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Antwort von Werner Ruhoff auf Ulrich Weiß

„Die Konsumkultur auf der nördlichen Erdhalbkugel, die sich partiell auch nach Süden ausdehnt, ist demnach kein zukunftsfähiges Lebensmodell für die Menschheit.“

Lieber Uli,

Mit dem Bild vom Gefälle zwischen „Wahrheit und fixer Idee“ wollte ich keine persönliche Wertung treffen, es bezog sich nur auf mein Anliegen, in der Diskussion fair miteinander umzugehen. Es geht mir um einen Gedankenaustausch, aus dem ich etwas lernen kann, statt um Belehrungen und Herablassungen in die und aus der ein oder anderen Richtung.

Mit „Dreh- und Angelpunkt“, z.B. die Verstaatlichung der Fabriken, meinte ich eine normative Voraussetzung, von der die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme auf eine zivilisierte Art und Weise abhängig sein soll. Sie löste schon nicht das Problem der Macht im Sinne des Proletariats, ebenso wenig führte sie die Überlegenheit der Produktivität und die Abschaffung von gesellschaftlichen Klassen herbei. Sie ist aber als Aufhebung des Privateigentums in Anlehnung an Marx und Engels „Dreh- und Angelpunkt“ des sozialistisch/kommunistischen Selbstverständnisses im Sinne der Lösungsmöglichkeit gesellschaftlicher Probleme durch die Aufhebung hinderlicher Unverträglichkeiten. Hier zeigt sich, wie sehr „Grundpositionen“ bei Marx und Engels durch die Erfahrung in einem neuen Licht gesehen werden müssen. Zu diesem neuen Licht gehört auch das Aufgreifen und die Aktualisierung ihrer Warenkritik – da haben wir keinen Dissens. An der Stelle gilt es aber m.E., die unterschiedlichen Ebenen von Sinn und Norm ins Blickfeld zu nehmen. Als Beispiel zitiere ich noch mal die Verstaatlichung: mir ging es mit der Bemerkung, dass es keinen Dreh- und Angelpunkt gibt, um den Sinn der Verstaatlichung, der sich, auch gemessen an den oben zitierten Beispielen, nicht erfüllt hat. Von den normativen Vorgaben, wie wir sie im Kommunistischen Manifest, in der Programmkritik an der Sozialdemokratie oder von der Utopie zur Wissenschaft finden, wich der Realsozialismus insofern ab, als die Kommunistische Partei die Stellvertreterrolle (die sich zu einer Unterdrückung gewandelt hat) für das Proletariat inne hatte. Was die Frage der Warenproduktion im Sozialismus angeht, gibt es meines Wissens weder bei Marx, noch bei Engels oder Lenin die Eindeutigkeit eines normativen Kriteriums als Voraussetzung, allenfalls die aus der Warenkritik abgeleitete Erwartung, dass die Warenproduktion als Folge der kollektiven Besitzergreifung aufgehoben wird. Aber da gibt es bei den „Klassikern“ fragmentarisch Widersprüchliches. Selbst in der kommunistischen Vision ist die Frage der Wertförmigkeit nicht eindeutig beantwortet. Da werden die Güter zwar nach Bedürfnissen und nicht mehr nach der Leistung verteilt. Aber im dritten Band des Kapital ist die Rede, dass die „Wertbestimmung“ im Hinblick auf die Arbeitsverteilung „nach Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise…….wesentlicher denn je wird“ (MEW Bd. 25/S. 859). Warum? Und an dieser Stelle wird nicht ausgeführt, ob es sich dabei nur um die „niedere Phase“ des Sozialismus handelt oder ob die „höhere“ des Kommunismus inbegriffen ist. Es bleibt die Frage offen, ob die Kategorie des Wertes weiterbesteht, auch wenn es keine Warenproduktion mehr gibt. Ich kenne mich in den MEW-Schriften nicht als Wissenschaftler aus. Und mir ist aus der Sekundärliteratur nicht bekannt, wo es diesbezüglich von Marx und Engels eine Klärung dieses Sachverhaltes gibt. Vielleicht kannst Du mir einen Hinweis geben (siehe meine Bermerkung in der Antwort vom 14.2. bezgl. der Grundrisse). Was den Realsozialismus in der DDR angeht, so bin ich allerdings auch der Meinung, dass mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung die in staatlicher Hand zentralisierten Produktionsmittel den Charakter von Staatskapital annahmen. Das lässt sich z.B. am Kreditwesen und an den zinsähnlichen „Produktionsfondsabgaben“ festmachen, welche die so genannten volkseigenen Betriebe auf der Basis ihrer Gewinnerwirtschaftung an den Staatshaushalt abzuführen hatten.
Man kann die normativen Kriterien von ME natürlich auch falsch finden – ich habe mich bei der Definition dessen, was ich unter Sozialismus verstehe, in Bezug auf den Realsozialismus an ihren Kriterien orientiert. Doch der Sinn dieser Kriterien ist nicht erfüllt worden. Der Realsozialismus hat das anvisierte Ziel der Befreiung des Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Unterdrückung nicht erreicht. Das habe ich gemeint. Du meinst, das war gar kein Sozialismus, weil die Wirtschaft auf der Produktion von Waren basierte.(?) Wenn es wichtig ist, was Sozialismus sein soll, enthält die polarisierende Fragestellung Sozialismus oder Warenproduktion vor dem Hintergrund der heutigen Entwicklung für mich ein wichtiges Erkenntnispotenzial. Aber die theoretische Möglichkeit der gesellschaftlichen Überwindung der Warenproduktion und obendrein jeder Wertform ist bei meinem Kenntnisstand mit vielen offenen Fragen verbunden, die mir eher Zweifel als Zustimmung signalisieren, was die Funktionstüchtigkeit für die allgemeine Bedürfnisbefriedigung und die Beendigung von Unterdrückung angeht.

