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Die DadA-BuchempfehlungDie unbekannte RevolutionSeit dem Auftreten des Anarchismus als einer politischen Ideologie und Bewegung, etwa z.Z. der Französischen Revolution, hat es kaum eine revolutionäre Erhebung auf der Welt gegeben, an der sich die Anarchisten nicht beteiligt haben. Das historische Dilemma des Anarchismus ist nur: Das, was die Anarchisten wollen, ist revolutionär; aber jede Revolution, an der sie sich beteiligten, hat bisher die Niederlage der anarchistischen Bewegung zur Folge gehabt. In der Geschichte der internationalen anarchistischen Bewegung markiert die russische Revolution von 1917/18 einen tiefen Einschnitt, den der libertäre amerikanische Historiker Paul Avrich folgendermaßen charakterisiert: „Die Revolution von 1917 war die erste Gelegenheit, bei der die Anarchisten den Versuch unternahmen, ihre Theorien in einem größeren (gesellschaftlichen) Maßstab praktisch umzusetzen. Mit den Mitteln der 'direkten Aktion', der Enteignung und der Arbeiterkontrolle, des Guerillakrieges sowie der Errichtung von freien Kommunen bemühten sie sich, nach libertären Grundsätzen eine neue Gesellschaft aufzubauen und ihre staatslose Vision Wirklichkeit werden zu lassen.” [1] Der Historiker stößt bei der Untersuchung des russischen Anarchismus, insbesondere was die Epoche der russischen Revolution von 1917/18 und ihrer unmittelbaren Folgezeit angeht, auf verschiedene Schwierigkeiten. Zum einen sind diese Schwierigkeiten mit dem Untersuchungsgegenstand selbst verknüpft. Aufgrund der traditionellen anarchistischen Ablehnung von formalen Organisationsstrukturen, lassen sich - im Gegensatz etwa zur Untersuchung der politischen Parteien - nur sehr schwer Erkenntnisse über die tatsächliche Stärke der anarchistischen Bewegung gewinnen. Das zweite und weitaus gravierendere Problem, mit dem sich der zeitgenössische Historiker bei der Untersuchung besonders des russischen Anarchismus konfrontiert sieht, ist ideologischer Natur. Lange Zeit sind die russischen Anarchisten von den Historikern ignoriert worden. Wie kaum eine andere politische Minderheit hatten die Anarchisten unter dem - wie James Joll es formuliert - Erfolgskult der traditionellen Geschichtswissenschaft zu leiden, demzufolge nur politisch erfolgreiche Bewegungen das Interesse des Historikers verdienen.[2] Politische Erfolge jedoch können die Anarchisten kaum für sich verbuchen. Sieht man einmal von der Spanischen Revolution (1936-1939) ab, in der es den Anarchosyndikalisten zumindest vorübergehend gelang, zur dominierenden politischen und gesellschaftlichen Kraft der revolutionären Umwälzungen zu werden, so ist die Geschichte des Anarchismus insgesamt betrachtet eine Geschichte der politischen Niederlagen. Auch und gerade die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung bildet hinsichtlich dieser aus dem „Erfolgskult“ resultierenden verengten historischen Sichtweise keine Ausnahme. Für die Behandlung der Rolle der anarchistischen Bewegung in der russischen Revolution von 1917/18 durch die sowjetischen Historiker gilt Trotzkijs klassisches Verdammungsurteil der Menschewiki: „Ihr seid elende isolierte Einzelne. Ihr seid bankrott. Ihr habt Eure Rolle ausgespielt. Geht, wohin Ihr gehört: auf den Misthaufen der Geschichte!”[3] Hinweise über einen aktiven, geschweige denn, konstruktiven Beitrag der russischen Anarchisten zur Oktoberrevolution lassen sich in der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung nicht finden; wohl aber ideologisch verzerrte Darstellungen, die in „bester“ bürgerlicher, aber auch klassisch marxistischer Tradition zumeist auf eine Gleichsetzung von Anarchismus und Terrorismus bzw. „Banditentum“ hinauslaufen. So findet sich beispielsweise in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie folgende Charakterisierung der anarchistischen Bewegung Russlands: „Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution hat in den Reihen der Anarchisten in Russland zu völliger Mißstimmigkeit und Zersetzung geführt. Die Führer der Anarchisten verwandelten sich in eine böswillige Clique von Feinden des Sowjetstaats, des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, begaben sich auf den Weg der offenen Konterrevolution und des Banditismus.”[4] Bedingt durch die politische Verfolgung und physische Liquidierung der anarchistischen Bewegung Russlands durch die Bolschewiki, die schon kurz nach der Oktoberrevolution einsetzte, ihren Höhepunkt mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921 und ihren Abschluss in der Stalinära fand, gelangten nur wenige authentische Informationen über die Aktivitäten der russischen Anarchisten in den Westen. Dass die Geschichte des russischen Anarchismus wenigstens in ihren groben Konturen geschrieben werden konnte, ist vor allem den Berichten der wenigen anarchistischen Emigranten zu verdanken, denen es wie Arschinow, Maximoff und Volin gelang, Anfang der 20er Jahre Sowjet-Russland zu verlassen. Der Möglichkeit der direkten Agitation innerhalb Sowjet-Russlands beraubt, sahen sich diese Emigranten von der internationalen anarchistischen Bewegung in die Rolle der „Verkünder der Lehren“ der russischen Revolution gedrängt. Dass ihre Darstellungen der russischen Revolution sich zumeist auf eine Demaskierung und Anprangerung der bolschewistischen Terrorherrschaft beschränkten, ist angesichts der von ihnen erlittenen Repressionen durch die Bolschewiki durchaus verständlich, war aber dem tieferen Verständnis der Gründe, die das Scheitern der anarchistischen Bewegung Russlands bewirkten, nicht förderlich. Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass in der anarchistischen Emigrantenliteratur der 20er und der frühen 30er Jahre kaum der Versuch einer selbstkritischen Analyse des russischen Anarchismus gemacht wurde. Eine Ausnahme bildet das 1947 erschienene Werk La Revolution inconnue (Die unbekannte Revolution) von Volin, das die Geschichte der revolutionären libertären Bewegungen in Russland und in der Ukraine für den Zeitraum von 1825 bis 1921/22 dokumentiert. Der Autor des Werkes war der aus bürgerlichen Verhältnissen stammende russische Publizist Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum, geb. 1882, der unter seinem nom de guerre „Volin” später als Anarchist eine internationale Bekanntheit erlangte. Eichenbaum hatte in Sankt Petersburg Jura studiert und sich seit der Jahrhundertwende in der Arbeiterbewegung engagiert, indem er Bildungskurse für Arbeiter veranstaltete. Im Januar 1905 beteiligte er sich – nun unter dem Namen „Volin” (d.h. „Mann der Freiheit”) – an der Revolution, die in St. Petersburg nach der blutigen Niederschlagung einer friedlichen Demonstration von 150.000 Arbeitern gegen das Zarenregime ausgebrochen war. Die spontane revolutionäre Erhebung, die anfänglich vor allem von Arbeitern und Soldaten der Hauptstadt getragen wurde, hatte sich schnell auch auf andere Landesteile ausgebreitet. In Volins Studentenzimmer wurde auf einer Sitzung von Delegierten aus verschiedenen Betrieben der erste Sowjet gegründet, der als permanenter Ausschuss den revolutionären Widerstand der Arbeiterschaft aller Petersburger Betriebe organisieren sollte und zur Keimzelle der Sowjetbewegung wurde, die sich in der Februarrevolution 1917 dann landesweit entfalten sollte. Volin, der bis dahin parteilos gewesen war, war 1905 der Sozialrevolutionären Partei beigetreten und hatte sich auch an der im Juli des folgenden Jahres in Kronstadt stattgefundenen revolutionären Erhebung beteiligt. Nach der Niederschlagung des Aufstandes, der überwiegend von Arbeitern und Soldaten getragen wurde, wurde Volin verhaftet und zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Aber es gelang ihm 1907 während seiner Deportation nach Sibirien zu fliehen. Er ging nach Paris ins Exil, wo er in Kontakt mit der anarchistischen Bewegung kam und sich um 1911 selber dem Anarchismus zuwendete. Doch auch in Frankreich bekam er wegen seines politischen Engagements die Repression der Behörden zu spüren. So wurde er 1915 wegen seiner Antikriegsagitation zur Haft in einem Internierungslager verurteilt, der er sich durch die Flucht in die USA entziehen konnte. Er ließ sich in New York nieder, wo es eine starke russische Community gab, und war dort für die russischsprachige anarchosyndikalistische Zeitschrift „Golus Truda“ tätig, die als das Organ „Union der russischen Arbeiter in den Vereinigten Staaten und Kanada“ erschien. Nach dem Ausbruch der Februarrevolution in Russland 1917 erließ die provisorische Regierung Russlands eine Generalamnestie. Diese ermöglichte es Volin gemeinsam mit der gesamten Redaktion von „Golos Truda“ nach Russland zurückzukehren, wo das Blatt als das Organ der „Anarchosyndikalistischen Propaganda Union“ erst in Sankt Petersburg und ab März 1918 in Moskau erschien, zu deren Leiter Volin ernannt wurde. Zum Redaktionsstab des Blattes, das als das wichtigste Sprachrohr der anarchistischen Bewegung in Russland betrachtet werden kann, gehörten neben Volin auch solche prominenten russischen Anarchisten wie Gregori Maximow, Alexander Schapiro und Efim Yartschuk. Nachdem die Bolschewiki unter Lenin im Oktober 1917 durch einen Putsch die Staatsmacht an sich gerissen hatten, geriet die anarchistische Gruppe um „Golos Truda“ ebenso wie alle anderen anarchistischen und übrigen linken Organisationen in Russland, die nicht auf die Linie der Bolschewiki eingeschworenen waren, schon bald in Konflikt mit dem neuen Regime. Am 17. November 1917 erließ der Oberste Sowjet ein Gesetz, das den Bolschewiki die Kontrolle über die gesamte Presse übertrug und die Macht der Behörden bei der Unterdrückung von oppositionellen Publikationen erweiterte. Im August 1918 wurde die zu der Zeit als Tageszeitung erscheinende „Golus Truda” von der bolschewistischen Regierung verboten. Die zunehmende Repression gegen die anarchistische Bewegung in Russland, bewog Volin Ende 1918 in die Ukraine zu gehen, wo er mit anderen Anarchisten die anarchistische Föderation der Ukraine gründete. 