EINE KONTROVERSE DEBATTE
Am 16. November 2012 fand im Mehrighof (Berlin-Kreuzberg) eine Veranstaltung des Arbeitskreises Geschichte von unten Ost/West statt, auf der Gerd Stange sein Manifest vorstellte. Der Abend war eine Werbeveranstaltung für eine Linke, die themaorientiert, kritisch und solidarisch miteinander diskutieren kann. Im Folgenden sind einige Beiträge aus dem Podium der Veranstaltung dokumentiert. Dazu haben wir einen Artikel von Erhard Weinholz gestellt, auf den sich der Beitrag von Sebastian Gerhardt bezog.
Systempunkte März 2013
"Wichtig Ist, Dass Solche Konzepte Überhaupt Vorgeschlagen Und Diskutiert Werden"
Es war eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen den sich ansonsten so dramatisch gegenseitig kritisierenden Marx und Bakunin, dass beide – sich darin von den sogenannten FrühsozialistInnen absetzend – das Konzipieren eines kohärenten sozialistischen Systems als autoritär ablehnten. So kritisierte Bakunin, dass „die Reglementierungswut (…) die gemeinsame Leidenschaft aller Sozialisten vor 1848“ gewesen sei: „Cabet, Louis Blanc, Fourieristen, Saint-Simonisten, alle waren sie davon besessen, sich die Zukunft gefügig zu machen und sie im voraus zu gestalten, allesamt waren sie mehr oder minder Autoritäre.“ (Bakunin 1868: 48) Und auch Marx verwahrte sich noch 1880 dagegen, jemals „ein ‚sozialistisches System’ aufgestellt“ zu haben (Marx 1880: 357). Da man nun nicht so recht ohne jegliche Vorstellung vom Künftigen handeln und denken kann, besetzte bei Marx allerdings das zumeist nebulös gehaltene Konzept der „Diktatur des Proletariats“ diesen leeren Raum – und wirkte sich vielleicht gerade aufgrund seiner Unkonkretheit historisch so furchtbar aus. Im Anarchismus hingegen war man sich über diese Problematik durchaus bewusst. Bezeichnend hierfür sind die Ausführungen Schwitzguébels, der einerseits meinte: „Wenn es um die Zukunft geht, sind wir mehr noch als in allen anderen Dingen Gegner absoluter Festlegungen. Deshalb müssen wir begreifen, dass die wahre Konzeption die der historischen Erfahrung ist.“ (Schwitzguébel 1880: 213) Andererseits aber betonte er, dass die Gefahr der Entstehung einer autoritären Gesellschaft während und nach der Revolution das Vorzeichnen der „großen Linien einer neuen Gesellschaftsordnung“ verlange (ebd.).
Mittlerweile scheint man sich auf Seiten der Linken weitgehend dieser Problematisierung angeschlossen zu haben und ein rigide gefasstes „Bilderverbot“ findet wohl deutlich weniger AnhängerInnen als zu Zeiten sozialdemokratischer Kladderadatsch-Theorien.
Beispielhaft für diesen Trend ist auch das kleine Bändchen „Die libertäre Gesellschaft“ – von der Berliner „Buchmacherei“ veröffentlicht –, in dem Gerd Stange seine „Grundrisse einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus“ zur Diskussion stellt.
Ausgangspunkt: Krise und Neubeginn
Den Ausgangspunkt von Stanges Ausführungen bildet die Diagnose, dass wir etwas grundsätzlich Neues versuchen müssten: „Wir wollen auf kein altes (sozialistisches, kommunistisches, anarchistisches oder sozialdemokratisches) Konzept der Gesellschaftsveränderung zurückgreifen oder alte Kontroversen wiederkäuen. Sie sind alle dem 19. Jahrhundert verhaftet und theoretisch überholt.“ (S.9) Etwas Neues zu tun sei umso dringlicher, als wir in einer Zeit sich vollziehender und anstehender Katastrophen leben: „Die Konfliktlinien eines dritten Weltkriegs beginnen sich abzuzeichnen.“ (S.14) Also gelte: „Die aktuelle Krise fordert zum Handeln auf, damit wir nicht weiterhin von Katastrophe zu Katastrophe taumeln.“ (S.23) Gekennzeichnet sei diese „vielfältige Krise“ durch folgende Aspekte: „Krise der Arbeitsgesellschaft“, „der gesellschaftlichen Instanzen“, „der Werte“, „der Beziehungen“, eine „Konsumkrise“ und „Legitimationskrise“ (S.23).