Dass in die späteren Schriften der Klassiker ganz pragmatische Gesichtspunkte einflossen, war sicherlich dem damaligen technologisch-ökonomischen Entwicklungsstadium, dem stimme ich zu, und der rein praktisch-programmatischen Ebene der neuen Parteigründungen geschuldet. Heute ist das gesellschaftliche Potenzial selbstredend viel weiter und insofern erlangt die Weiterforschung und -entwicklung der marxistischen Warenkritik auch eine wieder entdeckte Aktualität, die an Brisanz gewinnt. Im kommunikativen und im Wissensbereicht gibt es nicht die relative physische Knappheit, der konkret feste Gebrauchsgegenstände trotz eines sichtbaren und teilweise unsinnigen Überflusses unterliegen. Von daher wirkt auch die Anwendung der Warenform im kommunikativen Bereich tendenziell anachronistisch. Die Warenbarrieren können relativ einfach außer Kraft gesetzt werden. Und das geschieht in der Praxis ja auch. Herstellung und Austausch von Informationen folgen aufgrund ihrer „flüssigen“ und direkten Beziehungsvernetzung leichter den Anforderungen der Bedürfnisbefriedigung als dies bei „festen“ Gegenständen der Fall ist. Wenn die Herstellungskette bei Lebensmitteln und technischen Gebrauchsgütern sehr vielgliedrig ist, wird es richtig kompliziert. Wie sieht das aus, wenn der Bauer oder die Busfahrerin eine Stereoanlage möchten? Wie werden die vielfach verketteten Produktions- und Verteilungsebenen aufeinander eingestellt, ohne dass große Verzögerungen und Reibungsverluste entstehen, oder der Verbraucher/die Verbraucherin darauf verzichten muss, sein/ihr Bedürfnis zu befriedigen? Ab welchem Punkt der Produktivität lässt sich das ohne Warenform (und Wertform – siehe oben) realisieren? Wie und wann kann ein Vergesellschaftungsniveau erreicht werden, auf dem die Vermittlung der Güter weder der Warenform noch der Gewalt des Staates bedarf? Wie müssen Produktion und Austausch organisiert werden, damit das überhaupt funktionieren kann? Müsste nicht die ganze Gesellschaft ein extrem komprimierter Produktionsort sein, der in sich vollkommen transparent ist? Mir schaudert bei dem Gedanken, wenn es so sein müsste, könnte, sollte. Ich fürchte, das ungelöste Problem bleibt in allen Sozialismusvarianten bestehen, die es gab und die bisher ausgedacht wurden: der Widerspruch zwischen VerbraucherInnen und ProduzentInnen hinsichtlich der Abhängigkeit von der Laune der ProduzentInnen (es fehlt der Konkurrenzdruck) und hinsichtlich der leidlichen Funktionsfähigkeit des Wirtschaftskreislaufs (meine Fantasien haben keine wissenschaftliche Qualität und sie beruhen lediglich auf der Wunschvorstellung, dass solcher Widerspruch in abgemilderter Form erträglich ist). Nicht zuletzt aus dem Grund hat es revisionistische Anschauungen gegeben, die im gemischten Wirtschaftsmodell der Sozialdemokratie einmal zu Hause waren, das heute, Ironie der Geschichte, unter „kommunistischer“ Herrschaft in China existiert. Die komplette Aufhebung der Warenform birgt m.E. die Wahrscheinlichkeit (vorsichtig ausgedrückt), dass Produktion und Bedrüfnisse sich chronisch verfehlen. Wie könnten ProduzentInnen in einer Fabrik die Produktion Bedürfnissen gerecht werdend planen und umsetzen, wenn sie von tausenderlei unberechenbaren, weil „entwerteten“ Größen abhängig sind? Wie würde sichergestellt, dass die Produktion nicht in heilloser Verschwendung ausartet? Es müsste wirklich ein Überfluss von allem vorhanden sein, damit die VerbraucherInnen zu ihrem Recht kommen. Dann wäre Geld als Rationierungs- und Allokationsinstrument überflüssig. Oder mache ich einen Denkfehler?
Aber noch ein anderer Einwand, der im Gegensatz zum Überfluss steht, ist mir wichtig. Wenn auch die moderne Technik heute Voraussetzungen schafft, Planung und Produktion weitgehend zu rationalisieren, komplizierte Planungen im Bruchteil der früheren Zeit zu erledigen, so gibt es das Problem der zunehmenden Ressourcenknappheit und Entropie. Die Vision eines bürgerlichen Wohlstandes für alle lässt sich in Zukunft aus ökologischen Gründen jedenfalls nicht einlösen, zumindest behaupten das aus meiner Sicht ernst zu nehmende KritikerInnen des „westlichen“ Wohlstandsmodells. Die Konsumkultur auf der nördlichen Erdhalbkugel, die sich partiell auch nach Süden ausdehnt, ist demnach kein zukunftsfähiges Lebensmodell für die Menschheit. Bei einer (hoffentlich nicht mehr lange) wachsenden Weltbevölkerung dürfte eine sozialistische Weltgesellschaft denn auch größte Achtsamkeit darauf verwenden müssen, Mittel und Ressourcen einzusparen. Die moderne Solartechnologie bietet keinen Königsweg, weil auch ihre Ressourcen nur in einem begrenzten Umfang zur Verfügung stehen. Die Einsparung wird nicht (allein) durch moderne Technologien zu bewerkstelligen sein. Die Höhe des Verbrauchs an Ressourcen und Konsumgütern muss (auch) durch einen „Wertewandel“, durch nachhaltige Verhaltensänderungen und Produktionsstrukturen spürbar abgesenkt werden, eine kulturrevolutionäre Aufgabe. Eine damit einhergehende Verkürzung und Vereinfachung der Produktionsstrukturen könnte vielleicht obendrein geeignet sein, die Komplexität der Anforderungen an einen funktionierenden Wirtschaftskreislauf auf einfachere Stufen herunterzufahren.