1919 schloss er sich in Odessa der bäuerlichen Partisanenarmee unter der Führung des Anarchisten Nestor Machno an, die gegen die zarentreue Weiße Armee und die deutschen und österreichischen Mittelmächte kämpfte. Mitte Januar 1920 wurde die nach ihrem Führer benannte Machnowscina von der Rote Armee der Bolschewiki angegriffen und sah sich gezwungen, einen Zweifrontenkrieg zu führen. Volin wurde von Agenten der bolschewistischen Regierung gekidnappt und entging nur knapp seiner von Trotzki angeordneten Hinrichtung. Im März 1920 wurde Volin nach Moskau deportiert, wo er bis Oktober in Haft verblieb. Zu dieser Zeit hatte sich die militärische Lage für die Rote Armee verschlechtert, die eine Entlastung durch eine Bündnisvereinbarung mit Machno suchte, die Volin die Begnadigung und Haftentlassung brachte. Doch die Freiheit sollte nicht lange währen. Kaum war es der Roten Armee gelungen mit Hilfe der Machnowscina die Weiße Armee zu besiegen, brachen die Bolschewiki im November 1920 ihr mit Machno getroffenes Bündnisabkommen und gingen in ihrem Machtgebiet erneut mit äußerster Härte gegen die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung vor. Im Zuge dieser Verfolgung wurden Volin und viele seiner Genossen verhaftet und im berüchtigten Taganka Gefängnis in Moskau inhaftiert, das schon zu Zeiten des Zaren als Haft- und Folterstätte für politische Gefangene gedient hatte. Ihren Höhepunkt erreichte der bolschewistische Repression gegen die anarchistische Bewegung nach dem Kronstädter Arbeiter- und Matrosenaufstand Aufstand im März 1921. Im Sommer desselben Jahres fand in Moskau eine Tagung der sog. „Roten Gewerkschafts-Internationale” (RGI) statt, an der sich auch Delegierte ausländischer anarchosyndikalistischer Organisationen beteiligten. Zur gleichen Zeit traten im Taganka-Gefängnis 13 inhaftierte russische Anarchisten und Anarchosyndikalisten, unter ihnen auch Volin, aus Protest gegen ihre politische Inhaftierung und die Brutalitäten der Tscheka in den Hungerstreik. Dies und die ersten genaueren Informationen über die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstands durch die Rote Armee, lösten unter den syndikalistischen Delegierten des Gewerkschaftskongresses einen Sturm der Empörung aus. Zwar willigten die Bolschewiki am 10. Tag des Hungerstreiks auf Druck der syndikalistischen Delegierten ein, die 13 inhaftierten Anarchisten und Anarchosyndikalisten freizulassen, jedoch nur unter der Bedingung ihrer Deportation ins Ausland. Volin ging wie auch die meisten anderen seiner freigelassenen Genossen Ende 1921 zunächst nach Berlin, wo er für die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) tätig war. Zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Russland gründete er ein Hilfskomitee für verfolgte Anarchisten und Anarchosyndikalisten in Sowjet-Russland und veröffentliche Berichte über die politische Repression in der Sowjetunion. 1923 zog er auf Einladung von Sebastian Faure nach Paris und unterstützte diesen bei der redaktionellen Arbeit an der Encyclopedie Anarchiste und schrieb Artikel für die französische und internationale anarchistische Presse. Ideologisch vertrat Volin zu dieser Zeit und auch später die Idee der „anarchistischen Synthese”, derzufolge die sonst überwiegend getrennt agierenden Bewegungen des Anarchosyndikalismus, des Anarchokommunismus und des Individualanarchismus in Anerkennung der jeweiligen Existenzberechtigung jeder einzelnen Strömung sich durchaus zu einer Bewegung vereinen ließen. Im Juli 1934 erschien seine Schrift Le Fascisme Rouge ou le communisme d'état dévoilé (Der rote Faschismus oder der enthüllte Staatskommunismus), in der er den Bolschewismus mit dem italienischen Faschismus verglich, die beides diktatorische Systeme seien, die vor dem Hintergrund der „russischen Erfahrungen” auf das Energischste bekämpft werden müssen. Während des Zweiten Weltkrieges war Volin, der inzwischen nach Marseille gezogen war, innerhalb einer kleinen Gruppe internationaler Anarchisten in der der Résistance gegen die deutschen Besatzer aktiv. Die Widerstandsgruppe flog auf, und nur Volin gelang es in letzter Minute der Verhaftung zu entkommen. Durch das rastlose Leben im Untergrund wurde seine Gesundheit schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Kriegsende war Volin ein schwerkranker Mann, der von zwei spanischen Genossen gepflegt wurde. Zusammen mit seinem Sohn Leo kehrte Volin nach Paris zurück, wo er am 18. September 1945 im Krankenhaus an Tuberkulose verstarb, die er sich während einem seiner zahlreichen Gefängnisaufenthalte zugezogen hatte. 