Worum es Stange dabei geht, ist eine Gesellschaft anzuvisieren, in der es möglich wird, „das Individuum mit der Gesellschaft gleichberechtigt zu entwickeln, Autonomie und Solidarität als notwendige Ergänzungen zu begreifen“ (S.16). Hierfür gelte es „Fehler zu analysieren“ (S.25), nicht zuletzt die der eigenen Praxis: „Wir haben in egalitären Projekten gearbeitet, Gesundheitszentren aufgebaut, in Wohngemeinschaften gelebt und so getan, als ob die Absicht genügt, Hierarchie und Macht abzuschaffen. Die Selbstveränderung in einer Umwelt, die andere Werte durchsetzt, war schwerer, als wir dachten. Wir haben uns überschätzt, und trotzdem war der Versuch lohnenswert und hat uns stärker gemacht, den Widerständen zu begegnen. Wir müssen diese Erfahrungen aufarbeiten, um Irrwege zu vermeiden. Wir suchen erst einmal Zwischenschritte, um weiterzugelangen. (…) Wir brauchen konkrete Ziele“ (S.12)
Es gehe dabei auch darum bisherige „Tätigkeiten und Aktivitäten (…), die ohne Lohnarbeit auskommen würden“ zu „entfalten“, sowie sich andere Möglichkeiten zu erobern, was meint: „Freiräume zu erkämpfen“ (S.24)
Kernpunkt: dezentrale Rätedemokratie
Die Basis von Stanges „Skizze wie das Neue aussehen könnte“ (S.27) ist die radikal-demokratische Föderation: Die „Grundpfeiler der libertären Gesellschaft bestehen aus der basisdemokratischen Orientierung und Organisierung unseres alltäglichen Lebens und der Vergesellschaftung unserer Lebensbedingungen.“ (S.34) Als „Fundamente“ werden genannt: „Individuelle Emanzipation“, „Persönliche Autonomie“, „Vergesellschaftung“, „Basisdemokratie“, „Grundeinkommen“, „Lebensarbeitszeit“, sowie „Zeit, unsere Wünsche und Bedürfnisse zu leben“ (S.34). Gewährleistet werden soll dies durch ein „konsequent überall eingeführt[es]“ Rätesystem (S:65), gipfelnd in einem „Netzwerk von Delegiertenräten“ (S.45). Grundprinzip desselben soll sein: „Wir bauen die Gesellschaft von unten nach oben, jedes höhere Gremium hat weniger zu entscheiden als das darunter.“ (S.51) Denn: „Unser Grundprinzip der Basisdemokratie ist: Alle Probleme werden an der Basis, d.h. auf der niedrigst möglichen Ebene behandelt.“ (S.48) Die Möglichkeit hierzu liege in der Dezentralisierung des Bestehenden: Ökonomisch geht es um die „Zergliederung größerer Konzerne in Einheiten, die sich verwalten lassen, weil diese Megamaschinen die Menschen zu Anhängseln eines Molochs machen, der strukturelle Gewalt auf sie ausübt“ (S.43); politisch im Anvisieren von Städten mit ca. 125.000 BewohnerInnen, „um lebenswert, überschaubar und regierbar zu sein. Millionenstädte müssen in Stadtbezirke aufgefächert werden, die für sich jeweils eine Einheit von etwa 125.000 Menschen bilden, sich wie eine selbständige Stadt organisieren und ihre Repräsentanten wählen“ (S.51). Es sollen also Verhältnisse geschaffen werden, in denen „gemeinschaftliche Aufgabe[n] (…) nicht mehr Angelegenheit der abgehobenen politischen Sphäre“ sind, „sondern kontrollierbar und korrigierbar“ (S.72).
Kritische Anmerkungen
Das erste, was bei der Betrachtung dieser Skizze überrascht ist, dass sie kaum neue Gedanken enthält. Im Grunde knüpft Stange hier recht nahtlos an Vorstellungen von Dezentralisierung und Föderation an, die der Anarchismus seit jeher vertreten hat. Insofern ist seine Ablehnung von allem Alten durchaus nicht so ohne weiteres gerechtfertigt, zumal man nicht unbedingt sagen kann, dass Stange das Niveau der Problematisierung solcher Konzepte erreicht, wie sie in der Vergangenheit bisweilen geleistet wurden. Insgesamt erscheint alles ein wenig einfach, wenngleich Stange durchaus auch meint, dass der anvisierte Prozess „nicht reibungslos verlaufen“ (S.39) und es „in jeder Gesellschaft abweichendes Verhalten geben“ (S.65) werde – worauf man sich einzustellen habe. Wenn er meint, „dass eine neue Gesellschaft nur mit neuen Menschen aufgebaut werden kann und dass sich neue Menschen nur in einer neuen Gesellschaft entwickeln können“ beschreibt er aber nur die klassischer Zirkelproblematik vieler revolutionärer Konzepte, stellt aber auch die grundsätzliche Frage: „Wie kommen wir mit den jetzigen Menschen in die zukünftige Gesellschaft? Aus der Pariser Kommune, aus Spanien 1936 oder eigenen Projekten haben wir ein Prinzip gelernt: In dem Prozess, in dem wir gemeinschaftliche neue Strukturen schaffen, um andere Werte zu leben, entsteht das Neue.“ (S.26) Nun, ist es aber so einfach?