Klar ist mir, dass Kapital nicht ohne Wareneigenschaft funktioniert. Aber Ware ist noch nicht Kapital, so habe ich Marx verstanden. Sie ist zwar eine notwendige Vorstufe des Kapitals, aber solange sie auf den Kreislauf Ware-Geld-Ware beschränkt bleibt, fehlt ihr die Eigenschaft der scheinbaren Selbstvermehrung. Es geht lediglich um den Austausch von Äquivalenten. Und das hat es natürlich in den Vorepochen der gesellschaftlichen Kapitalverhältnisse bereits gegeben. Wie war es im sowjetischen Block bis zu den Wirtschaftsreformen der sechziger Jahre? Durch die Wirtschaftsreformen wurden die staatlichen Produktionsmittel kapitalisiert. Das hatte, so entnehme ich es dem damaligen Diskurs, mit der zunehmenden Differenzierung/ Intensivierung des Produktionsprozesses zu tun, was schier unlösbare Probleme für die PlanerInnen mit sich brachte. In der staatlich regulierten und verpuppten Kapitalisierung (wobei als feindlich ausgemacht wurde, das Kapital zu nennen) sah man in technokratischer Manier einen Ausweg, Planung und Produktion flexibler zu gestalten, bis sich die Larve unter den Konkurrenzbedingungen des Weltmarktes (als) gänzlich kapitalistisch entpuppte.