1947 erschien in Paris das von seinen Freunden herausgegebene Hauptwerk Volins: La Revolution inconnu, in dem der Autor den libertären Charakter der revolutionären Bewegung in Russland beschreibt und dokumentiert. Das Werk ist in drei „Bücher” untergliedert, die sowohl in der französischen Originalausgabe als auch in der zweiten deutschen Neuauflage von 2013 in einem Band erschienen sind. Das erste Buch beinhaltet „Geburt, Entwicklung und Triumph der Revolution”, und beschreibt die politische Entwicklung in Russland ab 1825, die hin zur Revolution von 1905 führte, in der das Konzept des freien Sowjet seine Geburtsstunde erlebte. Das erste Buch schließt ab mit der Revolution von 1917, die statt in einer vom freiheitlichen Geist getragenen sozialen Revolution in der bolschewistischen Machtergreifung mündete. Das zweite Buch beinhaltet die Gegenüberstellung von „Bolschewismus und Anarchismus”, in der Volin die zwei gegensätzlichen Konzeptionen der russischen Revolution von 1917 herausarbeitet. Eingehend – und auch unter Schilderung persönlicher Erlebnisse – dokumentiert er in diesem Buch die revolutionären Aktivitäten der libertären Bewegung in Russland vor und nach der Oktoberrevolution. Er beschreibt den Terror, mit dessen Hilfe die kommunistische Partei der Bolschewiki die Macht im Staat eroberte und die freiheitlich-sozialistischen Kräfte der Revolution zunehmend in die Defensive drängte. Im dritten Buch beschreibt Volin die „Kämpfe für die wirkliche soziale Revolution”, so wie sie im März 1921 im Aufstand der Kronstädter Arbeiter und Soldaten gegen das bolschewistische Regime, aber auch in der libertären Bewegung der Machnowscina in der Ukraine sichtbar wurden. Beide Bewegungen waren stark von der Ideologie und den Konzepten der Anarchisten beeinflusst und strebten die Beseitigung der bolschewistischen Diktatur an, um einer freiheitlich-sozialistischen Entwicklung den Weg zu ebnen. Beide Bewegungen scheiterten und damit scheiterte zugleich auch der ersten Versuch von Anarchisten ihre Theorien in einem größeren gesellschaftlichen Kontext mit den Mitteln der direkten Aktion, der Enteignung und der Arbeiterkontrolle, des Guerillakrieges sowie der Errichtung von freien Kommunen zu realisieren. Das unter extrem schwierigen Bedingungen im Untergrund entstandene und vom bereits schwer erkrankten Autor nach Kriegsende abgeschlossene Buch ist nicht ohne Mängel und Fehler geblieben. Die Herausgeber der deutschen Erstausgabe, die 1975 im Verlag Association erschienen ist, kritisierten das anarchistische Geschichtsverständnis Volins, das ihn dazu verleitet hat, die Klassengegensätze in der russischen Geschichte auf den politischen Überbau zu reduzieren und die historischen Ereignisse isoliert darzustellen, so dass der Zusammenhang von Ursache und Wirkung verloren geht. Und der amerikanische Historiker Paul Avrich, der als einer der besten Kenner des russischen Anarchismus gilt, bemängelte an dem Werk, dass Volin wichtige Aspekte der „unbekannten Revolution” nicht beschrieben hat: „Wenig wird über die Arbeiter- und Bauernbewegung außerhalb von Kronstadt und der Ukraine mitgeteilt. Auch vernachlässigt das Buch die Individual-Anarchisten, eine faszinierende, wenn auch kleine Gruppe, sowie die Rolle der Frauen in der anarchistischen und revolutionären Bewegung.“[5] Doch aller berechtigten Kritik zum Trotz bleibt unbestritten, dass Volins Werk eine der wichtigsten Quellenpublikationen zur Geschichte der libertären Bewegungen in der Russischen Revolution ist, die sowohl in der bürgerlichen als auch marxistischen Historiografie bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben sind oder verfälscht dargestellt wurden. Die deutsche Erstausgabe des Buches von 1975 war jahrzehntelang vergriffen und selbst antiquarisch nur sehr schwer zu bekommen. Dass das Werk nun wieder erhältlich ist, ist dem jungen in Berlin ansässigen Verlag „Die Buchmacherei” zu verdanken, der mit Förderung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (sic!) das Buch auf Grundlage der deutschen Erstausgabe und ergänzt durch eine Einleitung von Roman Danyluk und Philippe Kellermann neu herausgebracht hat. Es ist ein wichtiges Buch, das ich jedem empfehlen möchte, der sich mit der Thematik „Anarchismus und Revolution” am historischen Beispiel der Russischen Revolution intensiver beschäftigen möchte. Jochen Schmück Anmerkungen
"Direkte Aktion" Nr. 220 # November/Dezember 2013 Das buch wirft wichtige Fragen auf, die noch zu beantworten sind.Im Oktober wird der Verlag Die Buchmacherei Volins Studie neu herausgeben. Für D. Guérin ist sie ein bemerkenswertes Werk anarchistischen Denkens, entstanden mit dem Experiment der Russischen Revolution. W.B. Eichenbaum, Pseudonym Volin, wird am 11.8.1882 als Sohn einer wohlhabenden Ärztefamilie geboren, er nimmt an der Revolution 1905 teil. Aus dem Exil kehrt er 1917 nach Russland zurück. Nach der Verfolgung der AnarchistInnen durch die Bolschewiki schließt sich Volin der Machno-Bewegung an. Nach seiner Verhaftung durch die Bolschewiki kann er aufgrund der Intervention europäischer Gewerkschafter Russland verlassen. In Marseille beendet er 1939 sein Werk über die Russische Revolution. Volin versucht die Revolution aus der Perspektive von unten zu schreiben. Er beschreibt u.a. das schwierige Verhältnis zwischen den aktiven linken Minderheiten und der bäuerlichen Mehrheit. 