Nun legt Stange bewusst eine Skizze vor und es wäre wohl falsch, von einer solchen mehr zu erwarten, als sie leisten kann. Vieles jedenfalls bleibt unklar und dass an Stellen, an denen eine Diskussion vielleicht gerade beginnen müsste. Beispielsweise ist fraglich, was genau unter „gesellschaftliche[m] Allgemeininteresse“ (S.30) zu verstehen ist und wer dieses verkörpert. Oder es heißt, dass ich „während meines Arbeitslebens (…) meinem Leben einen neuen Sinn geben“ müsse (S.40). Wieso „muss“ ich das? Ist das nicht meine Sache, weil mein Leben? Als Form des Ausschlusses im Heute erwähnt Stange: „Wenn sie zuhause Musik hören oder feiern, kommt die Polizei im Namen der Nachbarschaft. Für alles gibt es im Kapitalismus Orte, aber man muss bezahlen. Wer nicht konsumiert, wird ausgeschlossen.“ (S.32) Nun wird das Problem, dass man aufeinander Rücksicht nimmt, auch in einer libertären Gesellschaft von Bedeutung sein. Und mit dem Abschaffen des Kapitalismus wird wohl kaum das Problem der Lautstärke absterben. Auch Stanges Aversionen gegen Formen des Sports, bei denen es GewinnerInnen und VerliererInnen gibt, kann ich nicht folgen (52f.). Ist es möglich, überhaupt wünschenswert jedes agonale Moment aus dem Alltag der Menschen zu verbannen? Braucht man nicht vielleicht vielmehr solche Formen, zur Entlastung, zum Abreagieren oder einfach zum Spaß? Lauert hier nicht im Hintergrund ein zutiefst problematisches Bild einer „Diktatur der Freundlichkeit“? Und wie ist das mit dem Geld: „Geld als Vermittlungsinstrument, als Zirkulationsmittel von Waren und Werten bleibt weiterhin nützlich. Geld ist seit Jahrtausenden Zirkulationsmittel. Wir haben keine Probleme damit, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und somit unterschiedlich viel Geld brauchen. Wichtig ist, dass es Reichtum in der bisherigen Form nicht mehr geben soll.“ (S.61) Ohne gleich bei den Wörtern „Geld“ und „Waren“ die wertkritische Alleszermalmende Berserkeraxt herauszuholen, werfen diese Sätze dennoch viele Fragen auf. Auch neigt Stange zu einer wesentlichen Psychologisierung der künftigen Gesellschaft: „Teams aus Juristen, Pädagogen, Psychologen und Sozialpädagogen sollen Menschen, die gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen, helfen. Ursachen müssen erforscht, Maßnahmen diskutiert werden. Die Menschen sollen die Möglichkeit zur freien Persönlichkeitsentwicklung bekommen.“ (S.65) Das Problem der anscheinend hauptberuflich agierenden „Juristen“ beiseite gelassen, wäre es vielleicht doch zumindest angebracht gewesen, ein wenig auf die möglichen Gefahren solcher Vorstellungen hinzuweisen – lauert im Arzt und der Therapeutin die neue herrschende Klasse der Wissenden? Diese Problematik zeigt sich auch in Stanges Ausführungen zur Erziehung, der, wie Stange zurecht meint, „verantwortungsvollste[n] Aufgabe einer Gesellschaft“ (S.56). Denn, so heißt es: „[D]etaillierte Beurteilungen [müssen] dem Kind helfen, in seiner Entwicklung weiter zu kommen. Die Rahmenbedingungen und die Lehrkräfte sind verantwortlich dafür, die grundsätzlich vorhandene Motivation der Kinder zu fördern und nicht zu zerstören oder durch Sekundärmotivation zu ersetzen (sogenannte Leistungsanreize). Lernblockaden haben Ursachen, die herausgefunden und verändert werden müssen. Psychologisches Wissen und therapeutische Erfahrung sind gefragt.“ (S.58) Lässt sich dies als eine Art ‚fürsorglicher’ Dauerbeobachtung verstehen, die dazu tendiert dem Kind letztlich noch weniger Freiraum zu lassen, als das zu überwindende „Herr-Knecht-Verhältnis in der Schule“ (S.54)? Dann heißt es denkbar vage: „Das Grundeigentum ist aber nicht bedingungslos, wie manche fordern, weil es Teil eines Gesellschaftsvertrages ist, den wir miteinander eingehen. Alle paternalistischen Versorgungssysteme führen zum Des-Engagement. Die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Gelingen muss sich konkretisieren.“ (S.38) Die grundsätzlich dahinter stehende Problematik ist nun nicht einfach von der Hand zu weisen, aber wenn eine freie Gesellschaft offenkundig auf solch einen die individuelle Existenz in ihren Grundfesten berührenden Zwang zurückgreifen muss, um Engagement zu fördern, scheint diese Freiheit jedenfalls nicht sonderlich anziehend zu sein.
