Zurück zu allen Rezensionen zu Partisanen einer neuen Welt – eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung in der Türkei

„Arbeit.Bewegung.Geschichte“ 2020/I

„Brauns’ Analysen sind mitunter einem recht schematischen Marxismus verhaftet …“

Die Linke aus der Türkei ist spätestens seit den 1970er/80erJahren ein Teil der deutschen Gesellschaft – und mittlerweile auch der Zeitgeschichte – geworden, das offenbart bereits ein kurzer Spaziergang durch die Straßen des Hamburger Schanzenviertels: Auf einem Plakat blickt man in das Gesicht des Maoisten İbrahim Kaypakkaya (1949–1973), zwei Straßen weiter ist ein Kiosk nach dem 68erAktivisten Mahir Çayan (1945–1972) benannt. Eine „Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung in der Türkei“, die eine historische Einordnung entsprechender Personen und Phänomene ermöglichen würde, existierte bislang weder in deutscher noch in englischer Sprache. Insofern füllt das von dem Journalisten und Historiker Nikolaus Brauns und dem Publizisten und Politiker Murat Çakır herausgegebene Buch „Partisanen einer neuen Welt“, das diese Geschichte erzählen möchte, erkennbar eine Lücke.

Der Band besteht aus zwei längeren Texten, die jeweils von einem der beiden Herausgeber verfasst wurden und zusammen etwa vier Fünftel des Buches ausmachen, sowie sechs kürzeren Aufsätzen. Während Brauns auf rund 250 Seiten die Entwicklungen bis zum Militärputsch 1980 schildert, fokussiert sich Çakır auf die Zeit von 1980 bis zur unmittelbaren Gegenwart. Die folgenden Aufsätze von Alp Kayserilioğlu, Volkan Yaraşır, Brigitte Kiechle und Joost Jongerden setzen sich mit Themen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit auseinander – von der Rolle der Regierungspartei AKP über Facetten der Arbeiter und Frauenbewegung bis zum „Paradigmenwechsel“ der PKK.

Das Buch bietet insofern keine geschichtswissenschaftlichen Studien im engeren Sinne, sondern möchte einer deutschsprachigen Linken die Geschichte der Linken in der Türkei – vom späten 19. bis in das frühe 21. Jahrhundert – näherbringen. Entsprechend politisch verorten sich auch die Herausgeber, die den Anspruch formulieren, „an die Kämpfe der Vergangenheit zu erinnern“, und mit dem Band einen Beitrag „zur Neuformierung einer sozialistischen Linken“ (S. 22) leisten wollen. Ob dieser Anspruch eingelöst werden kann, soll an dieser Stelle offenbleiben; stattdessen möchte ich nach dem Ertrag des Bandes aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive fragen. Dabei beschränke ich mich auf die beiden Hauptbeträge von Brauns und Çakır.

Brauns leistet im ersten Abschnitt des Buches einen Parforceritt durch die Geschichte der Linken im Osmanischen Reich bzw. in der Türkei von den 1870er bis in die 1970erJahre. Dabei stützt er sich auf die englisch und deutschsprachige Literatur zum Thema, bezieht vereinzelt aber auch türkischsprachige Darstellungen mit ein. Brauns folgt einem politikgeschichtlichen Narrativ, wobei die verschiedenen Organisationen, Zusammenschlüsse, Parteien und Persönlichkeiten im Vordergrund seiner Ausführungen stehen. Von der multiethnischen Zusammensetzung der frühen Arbeiterorganisationen im späten 19. Jahrhundert über die Positionierung der Türkischen Kommunistischen Partei (TKP) zwischen sowjetischer Außenpolitik und den machtpolitischen Interessen der „Jungtürken“ bis zum Aufschwung der Linken in den 1970erJahren folgt der bzw. die Leser/in den Höhe und Tiefpunkten dieser Geschichte.

Leider fehlen dem Text ein klarer analytischer Fokus oder ein spezifisches Erkenntnisinteresse, sodass die Darstellung oft eher deskriptiv bleibt und vom Schicksal der einen Organisation und prominenten Person zur nächsten treibt. Brauns’ Analysen sind mitunter einem recht schematischen Marxismus verhaftet, wenn er etwa mit idealtypischen Annahmen vom Charakter einer „bürgerlichen Revolution“ (S. 111 f.) argumentiert oder der CHP unter Bülent Ecevit vorwirft, „die ihr von der Bourgeoisie zugedachte Aufgabe der Bändigung der Massenbewegung mit Bravour erfüllt“ zu haben (S. 242). Ähnlich apodiktische Urteile finden sich an weiteren Stellen, etwa wenn er die Türkeipolitik der Komintern als „frühen Sündenfall“ geißelt (S. 92) oder die „falsche Analyse“ des maoistischen Anführers Kaypakkaya (S. 187) kritisiert. Ärgerlich ist, dass Brauns zwar mit Fußnoten arbeitet, aber dies mitunter nur selektiv tut – und beispielsweise Behauptungen zur Verstrickung von Geheimdiensten in faschistische Aktivitäten (S. 15, 154) ohne Belege bleiben. Trotz dieser Kritikpunkte ist es Brauns zugutezuhalten, sich intensiv in die Materie hineingearbeitet zu haben und den Spuren zahlreicher, einem deutschen Publikum sicher größtenteils unbekannter Projekte, Personen oder Publikationsorgane gefolgt zu sein.

