegt. Dass der Buchtitel dennoch
dem Sozialismus huldigt, stiftet eher Verwirrung.
Ruhoffs Buch wirft eine Vielzahl lohnender Fragen auf. Antworten gibt
es nicht, Anregungen sehr wohl. Das ist als Grundlage notwendiger Debatten
über die Entwicklung basisdemokratischer freier Assoziationen nicht
zu verachten.
Ariane Dettloff
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Rezension der "Sozialistische(n)
Zeitung" SoZ Oktober 2005
Sozialistische Fantasien
Neu, wenn auch nicht ganz neuartig ein Buch, in dem das
wichtigste Kapitel mit den Worten beginnt: "Eine sozialistische
gesellschaft müsste zum land zurückfinden, zur landwirtschaft
als grundlage einer gesunden ernährung und eines handwerklichen
tätigseins..."
Werner Ruhoff, Kölner Sozialist und früherer Anhänger
der kommunistischen Partei, hat seine "fantasien" zu Papier
gebracht, angeregt nicht nur durch das Scheitern des Realsozialismus,
dem er sich früher verbunden fühlte, sondern vor allem durch
alternative Erfahrungen von gemeinschaftlichem Zusammenleben und Arbeiten
jenseits des bisherigen sozialistischen Mainstreams.
Seine persönliche Reise von den gefügten Vorstellungen der
DKP- und DDR-Sphäre zu den Alternativen von Longo mai oder der
Sozialistischen Selbsthilfe in Köln-Mülheim wird anschaulich
ergänzt durch seine Vorstellungen, wie denn eine neue andere Art
von Sozialismus aussehen könnte: "Ich bin der Meinung, der
Real-Sozialismus ist gescheitert, weil die soziale Utopie von vornherein
durch ein autoritär-bürokratisches System zur Durchsetzung
einer rigiden Industrialisierung erstickt wurde ... Die Stärke,
die uns mehr und mehr bewusst werden sollte, liegt darin, dass wir tätig
und kreativ sein können, ohne in Kapitalverhältnisse eingebunden
zu sein ... Solange wir mit dem Ruf nach Arbeit das Kapital meinen,
das uns Arbeit organisiert um sich zu vermehren, werden wir unter den
Bedingungen eines wachsenden Arbeitskräfteüberschusses zunehmend
erpressbar, auch noch die letzten Reste von Würde für einen
Hungerlohn und sinnentleerte Arbeiten zu verkaufen."
Jenseits des Kapitals sucht Ruhoff nach anderem Leben und Arbeiten ("Tätigsein")
und widmet in seinem Buch viele Seiten den ökonomischen und gesellschaftlichen
Utopien, die er in Ansätzen in seiner Stadt und draußen gefunden
hat. Jede dieser Fantasien mag diskussionswürdig sein: Produktion
im Viertel für die Selbstversorgung, Lebensmittelverteilung, freier
Wohnraum, handwerkliche Verarbeitung, Maschinenrecycling, Diskussion
über Bedarf und Bedürfnisse, Mobilität auf der Basis
von öffentlichem Verkehr, alles das stellt sich der Autor konkret
für seine Stadt vor.
Wo das Buch allerdings passen muss: wie soll es dahin kommen, dass solche
sozialistischen Ideen Wirklichkeit werden? Welche nicht nur kleinen
Gruppen werden aufgrund der jetzigen Widersprüche an so einem Prozess
teilnehmen? Jenseits solcher Fragen ist das Buch wichtig für Menschen,
die sich wie der Autor selbst in Solidarität zur DDR und Sowjetunion
verstanden haben - und denen er seinen Epilog widmet: "Wer den
Mut zur Scham nicht aufbringt, muss leugnen und verdrängen oder
in eine andere Identität flüchten
Der Marxsche Imperativ,
alle Verhältnisse umzustürzen, die den Menschen knechten,
erniedrigen, aus ihm ein verächtliches Wesen machen, wurde verfehlt
(Im Real-Sozialismus) wurde die Moral ebenso zur reinen Funktion
des Klassenkampfes, zu einem Instrument, das den kategorischen Imperativ
menschlichen Handelns außer Kraft setzte und den Menschen quasi
zum Objekt degradierte."
Rolf Euler
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Rezension in der Zeitung ak
- analyse & kritik -Zeitung für linke Debatte und Praxis /
Nr. 501 / 16.12.2005
Aufgeblättert
Sozialistische Fantasie
"Ich stelle mir die U-Bahn vor. Ich stelle sie mir
schön vor." So sinniert Jörg in Peter Paul Zahls Kultroman
"Die Glücklichen". Das Vorstellen, das Fantasieren ist
seit dem in der Linken ziemlich aus der Mode gekommen. Die Lust an der
gesellschaftlichen Utopie, ursprünglich durchaus fester Bestandteil
aller Strömungen der jungen ArbeiterInnenbewegung, ist inzwischen
nicht nur unmodisch, sondern in weiten Teilen auch diskreditiert. Für
den Verlust an konkret-utopischem Denken in der Linken gibt es viele,
auch gute Gründe, doch heute, wo die Gewaltförmigkeit der
neoliberalen Umstrukturierung sich als scheinbar alternativlos präsentiert,
macht sich dieser Verlust als schmerzhafte Leerstelle bemerkbar. Wo
nicht mehr über Kommunismus gestritten wird, bleiben als Alternative
zum Neoliberalismus nur die Rückkehr zu den angeblich goldenen
Zeiten des keynesianischen Sozialstaats oder realpolitische Versatzstücke
eines re-regulierenden Neo-Reformismus. Vor diesem Hintergrund ist Werner
Ruhoffs schmales Büchlein "Eine sozialistische Fantasie ist
geblieben" ein mutiger Schritt. Seine Fantasie bezieht sich nicht
nur auf U-Bahnen, sondern auf eine neue Gesellschaft, auf Produktion,
Verteilung, Demokratie. Es ist die soziale Utopie eines Linken, der
ursprünglich am Realsozialismus orientiert und nach dessen Zusammenbruch
nachhaltig erschüttert den Freiheitsgedanken und damit auch die
verschiedenen sozialen Experimente der 1970er und 1980er Jahre (neu)
entdeckt. Das ist irritierend für die Linken, die gerade mit diesen
Experimenten eines alternativen Lebens und Wirtschaftens sozialisiert
worden sind und vor allem deren Widersprüchlichkeit und Scheitern
erlebt haben. Es öffnet aber gleichzeitig noch einmal die Augen
für das soziale Potenzial, das in Kommune- und Selbsthilfeprojekten
gesteckt hat und zum Teil immer noch steckt. Ruhoff verlängert
diese Erfahrungen zu einer konkreten gesellschaftlichen Utopie. Es ist
eine Utopie, die man nicht teilen muss (etwa die tendenzielle Verklärung
des "einfachen Landlebens") und die eine Vielzahl von Auslassungen
beinhaltet (etwa die Frage danach, wie eine globale Befriedigung von
Bedürfnissen ohne industrielle Massenproduktion bewerkstelligt
werden soll). Es geht um die Debatte, wie "wir" eigentlich
leben und arbeiten wollen, wenn "wir" denn könnten, wie
wir wollten. Für diese Debatte hat Werner Ruhoff eine schöne
Steilvorlage geliefert.
dk
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