Fazit
Alles in allem war die Lektüre von Stanges Skizze keine allzu große Offenbarung. Aber das muss sie ja auch nicht sein. Und es gibt ja grundsätzlich richtige Dinge, die man ruhig öfter wiederholen kann. Wichtig aber scheint mir vor allem, dass solche Konzepte überhaupt vorgeschlagen und diskutiert werden. Daraus hoffentlich folgende Auseinandersetzungen bringen vielleicht für sich genommen schon mehr als alle Skizzen und Programme dieser Welt. Denn letztlich entscheiden nicht solcherart Vorstellungen, sondern das konkrete Tun in welche Richtung der jeweilige Weg geht. Und eines hat Stange völlig zurecht betont: „Wenn die Macht von oben nach unten geholt wird, müssen alle sehr viel mehr diskutieren und entscheiden, statt zu erdulden. Sie müssen lernen, ihre Interessen selbst zu vertreten.“ (S.39) Auch ein kleines Büchlein wie das vorliegende kann so für das Herausarbeiten aus der eigenen, selbstverschuldeten Unmündigkeit einen wertvollen Beitrag leisten.
Zusätzlich verwendete Literatur
Michael Bakunin 1868: Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus. Münster: Unrast Verlag, 2000.
Karl Marx 1880: Randglossen zu A. Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“, in: Marx-Engels-Werke (MEW). Band 19. Berlin: Dietz Verlag, 1962. S.355-383.
Adhémar Schwitzguébel 1880: Kollektivistisches Programm, in: Erwin Oberländer (Hg.). Der Anarchismus. Dokumente der Weltrevolution. Band 4.Olten: Walter Verlag, 1972. S.193-216.
Philippe Kellermann
Direkte Aktion März 2013
"An der Grenze zwischen Utopie und Utopismus"
Gerd Stange, Aktivist seit den 1970er Jahren, kehrt in die politische Bewegung zurück mit einem Text, der deutlichen Manifest-Charakter hat und in dem er eine Lanze für die Utopie bricht – eben mit dem Zitat Victor Hugos, dass die Utopie die Wahrheit von morgen sei.
Revolutionär Neues muss man dabei nicht erwarten – und vielleicht ist das auch vollkommen in Ordnung so, denn die alten Ideen und Utopien sind ja nun teilweise so verschütt gegangen, dass es ein durchaus lohnenswertes Projekt darstellt, diese noch mal in Erinnerung zu rufen und neu zu kombinieren – gerade in einer Zeit, in der Utopien als „utopisch“ gelten.
Mut zur Utopie
Dass sie das nicht sind, hat der Frankfurter Sozialwissenschaftler Alex Demirović mal auf den Punkt gebracht, als er betonte, dass die VertreterInnen des Neoliberalismus im Gegensatz zur Neuen Linken Mut zur Utopie bewiesen hätten – und ihre Utopie dann eben auch durchgesetzt haben.
Gerd Stange schlittert dabei allerdings manchmal nur haarscharf an der Grenze zwischen der Formulierung einer Utopie und einem Utopismus vorbei: Der Utopismus der FrühsozialistInnen, der ab den 1840er Jahren vermehrt von der aufkeimenden Arbeiterbewegung kritisiert wurde, war eben nicht nur die Formulierung einer Welt von morgen, sondern in vielen Beispielen eine sehr konkrete Formulierung von Einzelpersonen die dann – im Kern autoritär – genauso von den arbeitenden Massen vollzogen werden sollte, ohne dass sie sich selber in die Ideendebatte einbringen konnten. Die Idee der Demokratie war hier noch keineswegs selbstverständliches Element der sozialen Bewegungen.
In diesem Sinne stößt Stange manchmal mit seinen sehr konkreten Vorschlägen – bei denen zu betonen ist, dass es sich eben um Vorschläge handelt, die nicht von heute auf morgen realisierbar sind – über das Ziel hinaus: Etwa, wenn er ein recht eindeutiges Bezahlungssystem vorschlägt, in dem jeder das gleiche verdient und aber darüber hinaus, sozusagen für „Luxus“, aber ohne die Möglichkeit der Akkumulation (der Anhäufung von Reichtum), mehr arbeiten und damit auch mehr verdienen darf. Oder aber auch mit dem Vorschlag eines (wenn auch individuellen) Kontingents an Bildungsstunden – mir persönlich will es ehrlich gesagt nicht in den Kopf, dass „Bildung“ überhaupt in Einheiten aufgeteilt und verteilt werden muss. Das misst die Bildung schon mit heutigen Wertverständnissen. Gerd Stange umgeht das Problem – sowohl der Bezahlung wie auch des zugestandenen Bildungskontingents – damit, dass er Arbeitspflicht, Bildungsrecht und Bezahlung jeweils mit so niedrigen (im ersten Fall) oder hohen (bzgl. Bildung und Bezahlung) Zahlen ansetzt, dass sich Protest dagegen erübrigen würde. Dennoch: Bei allem Mut zur Utopie ist ein wenig Realismus angebracht, und der sagt uns, dass diese Zahlen nicht sofort erreicht werden können. Und wenn diese nicht erreicht werden, heißt das, die Bezahlung oder auch die Möglichkeiten der Bildung müssten reglementiert werden. Hier wäre eine Diskussion zu führen, wie dies unter der Beteiligung aller überhaupt möglich wäre, ohne gleich wieder in ein neues Herrschaftsverhältnis abzurutschen.