In meinen Fantasien arbeitet die Traktorenfabrik Sonnenaufgang nach dem Prinzip, das Marx in seiner Kritik an Lassalles „ehernem Lohngesetz“ in der Gothaer Programmkritik skizziert hat – Lohn als Wertäquivalent abzüglich der Kosten für den Ersatz der Maschinerie und die allgemeine Wohlfahrt – Punkt. Das hat Marx in seiner Programmkritik als den wirtschaftlichen Boden des Sozialismus gegen Lassalle (und früher schon Proudhon) hervorgehoben und ich habe mich daran angelehnt. Es handelt sich bei der Traktorenfabrik meiner Meinung nicht um (genossenschaftliches oder kommunales) Kapital, weil das produzierte Mehrprodukt in Form von Maschinen nur als gesellschaftliches Wertäquivalent auf der Ebene Ware-Geld-Ware (W-G-W) fungiert und nicht als Bestandteil eines betrieblichen Kapitalvorschusses („konstantes Kapital“), der als Druckpotenzial auf die Lohnarbeit wirkt und sich im Prozess Geld-Ware-Mehrgeld (G-W-G‘) als Profit mitrealisiert. Um darüber hinaus das pekuniär sanktionierte, ungerecht gleichmachende Leistungsprinzip (das Marx in der „niederen Phase“ des Sozialismus noch als notwendiges Übel ansieht) im betrieblichen Rahmen abzuschaffen, diskutiert das Kollektiv „unserer“ Traktorenfabrik, die starre Lohnzahlung nach Leistung abzuschaffen und durch individuelle Entnahmen entsprechend persönlicher Bedürfnisse im Rahmen des betrieblichen Budgets zu ersetzen (Prinzip Lebensgemeinschaftskommune Niederkaufungen). Das Geld ist nicht abgeschafft, aber es vermindert seine Bedeutung auf der praktisch-psychologischen wie auf der gesellschaftlich-funktionalen Ebene. Im Übrigen entbrennt in meinen Fantasien ein Streit um das Geld und es gibt gegenteilige Positionen zu der Frage, ob Geld gänzlich überflüssig ist oder ob es wieder eine stärkere Bedeutung erlangen soll. In diesem fiktiven Streitkontext gibt es aus Gründen gravierender Mängel den umstrittenen Vorschlag, Genossenschaften mit selbst zu verwaltendem Kapital auszustatten, was aber kein Anrecht auf eine Gewinnausschüttung bedeuten soll. Es soll, ähnlich wie bei den Reformen in der DDR, eine rationellere, effizientere Produktion begünstigen, indem es einerseits als Erfolgsindikator für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen und Maschinen anreizt und andererseits durch eine innerbetriebliche Gewinnthesaurierung eine schnellere und kontinuierlichere Modernisierung der technischen Produktionsausstattung anregt. Dieser Vorschlag fällt nicht auf ungeteilte Zustimmung, z.B. ob die Produktionsausstattung aus verschiedenerlei Gründen ständig modernisiert werden müsse. Andere sind nicht nur aus ökologischen Gründen für die Ausdehnung der Selbstversorgung, sondern weil Geld hier durch das Kurzschließen von Produktion und Verbrauch für jedeN sichtbar überflüssig ist und das Leben sich ohne Geld leichter anfühlt. Die geldlose Selbstversorgung in der fiktiven Stadt ist im Übrigen eben nicht nur auf Transfers aus dem Geldsektor angewiesen. Im Baubereich, in der Lebensmittelversorgung und der nachbarschaftlichen Hilfe hat sie eine teilweise eigenständige Grundlage, weil die Menschen unmittelbar bzw. über unmittelbare Kooperation verbrauchen/ gebrauchen können, was sie produzieren, ohne dass sie auf eine Geldzufuhr von außen angewiesen sind (deswegen kann in meiner Fantasie niemand mangels Geld verhungern und obdachlos werden!). Es werden Anstrengungen unternommen und Anregungen gegeben, den Bereich der Selbstversorgung auszudehnen und mehr gegenseitige Kooperationen zu organisieren, die losgelöst vom Geld stattfinden.