1905 ist Volin bei der Entstehung des ersten Sowjets (Arbeiterrats) anwesend. 1917 entwickeln sich die neu geschaffenen Sowjets zu Organen der Doppelherrschaft. Da alle sich bildenden Regierungen unfähig sind, die wesentlichen Probleme zu lösen, ist im Oktober 1917 der Weg frei für die soziale Revolution. Unterstützt von der Mehrheit der sich radikalisierenden ArbeiterInnen und BäuerInnen, ihre Forderungen aufgreifend, gelingt es den Bolschewiki die Staatsmacht zu erringen. Erst danach wird deutlich, dass sich zwei widersprechende Konzepte gegenüberstehen. Für A. Soboul gibt es seit der Französischen Revolution zwei Linien der revolutionären Haltung und Praxis: Auf der einen Seite die revolutionäre Bewegung und Praxis der Massen mit libertären Tendenzen, auf der anderen die zentralistische Praxis unter der Führung einer hierarchischen Organisation. Die libertäre Kraft ist in Russland erst schwach, wächst aber dann schnell aufgrund der Enttäuschung der arbeitenden Klassen über die Regierungspraxis der Bolschewiki. Die Kämpfe um die Emanzipation und gegen eine neue Diktatur über das Proletariat dauern bis 1921. Höhepunkte sind der Aufstand von Kronstadt im März 1921 und die Machnowina in der Ukraine (1918-1921). In beiden Bewegungen finden sich freiheitlich-kommunistische Momente. Die Matrosen Kronstadts beteiligen sich an vorderster Front in allen revolutionären Kämpfen, basisdemokratische Organisationen und Institutionen werden geschaffen. Nach ihrer Machtergreifung lösen die Bolschewiki diese Strukturen langsam wieder auf und ersetzen sie durch bürokratische Formen. Zur Eskalation kommt es im Frühjahr 1921. In Petrograd streiken Ende Februar die ArbeiterInnen. Der Regierung gelingt es, den Konflikt durch Zugeständnisse und Repression zu befrieden. Aber der Funke springt auf Kronstadt über. In Volins Werk sind zahlreiche Auszüge aus der Kronstädter Iswestija abgedruckt. Die werktätigen Massen wollen endlich selbst bestimmen und fordern alle Macht den freien Sowjets. Die Bolschewiki schlagen den Aufstand militärisch nieder, produzieren dabei eine Menge Lügen. Diese Politik sichert den Machterhalt der Partei. Mit der Niederlage der Matrosen, Soldaten und Arbeiter Kronstadts verschwindet in Russland die Hoffnung, eine Gesellschaft der Freien und Gleichen schaffen zu können. Zu diesem Zeitpunkt existiert aber noch in der Ukraine die Machnowina, für Volin die bedeutendste Erscheinung während der Revolution. In der Ukraine bildet sich aufgrund besonderer Bedingungen eine soziale Bewegung mit libertären Merkmalen. Bemerkenswert ist die Ablehnung der Führung durch politische Parteien, stattdessen wird die Idee einer freien Selbstverwaltung der Arbeiter und Bauern entwickelt. Freischärlerabteilungen verschmelzen zu einer aufständischen Armee und führen Krieg gegen alte und neue Herren. Die Machnowina öffnet Räume für die Initiativen der Massen. Es gibt Versuche, das gesellschaftliche Leben frei und selbstbestimmt auf einer kommunalen und egalitären Basis zu organisieren. Periodische Kongresse der Bauern, Arbeiter und Aufständischen sollen auch über die Grundprinzipien entscheiden. Im Oktober 1919 leben mehr als 2 Mio Einwohner im befreiten Gebiet. Die Bolschewiki versuchen schon früh die „Volksmacht“ zu zerstören. Allerdings sind sie auf die Kampfkraft der Aufständischen angewiesen. Im Herbst 1919 retten diese die Bolschewiki indem sie die weiße konterrevolutionäre Armee besiegen. Nach der endgültigen Niederlage der Monarchisten 1920 kommt es zum Verrat der Bolschewiki. Alle autonomen Ansätze werden zerstört. Die Reste der aufständischen Armee kämpfen noch bis August 1921 im Namen der Rechte und Interessen der werktätigen Massen gegen die Bolschewiki. Dann ist der Traum eines selbstbestimmten Lebens auch für die aufständischen Bauern vorbei. Volin beschreibt differenziert Stärken und Schwächen der Machnowina. Die gewählte Methode der Bolschewiki, autoritär alles von oben bestimmen zu wollen, verhindert die mögliche Emanzipation der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Volins Schlussfolgerung aus den Erfahrungen der Russischen Revolution ist die, dass jeder Versuch die soziale Revolution mit Hilfe des Staates, einer Regierung durchzuführen, scheitern muss. Die jakobinische Konzeption ist zu verwerfen. Für die, die immer noch träumen von einer Welt ohne Ausbeutung und Herrschaft, macht die Lektüre Sinn, durch das Aufwerfen wichtiger Fragen, die noch zu beantworten sind. Die unbekannten RevolutionärInnen gehören zu unserem kollektiven Gedächtnis, zur schwarzroten Suche nach dem Glück. C. Winter