Mythen über die Arbeiterklasse
Wie viele – wohl die meisten – Linken und Libertären beruft Gerd Stange sich auf Geschichte und Tradition. Das ist in erster Linie die Geschichte der Arbeiterbewegung. Und da sich die verschiedenen linken und libertären Traditionen immer auch auf verschiedene Geschichten berufen, besteht auch bei Stange hier ein Abgrenzungsbedürfnis, um die Tradition neu zu formulieren: „Die traditionelle Linke bezieht sich auf die Arbeiterklasse, worunter sie diejenigen versteht, die einen Arbeitsplatz haben und gewerkschaftlich organisiert sind“ (S.15). Nanu? Das mag vielleicht dem Umstand geschuldet sein, dass linkslibertäre Strömungen nicht als „traditionelle Linke“ gelten oder aber auch dem, dass Gerd Stange sich nahezu zwei Jahrzehnte aus einer entsprechenden Diskussion herausgehalten hat, aber es ist eigentlich nicht neu, dass die „Arbeiterklasse“ keineswegs nur aus Berufstätigen und erst recht nicht nur aus GewerkschafterInnen besteht. Neben Anti-Atom-Protesten und den Protesten gegen den Irak-Krieg 2003 waren immerhin die größten sozialen Proteste der 2000er Jahre die Proteste gegen die Hartz-Gesetzgebung. Und die wurden teilweise, wenn auch zum Leidwesen vieler Beteiligter, von sehr, sehr traditionellen „Linken“ begleitet.
Worauf Stange hinaus will, ist freilich das Spannungsverhältnis mit den Neuen Sozialen Bewegungen, das es zu überwinden gälte. Und wenn man als „Arbeiterbewegung“ die großen, korporatistischen Gewerkschaften im Auge hat, ist hier tatsächlich einiges im Argen: Wir müssen uns nur mal den Konflikt zwischen ArbeiterInnen in den Atomkraftwerken und den zu recht zahlreichen VerfechterInnen des Atomausstiegs vor Augen halten oder – noch deutlicher – die Verlautbarungen aus den Reihen der DGB-Gewerkschaften zum Thema Bundeswehr.
Mit der daraus resultierenden Ablehnung der Berufung auf eine solche Tradition baut Gerd Stange dann teilweise eine schon fast absurde Argumentationskette auf: „Viele Tätigkeiten und Aktivitäten finden allein oder im Verein statt, die ohne Lohnarbeit auskommen. Man nehme zum Beispiel das Engagement, mit dem zahlreiche junge Menschen das freiwillige soziale, ökologische oder europäische Jahr machen. Sie bekommen ihren Lebensunterhalt annähernd bezahlt, ohne Lohnarbeiter zu sein. Trotzdem leisten sie Erstaunliches. Oder gerade deswegen“ (S.32).
Hier fehlt leider vollkommen die Einbettung in eine Kritik des Kapitalismus: Gerd Stange hatte zuvor, ganz richtig, das Genossenschaftswesen dahingehend kritisiert, dass es nach wie vor in kapitalistischer Konkurrenz steht und zur Selbstausbeutung tendiert. Im selben Sinne ist es doch – und es gibt ja auch zahlreiche entsprechende Kritiken von Freiwilligendiensten – überdeutlich, dass FSJ, FÖJ etc. Lohnarbeitsstrukturen sind, die dazu noch von einer Überausbeutung geprägt sind. Stange selbst schreibt das ja sogar: Die Bezahlung reicht „annähernd“ für den Lebensunterhalt. Und folglich sind FSJler u.ä. eindeutig Lohnarbeiter – hier wird lediglich die rechtliche und die politische Kategorie durcheinandergeworfen. Jedenfalls sind diese Strukturen staatlich subventionierter Überausbeutung bestimmt nicht geeignet, um aus ihnen eine Utopie zu formulieren.
Ein solches Verständnis von „Arbeiterklasse“ war noch nie richtig und es ist letztlich auch nicht das „traditionelle“, sondern ein in Weimarer Zeit mit ihren Rationalisierungsdebatten aufkommendes Klischeebild, das insbesondere von kommunistischen Parteien aufgenommen wurde und auch in den 1960er und 1970er Jahren als „Proletkult“ fröhliche Urstände feierte – daher wird Gerd Stange es sicherlich auch haben. Nichtsdestotrotz war es schon immer schlicht falsch. Und aus einer Kritik an dieser Sicht formuliert Stange dann auch, dass die „klassenlose Gesellschaft“ nicht Ziel des Kampfes des Proletariats sei – sondern daraus lediglich eine neue Klassenherrschaft resultieren könne – und zieht sodann den Nationalsozialismus als Beispiel einer Herrschaft von vielen über wenige heran (S.47).