Die Auflösung der bürgerlichen Arbeitsteilung ist bei M/E ähnlich wie die der Warenform (sie standen nicht auf der revolutionär-pragmatischen Tagesordnung), so sehe ich es, eine notwendige, aber scheinbar selbstverständliche Konsequenz aus der proletarischen Staatsmacht, Verstaatlichung, Planmäßigkeit, wiewohl sie historisch, kulturell und inhaltlich viel tiefer reicht als die Verstaatlichung usw. Schließlich ist das Produkt der Teilung in geistige und körperliche Arbeit nach ME, wie Du zitierst; das fremde Eigentum und die Teilung in „weibliche“ und „männliche“ Arbeit der Zustand des Patriarchats. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass, wo die Teilung beibehalten wird, das Eigentum (eigentlich) kein sozialistisches sein kann, obwohl es formal der Allgemeinheit in Form des Staates gehört. Aber auch hier ist die Schlussfolgerung bei ME nicht „undialektisch“, meint, sie sprechen dem unfertigen Zustand nach der Revolution den Sozialismus nicht ab. In der Frage der Arbeitsteilung hat die Mao Tse-Tung Führung im Unterschied zur scheinbaren Selbstverständlichkeit die Notwendigkeit weiterer Revolutionen gesehen, um die Herrschaft der Geistesarbeiter über das Arbeitsvolk in den Fabriken zu brechen, allerdings in einem sehr mechanistisch-stalinistischen, brutalen Gewaltakt, der meines Erachtens ganz wesentlich zum Misserfolg mit traumatischen Folgen in der chinesischen Gesellschaft beitrug.
Dasselbe lässt sich auch auf die Staatsfrage anwenden. Auch in Bezug auf die Staatsfrage scheint der kommunistische Fortschritt bei Marx/Engels in einer gewissen Eigendynamik den normativen Eingangsvoraussetzungen zu folgen. Es ging darum, dass in ihren Augen ein (vermutlich historisch kurzes) Zwischenstadium nötig war, bevor Staat, Arbeitsteilung und Warenform sich auflösen konnten. Was den Staat angeht, gibt es ja hier den tiefen Bruch mit den anarchistischen SozialistInnen, die meinen, man müsse den Staat direkt umbringen, statt ihn sterben zu lassen. Wenn mensch den Staat direkt „umbringt“, gibt es auch keine Verstaatlichung! Hier eröffnet sich in meinen Augen eine interessante Schnittmenge der aktuellen Beschäftigung mit der Überwindung der Warenform und dem anarchistischen Ziel, den Staat direkt, d.h. durch die soziale Revolution abzuschaffen und durch eine zivilgesellschaftliche Organisierung „von unten“ zu ersetzen. Die anarcho-syndikalistische Studienkommission der Berliner Arbeiterbörsen (anarchistische Gewerkschaften) hatte bereits 1923 eine Schrift herausgegeben, wie die gesellschaftliche Produktion und Verteilung ohne Warenproduktion (aber in der Wertform) organisiert werden soll („Das ist Syndikalismus“ Verlag Edition AV). Interessant wäre zu wissen, wie der Anarchismus in den dreißiger Jahren in Spanien ökonomisch funktionierte.