Nicht zu unrecht ein Klassiker der Anarchistischen geschichtsschreibungVolins dreibändiges Werk « Die unbekannte Revolution », welches erstmalig posthum 1947 erschien, ist ein Klassiker der anarchistischen Kritik an der russischen Revolution und des Bolschewismus – neben Alexander Bergmans « Der bolschewistische Mythos » (Verlag AV, 2004) der wohl wichtigste Text der anarchistischen Bolschewismuskritik. Auszüge aus Volins Werk sind u.a. separat in « Der Aufstand von Kronstadt» (Unrast Verlag, 2009) publiziert. Vollständig wurde der Text bislang erst einmal (1974) in deutscher Sprache publiziert, während der Text im Nachbarland Frankreich sich bereits seit der erstmaligen Publikation 1947 zigfacher Auflagen erfreut. Der in Russland geborene Wsewolod Eichbaum, der unter seinem Pseudonym « Volin » berühmt wurde, zeichnet die Sozial- und Zeitgeschichte der russischen Revolution(en) beginnend ab dem Dekabristenaufstand (1825) bis zum Aufstand in Kronstadt (1921) sowie der Machno-Bewegung in der Ukraine (1921) nach. Die Darstellung der Machno-Bewegung orientiert sich dabei sehr stark an den Erinnerungen von Peter A. Arschinoff (Die Geschichte der Machno-Bewegung, Unrast Verlag, 2009), wie er selber zu gibt. Trotz seiner subjektiven Sicht spart er aber auch Kritik an der Bewegung nicht aus. Er spricht u.a. den Alkoholismus Machnos und das unter Alkoholeinfluss zu Tage tretende Frauen herabwürdigende Verhalten von ihm und seinem Kommandostab. Er geht in diesem Rahmen auch auf die sich im Umlauf befindlichen Gerüchte und Verleugnungen ein – wie z.B. die Unterstellung des Antisemitismus gegenüber Machno, was Volin als Sohn einer jüdischen Familie und vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Judenverfolgung in Nazideutschland natürlich auch persönlich sehr beschäftigt hat. Volins sehr lebhaft geschriebene, umfangreiche Analyse ist eng verbunden mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Er selber war während der Revolution von 1905 Mitglied einer sozialrevolutionären Partei, übernahm 1917 in einer anarcho-syndiaklistischen Gruppe Aufgaben und schloss sich 1918 der Machno-Bewegung in der Ukraine an. In den drei Bänden – « Geburt, Entwicklung und Triumph der Revolution », « Der Bolschewismus und die Anarchie » und « Die Kämpfe für die wirkliche soziale Revolution » – verfolgt er die Geschichte chronologisch und zeigt die deutlichen Differenzen zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern auf sowie auch des häufig als monolithischen Block wahrgenommenen bolschewistischen Lagers. An mancher Stelle in seiner Untersuchung würde man sich hierbei eine erläuternde Fussnote bzw. eine Richtigstellung von kleineren Fehlern seitens der Herausgeber wünschen. Die wenigen Fussnoten stammen noch aus der deutschen Erstveröffentlichung und verweisen meist auf längst vergriffene Buchtitel. Dies tut dem Text jedoch keinen Abbruch. Er bietet eine gute Einführung in die Geschichte der russischen Revolution aus anarchistischer Sicht und verdeutlicht die Differenzen zwischen dem klassischen Anarchismus und dem Bolschewismus, die gerade in den neo-linken Strömungen von 1968 an immer wieder ignoriert oder heruntergespielt werden. Der Text ist sicherlich nicht zu Unrecht ein Klassiker der anarchistischen Geschichtsschreibung. Neben dem Reprint des Textes der vergriffenen Ausgabe von (inkl. des damaligen Vorworts des Verlages Association von 1974) finden sich noch zwei Einleitungen zur Studie. Hier hätte der Verlag besser daran getan, eine Übersetzung des Volin-Kapitels aus Paul Avrichs bekannter Studie « The russian anarchistes » als die verwendeten Vorworte zu drucken. Roman Danyluk, der bereits ein Buch aus libertärer Sicht zur Geschichte der Ukraine (« Freiheit und Gerechtigkeit », Verlag AV 2010) verfasst hat, vertut leider die Chance, mit seinem Hintergrundwissen die Bedeutung des Textes zu qualifizieren. Philippe Kellermann, der zwar zweifellos ein guter Kenner der anarchistischen Geschichte ist, legt einen biographielastigen Essay vor, der zwar handwerklich sauber ist, aber zum konkreten Textverständnis auch nicht viel beiträgt. Hier hätte ich mir als Leser ein Vorwort eines ausgewiesenen Kenners des russischen Anarchismus bzw. der russischen Geschichte gewünscht, der die Bedeutung des Textes einordnet und die Stärken noch mal hervorhebt. Es ist dem Verlag Die Buchmacherei zu danken, einen wichtigen Klassiker der anarchistischen Literatur wieder zugänglich gemacht zu haben – fast schon zynischer Weise mit einem Zuschuss der Rosa Luxemburg Stiftung. Gleichzeitig ist es zu bedauern, dass die Chance, eine vernünftig editierte Fassung des Textes zu publizieren, vertan wurde. Maurice Schuhmann