Kurz: Aus einem begrenzten Klassenbegriff resultiert die Annahme eines begrenzten Ziels des Klassenkampfs. Die Schlussfolgerung ist – in jedem Fall – eine Untauglichkeit des Klassenbegriffs. Die Konsequenz daraus ist für Gerhard Stange die vollkommene Verwerfung des Klassenbegriffs. Die syndikalistische Schlussfolgerung wäre eine andere Formulierung des Klassenbegriffs.
Syndikalistische Aspekte
Das waren letztlich in der Geschichte immer zwei: Ein relativ eng an Marx orientierter, der die Arbeiterklasse an den Aspekt der Besitzlosigkeit und der daraus resultierenden Notwendigkeit zum Verkauf der Arbeitskraft definierte, und der an dem Punkt der Betonung einer Arbeitermacht, die zu direkter Aktion und zum Generalstreik befähigt, über Marx hinausging; sowie ein kultureller, der die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, aber auch soziokulturelle Aspekte wie gemeinsame wirtschaftliche Lage, in den Mittelpunkt stellte. Kann Gerd Stange auch an diese Position anschließen? Oder: Kann ein aktueller Syndikalismus an Stange anschließen?
Ja, denn in der Gesamtbetrachtung ist Gerd Stanges „Die libertäre Gesellschaft“ trotz der erwähnten Mankos durchaus lesens- und auch diskutierenswert. An dieser Stelle die Kritikpunkte hervorzuheben, ist auch deutlich dem Wunsch von Autor und Verlag geschuldet, über den Text in die Diskussion zu kommen. Und wenn Gerd Stange in seinen manchmal zu konkreten Zukunftsvisionen eine doppelte Netzstruktur mit einem „regionale[m] Netz zwischen Gleichen“ und einem „inhaltliche[n] Netz zwischen Verschiedenen“ vorschlägt, knüpft er damit an die Doppelstruktur syndikalistischer Gewerkschaften (Branchen- und Regionalstruktur) an. Besonders deutlich wird die Anschließbarkeit im Aspekt der Sozialisierung des Eigentums: Gerd Stange macht deutlich, dass es nicht einfach reicht, einige „selbstverwaltete Projekte“ zu haben, die vor sich hinwurschteln. Heutige „autonome Strukturen“ wie etwa linke Zentren leiden zumeist daran, dass eine ebenso „autonome“ Clique sie verwaltet, die Regeln bestimmt und das Ganze zu einem Szeneloch versumpfen lässt. Gerd Stange schlägt für solche „autonomen Strukturen“ neutrale Prüfungskommissionen vor (S.43).
Das klingt autoritär, ist es aber nicht, im Gegenteil: Wenn man den Anspruch ernst nimmt, dass irgendwann alles Allen gehören soll, dann darf man keine Cliquen dulden, die allein ihre Interessen durchsetzen, sondern benötigt basisdemokratische Kontrollinstanzen, die den gesamtgesellschaftlichen Anspruch aufrechterhalten. Denn Anarchie ist ja schließlich nicht Chaos, sondern, wie es so schön heißt „Ordnung ohne Herrschaft“.
Teodor Webin
Syndikalismus Dezember 2012
"Extrem dürftig"
Die Idee, sich mit den Bedingungen und Voraussetzungen für eine libertäre Gesellschaft auseinander zu setzen, findet meine vollständige Unterstützung. Allerdings sollten neuzeitliche Erörterungen bitteschön auch Handlungsanweisungen und Empfehlungen enthalten, wie wir dann dorthin gelangen könnten. Allein die Aufforderung, doch Kollektive zu gründen, ohne arbeiterselbstverwaltete Selbstbestimmungsmodelle zu beschreiben, ist etwas dürftig.
Die Ankündigung dieses Traktates erinnerte mich sofort an das Selbstverständnis der Londoner Group Solidarity aus dem Jahre 1973 – As we see it – As we don’t see it1. Doch die Enttäuschung war beträchtlich,denn deren Vorschläge und Ansichten sind deutlicher was den Prozess des Übergangs in eine libertäre Gesellschaft beschreibt, ohne als trotzkistisches Übergangsprogramm gebrandmarkt werden zu können.
