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„Arbeit. Bewegung. Geschichte“ 1/2017

„Pionierarbeit und Quelle“

„Gearbeitet haben wir viel“ lautet eines der durchdringendsten Motive der interviewten Halleiner Zigarrenfabrikarbeiterinnen der 1988 erstmals veröffentlichten Kollektiv­biografie der Salzburger Historikerin Ingrid Bauer. Die 2015 erschienene Neuauflage trägt einen Zusatz im Titel: „Frauen. Ar­beit. Geschichte.“ Dies sind die drei Ecken, zwischen denen sich diese österreichische Pionierstudie der Oral History aufspannt: Es ist die Untersuchung eines spezifischen Milieus in der ersten Hälfte des 20. Jh., ein Beitrag zur österreichischen Arbeiterlnnenbewegungs- und Gewerkschaftsgeschichte sowie schlussendlich auch eine Arbeit, die dazu einlädt, über Konjunkturen der Ge­schichtsschreibung nachzudenken — nicht zuletzt angeregt durch die einleitenden Worte der Autorin.

Ingrid Bauer selbst sprach im Vor­wort der ersten Auflage davon, dass hier ein Beitrag „engagierter Geschichtsschrei­bung“ vorliege, verfasst mit „kritische [r], aber immer auch, so hoffe ich wenigstens, solidarische[r] Distanz“ (S. 58). Die Historikerin untersuchte in den 1980er-Jahren das relativ geschlossene Milieu der Arbei­terinnen des einzigen größeren „Frauenbe­triebs“ im agrarisch geprägten Bundesland Salzburg: die 1869 bis 1940 bestehende Zi­garrenfabrik in Hallein. Das Panorama, das sie dabei zeichnet, reicht über die Ge­neration der im Jahr 1920 in den Betrieb gekommenen Arbeiterinnen hinaus, die den Großteil der interviewten Gruppe dar­stellten. Oft waren es in einer Familie drei Generationen von Frauen, die in der struk­turschwachen Region die körperlich belas­tende Akkordarbeit in der Fabrik verrich­teten. Es war die immer noch attraktivere Arbeitsmöglichkeit als der Dienst in bür­gerlichen Haushalten oder schlecht bezahl­te Heimarbeit.

Interviewt wurden insgesamt 18 Frau­en: zwölf Arbeiterinnen der Zigarrenfa­brik und sechs „Arbeiterhausfrauen“, die nach der Eheschließung keiner regulären Erwerbsarbeit mehr nachgegangen waren. Nach einer umfassenden methodisch und theoretisch reflektierten Einführung wer­den in fünf Kapiteln die Interviews ausge­wertet. Angeordnet sind diese entlang von Lebensphasen wie etwa Kindheit, Jugend oder Erfahrungen in der Fabrik als junge Frauen – „des woar unser schenste Zeit“ (S. 191). Die Interviewpartnerinnen spre­chen ein vielfältiges Themenfeld an, von Wohnverhältnissen und Familienbezie­hungen über die eigenen Sehnsüchte und Lebenswünsche bis hin zur Kollegialität im Betrieb oder die politischen Kämpfe in der Zwischenkriegszeit. Begleitet werden einzeln vorgestellte Sequenzen der Interviews durch genaue sozialhistorische Kontextualisierungen der Lebens- und Arbeitsverhält­nisse. Einen genauen Blick wirft Bauer auch auf die „frauenspezifische Betroffenheit“ (S. 249) der Arbeiterinnen in Fragen von Verhütung, Familiengründung und wider­ständigen Handlungen. Versickert ist der Erzählfluss aber offenbar für die Zeit nach der Schließung der Fabrik 1940. Das ent­sprechende Kapitel umfasst nur mehr drei Seiten; die Studie endet hier abrupt. Auch wenn es aus Sicht der Leserinnen spannend gewesen wäre, mehr über die Kriegs- und Nachkriegszeit zu erfahren, unterstreicht das Dargebotene doch den zentralen Stel­lenwert, den die Fabrik im Leben der inter­viewten Frauen hatte.

