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„Arbeit.Bewegung.Geschichte“ III / 2018

„. . . ein Vielschreiber und anregender Theoretiker. Gerade dort, wo er wie ein Terrier sich in weiterführende Fragestellungen verbiss und zu Widerspruch herausforderte.“

Von Gregor Kritidis

Der Berliner Rätesozialist Willy Huhn gehört zu den marxistischen Theoretikern in Deutschland, die nach 1945 an die Traditionen der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik anknüpften und ihre historische Erfahrungen an die jüngere Generation weiter vermittelten. Obwohl er insbesondere Mitglieder des Berliner SDS beeinflusste, sind seine Schriften weitgehend unbekannt. Das hängt damit zusammen, dass Huhns politischen Positionen quer zu den vorherrschenden Strömungen der politischen Linken in Deutschland liegen und sich gegenüber politischer Instrumentalisierung sehr sperrig verhalten. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass Jochen Gerster einen großen Teil der Texte aus dem Nachlass Huhns im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht hat. Um den Umfang des Buches zu begrenzen, sind rund 200 Seiten Text auf CD-ROM beigefügt.

Die Probleme der Huhn-Rezeption in Deutschland zeigen sich beispielhaft an der Veröffentlichung von Huhns Kritik an der Sozialdemokratie in dessen 2003 neu im ca ira-Verlag herausgegebener Schrift „Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus“. Kommentatoren charakterisieren die Sozialdemokratie unter Rückgriff auf Huhns Überlegungen überhistorisch als sozialfaschistische Kraft und entsorgen den Marxismus als eine den Antisemitismus fördernde Theorie gleich mit.

Derart zweifelhafte Thesen und Schlüsse sind jedoch wenig geeignet, eine Auseinandersetzung mit den Anschauungen Willy Huhns anzuregen.

Jochen Gester geht einen anderen Weg. Seine Intention besteht darin, Willy Huhn selbst zu Wort kommen zu lassen und sich mit eigenen Deutungen in seiner fast 200seitigen biographischen Skizze eher zurück zu halten. Darin besteht sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche, denn der Werdegang Huhns als auch seine Schriften fordern geradezu zur Kritik, Diskussion und Reflexion heraus.

Willy Huhn, 1909 als Sohn eines preußischen Kriminalbeamten geboren, verbrachte seine vom „polizeilichen“ Patriarchat (S. 23) geprägte Jugend in Berlin. Früh wandte er sich der antiautoritären, rätesozialistischen Arbeiterbewegung zu und arbeitete sich autodidaktisch aus der geistigen Enge des Elternhauses heraus. Huhn absolvierte eine kaufmännische Lehre und wurde Mitglied im sozialdemokratischen Zentralverband der Angestellten. In dessen Jugendgruppe in Pankow-Schönhausen erhielt er die Impulse, die ihn zur SAP sowie zu den rätesozialistischen Roten Kämpfern führten. Deren Vordenker wie Bernhard Reichenbach und Karl Schröder knüpften an die Rätebewegung der Novemberrevolution an und positionierten sich gleichermaßen gegen den Reformismus der SPD und den Bolschewismus der KPD.

Angesichts des Verfolgungsdrucks während des Faschismus zog sich Huhn immer mehr in seine Privatbibliothek zurück und begann, das Scheitern der Arbeiterbewegung zu analysieren. In den Fokus rückte er dabei insbesondere den autoritären, etatistischen Flügel der Sozialdemokratie. Er zeichnete dabei ideologiekritisch den positiven Bezug auf den nationalen Staat von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg über die Burgfriedenspolitik und das Bündnis mit den alten Eliten bis zur Kapitulation am Ende der Weimarer Republik nach. Die Ursache für die Hegemonie des Staatssozialismus machte Huhn in den realen Widersprüchen aus, denen die Sozialdemokratie des Kaiserreiches ausgesetzt gewesen sei Einerseits hatte sie gegen die feudale Oberschicht den Standpunkt der radikalen liberalen Demokratie zu vertreten, andererseits musste sie sich gegen das wirtschaftsliberale Bürgertum antiliberal positionieren (S. 78). Mit ihrem positiven Staatsbezug habe die Sozialdemokratie objektiv die Ausdehnung der staatlichen Bürokratie in alle Bereiche der Gesellschaft und damit dem totalen Staat des Nationalsozialismus ermöglicht. Die SPD, so Huhn, „säte den nationalen Sozialismus, aber erntete ihn nicht!“ (S. 89). Auch die KPD habe als radikalisierte Variante des Staatssozialimus ebenso zur Reproduktion etatistisch-autoritärer Tendenzen beigetragen.