Bereits auf S. 11 ergreift einen das Grauen, wenn der Autor Gerd Stange behauptet, «die Enttäuschung des Proletariats über die Ohnmacht der Arbeiterbewegung hat immer wieder Massen von Arbeitern zu reaktionären und faschistischen Parteien überlaufen lassen.» So weit, so richtig – auch wenn ‚Massen’ nicht zwingend ‚Mehrheit’ bedeutet –, aber der sofort nachfolgende Satz ist entwaffnend dumm: «In den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts schien gesellschaftliche Veränderung von niemandem mehr gewollt. Resignation breitete sich» aus … Soviel zu den Kenntnissen dieses Herrn. Mitte der Fünfziger Jahre setzte das so genannte Ehrhardtsche (SS-geplante) ‚Wirtschaftswunder’ ein, der Wohlstand prosperierte – und dem erwachsenenbildenden Körperpsychologen Stange fällt als gesellschaftliche Analyse nur ein «schien» ein. Bitte tanze uns mal den Begriff ‚Widerstand’ …. Der dann zehn Jahre später – wohl aus ebenso unerklärlichen Garküchen – auftauchte (die 1969er Streikbewegung) und mit Willy Brandts ‚Mehr Demokratie-wagen’-SPD-Wahlsieg ersäuft wurde. Die aus der Kloake der Geheimdienste auftauchende RAF erwürgte dann den neuerlichen Auftritt einer emanzipatorischen – und vor allem – multikulturellen Arbeiterbewegung in Deutschland endgültig mit ihrem pastoralen Terrorismus. Aber das hat Stange wohl alles verpennt oder verdrängt.
Wer Behauptungen aufstellt und sich dann ganz von einer geschichtlichen Analyse abkoppelt, der ist zum Scheitern verurteilt, egal was für einen klugen Brei er sonst noch verzapft. Auch bei Stange geht es ganz entschieden darum, dass wir den Kapitalismus nur überwinden können, wenn wir endlich anfangen, Fakten zu schaffen. Und das bedeutet, eben nicht auf den ‚Kommenden Aufstand’ zu warten oder ihn herbeizuagitieren. Auch dieser Aufstand würde «massakriert» werden, da stimme ich ihm zu.
Der Abschied vom Proletariat mag sehr anarchistisch klingen, nur – wer sonst soll denn die Produktion aufrecht erhalten, damit wir nicht alle verhungern? Besonders, wenn wir uns die Vorstellung zu Gemüte führen, dass jeder Mensch an gesellschaftlich notwendiger Tätigkeit in zehn Jahren nicht mehr als 4.000 Stunden abzuleisten hat (grob gerechnet geht der Autor von 200.000 Lebens«arbeits»stunden aus) – per anno also gerade einmal 400 Stunden, das bedeutet dann immerhin ein 50-jähriges «Arbeits»leben. Das dürfte etwas eng werden. Aber für Gürtelengerschnallen ist Stange ohnehin – mag sein, dass die französische Provence mehr Naturalien abgibt, als eine Großstadt … und nicht jeder besitzt ein eigenes Gästehaus im freundlichen sonnigen Süden. Ebenfalls unscharf seine Kritik an der «Wachstumsideologie», die er aber nicht mit einem einfachen «Konsumverzicht» kontern möchte; das dürfte für die vielen Hungernden der Erde wohl auch extrem zynisch klingen. Wie deren Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wohnung und Bildung bei einer 8-Stunden-Woche befriedigt werden sollen, mag Stange erklären, ich kann es nicht. Allein auf einem Schiff dürfte das zum Untergang führen, entweder, weil zu viele Matrosen an Deck rumturnen und auf ihre Kurz-Arbeit warten oder weil sie wegen zu wenig Personal absaufen.
Die Gegnerschaft zur «den Kapitalismus mit generierenden Arbeiterklasse» («Der Gegner des Kapitalismus ist nicht das Proletariat, so wenig wie der Träger des Kapitalismus der Kapitalist ist»; S. 11) macht mich wirklich sprachlos. Natürlich kämpft die aktive Arbeiterbewegung einerseits für Verbesserungen im Kapitalismus (sie steht zweifelsohne nicht außerhalb des System der Ausbeutungsverhältnisse), ihr aber vorzuwerfen, sie gehöre zur Maschinerie des Systems – das dürfte kaum die freie Entscheidung der Mehrheit der Klasse sein. Für eine sozialrevolutionäre, klassenkämpferische Arbeiterbewegung trifft das jedenfalls nicht zu – sie kämpft ja gerade für die Aufhebung der Lohnarbeit und für eine libertäre Gesellschaft. Eben das ist diesem Autor wohl nicht einsichtig.