Durchgängiges Thema der Erzählun­gen und der Studie ist – nicht unähnlich dem Klassiker der sozialwissenschaftli­chen Forschung „Die Arbeitslosen von Marienthal“1 – die Arbeit: und zwar die Erwerbsarbeit in der Fabrik genauso wie die Reproduktions- und Fürsorgearbeit zu Hause. In den Blick kommen dabei Verschränkungen von Geschlechter- und Klassenverhältnissen und schichtspezifi­sche Sinnangebote. So war es auch für die eigene Selbstachtung wichtig, eine „gute Arbeiterin“ (S. 212) zu sein. „Wieviel ist dem Überlebensdruck geschuldet und wieviel daran ist Herrschaft?“ (S. 64), fragt Bauer hierzu. Die Stärke der Studie liegt in der Auslotung der Zwischenräume des Gesagten der Interviewpartnerinnen und der konsequenten Kontextualisierung des Erzählten mit weiteren Quellen. Sichtbar wird die die Frauengeschichte der 1980er- Jahre auszeichnende interdisziplinäre Dialogizität, hier vor allem mit Arbeiten der feministischen Sozialwissenschaft. Als weiteres Charakteristikum ließe sich auch der Anspruch nennen, zwischen Wissen­schaft und Gesellschaft zu vermitteln. Un­gewöhnlich und bestechend ist die Trans­parenz, mit der die Autorin den eigenen Forschungsprozess kommentiert.

Die Grenzen der mikrohistorischen Studie auf Basis von Interviews zeigen sich freilich in den Tabus. Eines davon ist die Thematisierung von eventueller Begeiste­rung der Interviewten für den Nationalso­zialismus. Was diese Studie aber deutlich macht, ist die Weise, wie die gesellschaft­lichen und ökonomischen Zumutungen die Fabrik zu einem ambivalenten Ort wer­den ließen. Einerseits war sie ein Ort der Kontrolle und Disziplin, erschwert durch die Doppelbelastung der Haushalts- und Familienversorgung. Die „Tschikweiber“ waren der Akkordarbeit im Betrieb und zu Hause sowie der Willkür der Beamten unterworfen. Sie zogen aber andererseits Anerkennung aus einer Arbeit, die ihnen (eigenes) Geld, Solidarnetzwerke und ein erweitertes, auch widerständiges, Hand­lungsspielfeld ermöglichte. Die Interview­partnerinnen berichten mit Stolz, während des österreichischen Bürgerkriegs im Feb­ruar 1934 als einziger Betrieb in Hallein den Aufstand des sozialdemokratischen Schutzbundes durch die Einhaltung des Generalstreiks mitgetragen zu haben.

Eingedenk der soziologischen Theorie­entwicklungen der 1980er-Jahre auf der ei­nen und der „neuen“ Subjekte der Alltags-, Mikro- und Frauengeschichtsschreibung auf der anderen Seite ist diese Studie heu­te Pionierarbeit und Quelle zugleich. Sie er­öffnet einen Blick in die Lebenswelten der Arbeiterinnen in dieser kleineren Indust­riestadt in der österreichischen Peripherie während der ersten Hälfte des 20. Jh. Bis dato sind Studien wie diese für Österreich selten.

Ergänzt wird die zweite Auflage durch eine beigelegte DVD, die einen Doku­mentarfilm von 2002 über die Halleiner Betriebsrätin und Widerstandskämpferin Agnes Primocic enthält. Es handelt sich hierbei um die interviewte Agnes P. in In­grid Bauers Studie. Auch zu finden auf der DVD sind Aufnahmen einer Festveranstal­tung für Agnes Primocic und das Textbuch des Theaterstücks „Tschikweiber“. Damit dokumentiert die DVD auch die vielfälti­gen geschichtspolitischen, zivilgesellschaft­lichen und künstlerischen Auseinander­setzungen, die aus der wissenschaftlichen Arbeit Ingrid Bauers hervorgegangen sind. Es ist eindeutig ein Verdienst, die Studie in dieser Form neu aufgelegt zu haben.

Veronika Helfert

1 Marie Jahoda/Hans Zeisel/Paul Lazarsfeld: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkun­gen langandauernder Arbeitslosigkeit, Leip­zig 1933

 


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