Klassische SozialrevolteDas Hauptwerk des Anarchisten Volin wurde neu aufgelegt Das Werk »Die unbekannte Revolution« entstand in den 1940er Jahren im französischen Exil. Der russische Anarchist Volin (1882–1945, eigentlich: Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum) schildert darin die Revolutionen von 1905 und 1917 in Rußland sowie den sich anschließenden Bürgerkrieg von 1917 bis 1921 aus libertärer Sicht. Das 1947 posthum von »Freunden Volins« in Paris herausgegebene Buch blieb zunächst relativ unbeachtet, erfreute sich aber in der 1968er Studentenrevolte wachsender Beliebtheit und gilt mittlerweile als klassische Schrift zur Geschichte der Sozialrevolten. Volin ist in erster Linie als Chronist der Revolution zu lesen, in theoretischer Hinsicht ist sein Buch fragwürdig. Seine revolutionäre Programmatik beschränkt sich ausschließlich auf den gesellschaftlichen Überbau, d.h. den Staat. Das ist nicht verwunderlich – der Autor wurde maßgeblich durch den Widerstand gegen den repressiven zaristischen Absolutismus geprägt. Die Schilderung des »Knutenregimes«, der »Unfähigkeit und Gleichgültigkeit des Zaren Nikolaus«, des »Kretinismus und die Korruption seiner Minister« und des zwangsläufigen Heranreifens einer revolutionären Situation gehört zu den besten Abschnitten seines Buches. Volin beschreibt außerdem zutreffend das völlige Versagen der reformistischen Linken nach dem Sturz des Zarismus in der russischen Februarrevolution 1917 und den daraus resultierenden Aufstieg der Bolschewiki. Volin waren die Marxsche Definition des Staates als Instrument der Klassenherrschaft und die daraus resultierende These vom Absterben des Staates nach Aufhebung der Klassengegensätze offensichtlich nicht geläufig. Auf die revolutionäre Zerschlagung staatlicher Strukturen sollte seiner Ansicht nach sofort eine »natürliche und freie ökonomische und soziale Aktivität der Assoziationen der Arbeiter« folgen und die soziale Revolution vollenden. Eine Parteienherrschaft betrachtete er als neue Form der Despotie und beschrieb einmal aus dieser Sicht die kommunistische Regierung der Sowjetunion als »eine Variante des faschistischen Regimes«. Während andere russische Anarchisten ihre ideologischen Differenzen mit den Bolschewiki im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution zurückstellten und sich auf deren Seite schlugen, lehnte Volin das Fortbestehen staatlicher Organisation als Verrat an der Revolution ab. Er sah sich darin bestärkt, als die Rote Armee im Bürgerkrieg zwar zeitweilig gemeinsam mit anarchistischen Einheiten gegen die zaristische und bürgerliche Konterrevolution kämpfte, am Ende aber konsequent alle bewaffneten Gruppierungen zerschlug, die die sowjetrussische Regierung nicht anerkannten. Die Darstellung der Matrosenrevolte von Kronstadt Anfang 1921 sowie der Kämpfe von Machnos anarchistischer Bauernarmee, an denen Volin selbst teilnahm, machen einen Großteil des Buches aus. Volin schildert die bewaffnete Erhebung der ukrainischen Bauern richtig als Sozialrevolte gegen das Fortbestehen feudaler Besitzverhältnisse sowie gegen die permanente Ausplünderung ihrer Dörfer durch ausländische Interventen und Bürgerkriegsarmeen. Die Ursachen ihrer Niederlage gegen die Rote Armee sah Volin in der allgemeinen Schwäche der anarchistischen Bewegung sowie in der Trunksucht und persönlichen Launenhaftigkeit Machnos. Machnos Revolutionäre Aufstandsarmee der Ukraine (RPAU) trug anfangs zum Sieg der Roten Armee gegen konterrevolutionäre Truppen, gegen bürgerliche ukrainische Nationalisten und deutsche Interventen bei. Die Frage bleibt: Hätte es 1921 zu einer langfristigen Verständigung zwischen der sowjetrussischen Regierung und den aufständischen Bauerngemeinden der Ukraine kommen können? Vielleicht. Immerhin endete etwa zeitgleich in Mexiko ein zehnjähriger Bürgerkrieg mit einem bis zum Ende des Jahrhunderts funktionierenden Kompromiß zwischen dem liberalen städtischen Bürgertum und den Resten von Emiliano Zapatas (1879–1919) Bauernarmee. Das steht aber natürlich nicht in Volins Buch. Den Artikel finden Sie unter: http://www.jungewelt.de/2014/03-17/056.php Gerd Bedszent
Volins "Unbekannte Revolution"Aanarchistische Geschichtsschreibung der russischen RevolutionenDas 1947 posthum publizierte Werk "Die unbekannte Revolution" von Volin (= Vsevolod Michailowitch Eichenbaum, 1882-1945), gilt schlechthin als das wichtigste und umfassende Werk der anarchistischen Geschichtsschreibung der Russischen Revolution. Volin selber nahm aktiv an der Revolution teil. "Die unbekannte Revolution" ist neben Alexander Berkmans "Der bolschewistische Mythos" (Verlag Edition AV, Lich 2004) und Emma Goldmans "Der Niedergang der Russischen Revolution" (Karin Kramer Verlag, Berlin 1987) eines der klassischen Werke der anarchistischen Kritik am Bolschewismus. Zynischer Weise titulierte aber gerade François Lourbet in seinem Vorwort zur französischen Neuauflage 1969 Volin als "Lenin der russischen, anarchistischen Bewegung" - ohne diese Formulierung näher zu erläutern. Volins Werk wurde 1974 erstmalig komplett in deutscher Sprache in drei Bänden beim Hamburger Verlag Association publiziert - ursprünglich als Gemeinschaftsprojekt mit dem Karin Kramer Verlag. Der geplante vierte Band der "Unbekannte(n) Revolution" mit Dokumenten ist leider nie erschienen. Diese drei erschienen Bände wurden ohne Veränderung in der Neuauflage reproduziert. Sie waren seit Jahren vergriffen. Lediglich ein Teil des Werkes - "Der