In meinen Fantasien schildere ich Begebenheiten, Prozesse und Konflikte, in denen sich meine (Wunsch-)bilder einer sozialistischen Gesellschaft in einem Spannungsfeld ungelöster praktischer und theoretischer Probleme bewegen: meine Wunschbilder zeigen sich darin,

  • dass ich mir den Sozialismus als libertäre/rätesozialistische Organisation der Gesellschaft vorstelle (wünsche)
  • dass sich die sozialistische Gesellschaft an ökologischen Erfordernissen orientiert, z. B. Nachhaltigkeit in der Produktion, Veränderung des Konsumverhaltens und Verringerung des Konsumverbrauchs
  • und dementsprechend die Selbstversorgung u. ökologische. Landwirtschaft eine starke Bedeutung haben
  • dass Handwerk und landwirtschaftsnahe Produktion aus ökologischen und arbeitspsychologischen Gründen durch die Möglichkeiten einer modernen kleinteiligen Produktion – zu vorherrschenden Produktionssektoren werden
  • dass sich der „Charakter“ der Technologie verändert – weg von umweltschädlicher (motorisierter Individualverkehr, Düsenjets u.a.), destruktiver (Rüstung), hochgradig risikobehafteter (AKW, Gentechnologie.), hochgradig zentralisierter (ökologisch extrem überdimensionierte Produktionskapazitäten), und menschenfeindlicher (Fließbandproduktion z.B.) Technologie
  • dass die Energiebasis weitgehend auf regenerierbaren solaren Ressourcen beruht
  • dass die BewohnerInnen/VerbraucherInnen/ProduzentInnen die Planung des gesellschaftlichen Zusammenhangs „von unten nach oben“ organisieren, ohne dass die Kollektive in der Wahl ihrer Mittel und ihrer Selbstverwaltung eingeschränkt werden – die Dichte der gesellschaftlich vorgegebenen Plandaten ist dünn
  • dass die Arbeitsteilung nach Geschlechterrollen und geistig/körperlichen Anstrengungen (so weit als möglich) überwunden wird
  • dass die Kapitaleigenschaft des Geldes (G-W-G‘) und damit auch der Wachstumszwang abgeschafft sind
  • dass der Boden der Allmende gehört/Grundstücke – Gebäude zur unentgeltlichen Nutzung überlassen werden – mit vereinbartem Verwendungszweck
  • dasselbe gilt für Produktionsmittel, die über den städtischen Fonds angeschafft werden
  • dass die Leute mietfrei wohnen und in selbstverwalteten, nachbarschaftlichen Strukturen leben
  • die Eigeninitiative unterstützt wird – es besteht Vereinbarungsfreiheit über die zu gewährenden und in Anspruch zu nehmenden Leistungen
  • dass Bildung, Medien, Kultur, Pflege weitgehend unentgeltlich zur Verfügung stehen
  • dass es Meinungsverschiedenheiten und Interessensunterschiede (Berufsgruppen, Selbstversorgung, u.a.) gibt, die offen ausgetragen werden
  • dass Konflikte solidarisch gelöst werden müssen
    Das, was ich in den Fantasien schildere, sind Wunschbilder, die es in der Wirklichkeit als kleine Inseln in mehr oder weniger „unvollkommener“ Form gibt (Umsonstläden, SSM, Niederkaufungen, Longo mai u.v.a.). Ob sich eine Gesellschaft überhaupt einmal in der Weise formiert, steht auf einem anderen Blatt. Außerdem wissen wir überhaupt nicht, wie eine sozialistische Gesellschaft ökonomisch reibungslos funktionieren wird. Es kann durchaus zu wirtschaftlichen Krisen kommen. Eine solche Krise habe ich in meinen Fantasien in der Variante einer Geldentwertung geschildert. Außerdem sind menschliche „Boshaftigkeiten“, die über die persönliche Ebene hinaus auch gesellschaftlich relevant wirken, nicht aus der Welt geschafft und nach menschlicher Beschränktheit nie zu beseitigen (Stichwort: aber notwendig wachsende Rolle der Ethik innerhalb eines von Kapital- und Staatszwängen befreiten Gemeinwesens). Innerhalb der Normen und Werte müssen die Menschen ihren Sinn, mit dem sie menschenwürdig leben können, finden. Das lässt sich weder verordnen, noch vereinheitlichen. Eine Pastorin in der Stadt meiner Fantasien bezieht sich auf Martin Buber, der den Sinn in der jüdischen Verbundenheit mit Gott und den Mitmenschen findet und daraus die Zuversicht der heilenden Genossenschaftlichkeit schöpft.

W. Ruhoff, 27.Februar 2006


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