Wer sind dann die Objekte der Veränderung, wenn es nicht das «Proletariat» noch irgendwelche «Randgruppen» sind, «die zwischen dem Wunsch nach Integration durch Arbeit und der Verzweiflung angesichts der Erbarmungslosigkeit ihrer Mitmenschen» zerrieben werden, weil ihre «Heterogenität» auch für gesellschaftliche Veränderungen «aussichtslos» sind? (S. 10/11) Ohne Forderungen wie «Weg mit …!» fängt nach Stange «die Arbeit an» (sic!) und er fordert positiv: «Her mit der libertären Gesellschaft!» (S. 10/11)«Das Übel des Kapitalismus», schreibt Stange, «ist nicht der Kapitalist, sondern das Kapital» (S. 36) – deshalb will er auch das Geld als Tauschmittel nicht abschaffen. Wie er dann den Kapitalismus «unschädlich» (S. 35) machen will, bleibt er schuldig. «Das Biest muss sterben» (S. 17) ist also nur ein lächerlicher Slogan. Genau wie dieser: «Die Privatheit der betrieblichen Sphäre wird abgeschafft» (S. 36) Klingt alles wunderschön simple, wir gründen alle irgendwelche Kollektive (womit?) – und stellen «die bürgerliche Demokratie vom Kopf auf die Füße». (S. 45) Vor allem dann, wenn Erbschaften abgeschafft werden sollen («Vermögen kann nicht vererbt werden», S. 62). Auch hier eine gewisse Unlogik – vererben kann Mensch nur, wenn er/sie vorher Reichtum erworben hat. Woher kommt das denn noch? Achso, wir reden hier plötzlich wieder über ein Übergangsstadium von der noch irgendwie kapitalistisch funktionieren zur libertären Gesellschaft?
Der Autor ist Deutscher – und eben kein Franzose, der die Geschichte der syndikalistischen Bewegung kennt. Er betreibt andere Studien und arbeitete in Mini-Kollektiven (Buchladen in Hamburg, Erwachsenenbildung in Hüll), die ich einfach als kleinbürgerliche Versuche betrachte, sich selbst ein schönes Leben auf dem Wege zur Anarchie zu bereiten. Das ist ja per se okay, aber keine gesellschaftliche Alternative für die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung.
Allein der Aufruf, sich vernetzende Kollektive zu gründen – die wie Longo Mai in Südfrankreich «solidarisch und ohne pekuniäre Aufrechnung von Gemeinschaft und Solidarität (ohne Geld) leben und sich untereinander austauschen» – und von Wohngebietsgemeinschaften und Basisgruppen von maximal 30-50 Personen (ebenso die «Arbeitsfelder Betriebe») zur lokalen Selbstverwaltung zu gelangen, das ist extrem dürftig und hilft als politisches Essay wenig weiter. Es ist ebenso belanglos wie überflüssig!
fm
TAZ 15. Dezember 2012
"Eine Hochspezialisierte Welt Läuft Nicht Nach Dem WG-Putzplan"
Krisen, so weit das Auge reicht. In den arabischen Ländern: Revolten, Umstürze. In Europa aber? Da schreibt man Manifeste. Stéphane Hessels „Empört Euch!“ oder „Der kommende Aufstand“. Genutzt hat es nichts: immer noch Kapi- talismus, immer noch Krise. Heute zeigt sich im Manifest vor allem eins: die Partikularität der politischen Utopie. Das europäische Manifest ist ein Symptom für den Verlust seines Subjekts. Seine Logik ist meist bestechend simpel: Hier ein Fünkchen gesunder Menschenverstand und dann das Übel an der Wurzel gepackt: hau ruck! Noch einfacher: Der Kapitalismus „hat alles vorbereitet, dass wir ihn überwinden“. So steht es im Manifest. Nicht aber im „Kom munistischen Manifest“ – Marx glaubte ja, der Kapitalismus habe sich mit dem Proletarier seinen Totengräber geschaffen –, sondern in „Die libertäre Gesellschaft. Grundrisse einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus“ (Die Buchmacherei, Berlin 2012) von Gerd Stange.
Auf der Suche nach Vorbildern sucht er tief in der Mottenkiste: die Pariser Kommune, die spanischen Kollektivierungsversuche um 1936. Bevor Sie auf Ihrem Smartphone suchen: gemeint sind auf Allmende und Selbstverwaltung aufbauende Projekte wie Wikipedia – nur eben vor 100 Jahren, mit analoger Crowd. Und die kommende? Die wird noch immer mit „Wir“ umfasst – diesem verflixten Teufel, der, wie man spätestens seit der feministischen Kritik am vereinnahmenden Gestus der Frauenbewegung weiß, Identität über den Ausschluss schafft.
„Wir wollen eine libertäre Gesellschaft“, steht da, und „wir“ wollen Selbstverwaltungseinheiten von maximal 125.000 EinwohnerInnen. Das urbane Zentrum, heruntergebrochen auf die Kleinstadt? Ein Albtraum. Doch für Stange ist die Hauptsache: Kreuzberg bleibt Kreuzberg. Im Dorf wird man sich schon einig, welche Form der Brotlaib der Zukunft haben wird. Dass eine hoch spezialisierte Welt nicht wie der WG-Putzplan läuft, nach dem jeder mal den Besen schwingt: geschenkt. Un- verzeihlich ist es aber, im 21. Jahrhundert ohne kritische Einordnung der eigenen Sprechposition über die Gesellschaft nachdenken zu wollen. Hier schreibt einer für sich im Namen aller. Nach der Lektüre eines solchen utopischen Manifests weiß man vor allem, was man nicht will: solche Manifeste.
Sonja Vogel
Die Autorin ist ständige Mitarbeiterin der taz-Kulturredaktion