Mit Blick auf die roten Fäden in dieser Geschichte lassen sich die Haltung zum Kemalismus und zur „kurdischen Frage“ als politische Gretchenfragen der Linken in der Türkei hervorheben. Immer wieder schwankte die Linke zwischen einem positiven Bezug auf den Kemalismus als „nationale Befreiungsbewegung“ bzw. progressive Kraft und einer oppositionellen, sozialrevolutionären Positionierung.

Die Darstellung von Brauns ist zwar einer klassischen Politikgeschichte verhaftet, an einigen Stellen werden aber auch alternative Zugänge sichtbar, die leider oft kurz ausfallen. Das betrifft beispielsweise das Verhältnis zur Religion. So weist Brauns auf Verbindungen von Kommunismus und Islam hin, etwa die 1920/21 bestehende „Grüne Armee“ als militärische und politische Formation, in der unterschiedliche ideologische Strömungen fusionierten. Bis heute von Bedeutung sind die Bezüge zwischen Alevit/innen und linker Politik, die sich in der großen Beteiligung dieser nichtsunnitischen Bevölkerungsgruppe an linken Organisationen manifestierten. Ansätze einer politischen Kulturgeschichte werden erkennbar, wenn Brauns die Übertragung von Verhaltensmustern aus feudalen und dörflichen Verhältnissen auf den linksradikalen Aktivismus für Phänomene wie die verbreitete innerlinke Gewalt verantwortlich macht.

Die Geschichte von „1968“ und seiner Entmischungsprodukte in der Türkei ähnelt in manchen Aspekten dem Aufbruch in anderen Ländern, weist aber auch eigene Charakteristika auf. So war die Linke in den 1960erJahren gespalten in eine auf einen parlamentarischen Weg zum Sozialismus orientierte Partei, die Türkiye İşçi Partisi (TİP; Arbeiterpartei der Türkei), und eine ideologische Strömung der „nationaldemokratischen Revolution“ (MDD; Millî Demokratik Devrim), die auf Basis einer Einstufung der Türkei als halbkoloniales Land auf eine außerparlamentarische, militärische Machtübernahme mit antiimperialistischer Stoßrichtung setzte. Während sich eine der USamerikanischen und westeuropäischen Entwicklung vergleichbare „Neue Linke“ in der Türkei insofern kaum ausmachen lässt, entsprach die Hinwendung zum Aufbau bewaffneter „Guerilla“Gruppen und zu diversen Schattierungen des sowjetischen, chinesischen oder albanischen Kommunismus vergleichbaren Strömungen anderenorts. In der zweiten Hälfte der 1970erJahre wurde die radikale Linke in der Türkei – im Kontrast zu ihrem Niedergang in manchen westeuropäischen Ländern – zu einer „Massenbewegung“ mit Hunderttausenden Anhänger/innen, orientierte sich aber weiterhin an den Leitbildern und „unantastbare[n] Ikonen“ (S. 193) der 68erBewegung. Der Militärputsch vom September 1980 richtete sich primär gegen diese Linke, was im Juli bereits in der militärischen Besetzung der selbstverwalteten „Kommune von Fatsa“ deutlich geworden war.

Die 1980erJahre sind Gegenstand des Beitrages von Çakır, der die Zeit nach dem Militärputsch als Phase eines „neoliberalen Umbau[s]“ (S. 267) charakterisiert und die Erfolge der Junta bei der Stabilisierung, Befriedung und Entpolitisierung der Gesellschaft hervorhebt. Dabei weist er auf den Exodus großer Teile der Linken ins Exil nach Europa hin, durch den linke Auslandsorganisationen, die dort bereits im Zuge der Arbeitsmigration entstanden waren, Zuwachs bekamen. Die Entwicklung einer eigenständigen kurdischen Bewegung wird im Buch zwar immer wieder thematisiert. Die entscheidende Phase des Bürgerkrieges zwischen PKK und türkischem Staat in den 1980er und frühen 1990erJahren taucht in Çakırs Beitrag allerdings nur am Rande auf. Letztlich argumentiert er vor allem gegenwartsbezogen und mit Blick auf die Entwicklung des politischen Systems hin zur „Ära der AKP“ (S. 334).

Unterm Strich bietet der Band eine erste deutschsprachige Überblicksdarstellung über die Geschichte der Linken im Osmanischen Reich und der Türkei, die als Einstiegslektüre dienen kann. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive wirft das Buch aber mehr Fragen für künftige Forschungen auf, als zufriedenstellende Einordnungen und Analysen zu geben. So bietet denn auch das Nachwort der Herausgeber kein resümierendes Fazit der Geschichte der Linken in der Türkei im 20. Jahrhundert, sondern liefert – getreu dem primär politischen Interesse der Autoren – eine marxistisch argumentierende Kritik am „neuen Paradigma“ des inhaftierten PKKFührers Abdullah Öcalan.  

David Templin  


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