Aufstand von Kronstadt" wurde mit einem Anhang 2009 vom Unrast Verlag wieder publiziert. Der in Russland geborene Volin wurde berühmt. Er zeichnet die Sozial- und Zeitgeschichte der russischen Revolutionen beginnend ab dem Dekabristenaufstand (1825) bis zum Aufstand in Kronstadt (1921) sowie der Machno-Bewegung in der Ukraine (1921) nach. Die Darstellung der Machno-Bewegung orientiert sich dabei stark an den Erinnerungen von Peter A. Aschinoff (Die Geschichte der Machno-Bewegung, Unrast Verlag, 2009), wie er selber zu gibt. Volin, der mit Machno während seiner Pariser Exiljahre verkehrte, kannte Aschinoffs Werk sehr gut, weil er es ins Französische übersetzt hatte. Seine Auseinandersetzung mit Machno ist tief im zeitgenössischen Diskurs in der französischen anarchistischen Bewegung verankert. In den drei Bänden - "Geburt, Entwicklung und Triumph der Revolution", "Der Bolschewismus und die Anarchie" und "Die Kämpfe für die wirkliche soziale Revolution" - verfolgt er die Geschichte chronologisch und zeigt die deutlichen Differenzen zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern auf sowie auch des häufig als monolithischen Block wahrgenommenen bolschewistischen Lagers. Volins lebhaft geschriebene, umfangreiche Analyse ist eng verbunden mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Er selber war während der Revolution von 1905 Mitglied einer sozialrevolutionären Partei, übernahm während der Revolution 1917 in einer anarcho-syndikalistischen Gruppe Aufgaben und schloss sich 1918 der Machno-Bewegung in der Ukraine an. Volin thematisiert in seiner Darstellung auch Schattenseiten der Machno-Bewegung - wie den Alkoholismus, den Umgang mit Frauen und den Antisemitismusvorwurf gegen Machno. Machno sah sich gerade in seinen Exiljahren mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert, der von den Bolschewisten aufgebracht wurde und auch seinen Widerhall in anarchistischen Kreisen in Frankreich fand. Volin als Sprössling einer jüdischen Familie und vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Judenverfolgung in Nazideutschland hatte ein persönliches Interesse daran, dieses Kapitel der Macho-Bewegung zu beleuchten. In seiner Darstellung finden sich allerdings auch vereinzelt kleine Fehler und historisch widerlegte Darstellungen. Hier hätte der Verlag gut daran getan, diese im Rahmen von Fußnoten richtig zu stellen. Die wenigen Fußnoten stammen noch aus der deutschen Erstveröffentlichung und verweisen meist auf längst vergriffene Buchtitel. Hier hätten sich die Herausgeber die Mühe machen sollen, die aktuell zugänglichen Referenzen anzugeben. Dies tut dem Text an sich jedoch keinen Abbruch. Er bietet eine gute Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution aus anarchistischer Sicht und verdeutlicht die Differenzen zwischen dem klassischen Anarchismus und dem Bolschewismus, die gerade in den neo-linken Strömungen von 1968 an immer wieder ignoriert oder heruntergespielt werden. Der Text Volins ist nicht zu Unrecht ein Klassiker der anarchistischen Geschichtsschreibung. Er ist bis heute die wichtigste Referenz, die wir aus unserer Perspektive auf die Geschichte haben. Volin ist neben Max Nettlau für die Geschichtsschreibung des Anarchismus von größter Bedeutung. Neben dem Reprint des Textes der vergriffenen Ausgabe (inkl. des damaligen Vorworts des Verlages Association von 1974) sind zwei Einleitungen zum Text abgedruckt - eine von Roman Danyluk und eine von Philippe Kellermann. Danyluk, der bereits ein Buch aus libertärer Sicht zur Geschichte der Ukraine ("Freiheit und Gerechtigkeit", Verlag Edition AV 2010) verfasst hat, vertut leider die Chance, mit seinem Hintergrundwissen die Bedeutung des Textes zu qualifizieren. Hier hätte ich mir eine nähere Einordnung des Textes vor dem Hintergrund seines landeskundlichen Wissens über die Ukraine gewünscht. Philippe Kellermann, der ein guter Kenner der anarchistischen Geschichte und Philosophie ist, hat ebenfalls einen Essay beigesteuert. Er ist allerdings auch kein ausgewiesener Kenner des russischen Anarchismus oder der Situation in Frankreich, in der Volin diesen Text verfasst hat. Hier erschließt sich mir nicht unbedingt ein Mehrwert durch diese Vorworte. Sie hätten getrost weggelassen werden können. Zum Verständnis des Textes und seiner Bedeutung tragen sie nicht bei. Es ist dem Verlag Die Buchmacherei zu danken, einen wichtigen Klassiker der anarchistischen Literatur wieder zugänglich gemacht zu haben - fast schon zynischer Weise mit einem Zuschuss der Rosa Luxemburg Stiftung. Gleichzeitig ist es zu bedauern, dass die Chance vertan wurde, eine etwas sorgfältiger editierte Fassung des Textes zu publizieren. Der Verlag hätte z.B. die damals nicht vom Verlag Association publizierten Dokumente anfügen können bzw. ein adäquates Vorwort, welches den Text in seiner Bedeutung und seinem Entstehungskontext beleuchtet, ergänzen können. Maurice Schuhmann
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