Diese weitreichende Kritik an der alten deutschen Arbeiterbewegung kombinierte Huhn mit einer unbewußten Affirmation ihres philosophischen Idealismus, der dazu beitrug, seinen Ohnmachtsgefühlen den Status einer historischen Notwendigkeit zu geben. Aus seiner kritischen Analyse wurde unter der Hand eine historische Notwendigkeit des NS-Regimes, die in eine Affirmation des Regimes und seiner imperialistischen Eroberungskriege mündete. Eine Brücke dazu bildet die doppelte Ablehnung sowohl des westlichen Liberalismus als auch des Bolschewismus, die für Huhn einen Sieg des Deutschen Faschismus wünschenswert machte (S.87). Nicht bessere Einsicht, sondern chronisches Asthma hinderten Huhn schließlich, am von ihm mit höheren Weihen versehenen Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht aktiv teilzunehmen.

Gester kommentiert einerseits recht nüchtern Huhns zunehmende Desorientierung: „Der auf seine Gelehrtenexistenz beschränkte Autodidakt begann sich schrittweise der neuen politischen Umgebung anzupassen. So nahm ein ideologischer Wandlungsprozess seinen Lauf, an dessen Ende die geistige Kombattantenschaft zum ‚Unternehmen Barbarossa‘ stehen sollte“ (S. 90). Andererseits bleibt er bei der Analyse dieser Wandlung sehr zurückhaltend, obwohl sich mit einer solchen Analyse die Frage der Integration der Arbeiterbewegung in das NS-Regime neu aufschließen ließe. Denn Huhns Konformismus war wohl nicht opportunistisch, sondern die Konsequenz eines überspannten Idealismus‘, der wider besseren Wissens versucht, dem Wirklichen das Vernünftige abzugewinnen.

Ähnliches gilt für Huhns „Schuldeingeständnis“ 1946, er habe „gegenüber der Hitler-Diktatur eine Art Tolerierungspolitik“ betrieben (S. 101). Auch ausgehend von dieser sich selbst entlastenden Formulierung, ließen sich zahlreiche Fragen anknüpfen. Etwa inwieweit nach 1945 ältere Positionen ungefragt wieder aufgegriffen wurden. Gerade in der Person Huhns die Beschädigung des politisch-moralischen Identitätskerns der alten Arbeiterbewegung mit Händen greifbar.

So ist es kein Zufall, dass nach 1945 alle Versuche einer rätesozialistischen Reorganisierung scheiterten. Es war vor diesem Hintergrund die Stärke Huhns, in den Debatten der 1950er Jahre wichtige Elemente des Rätesozialismus zu aktualisieren: Die Betonung der ideellen und organisatorischen Eigenständig- und Unabhängigkeit, die Kritik am Stalinismus und am liberalen Kapitalismus sowie an allen Formen autoritärer Organisierung und bürokratischer Herrschaft. Praktisch brachte ihn diese Positionierung in Widerspruch sowohl mit der SED – 1948 zog er nach Westberlin– als auch mit der SPD, aus der er 1954 aufgrund seiner Redakteurstätigkeit für die linkssozialistische Zeitschrift „pro und contra“ ausgeschlossen wurde. Stein des Anstoßes war neben einer Kritik am Krieg in Korea eine historisch zutreffende Artikelserie über die Rolle der MSPD in der Novemberrevolution.

Für die Zeit des Kalten Krieges sind Huhns Texte ein wahrer Fundus kritischer Positionen, zumal er meist gegen den Mainstream der politischen Linken argumentierte und etwa als erster die „friedlichen Nutzung“ der Atomenergie als Illusion bekämpfte. Dass Gester Huhns dezidierten Antizionismus nicht ausspart, obwohl Huhn zu diesem Thema kaum publiziert hat, ist mehr den aktuellen Debatten geschuldet. Gester weist den Vorwurf, Huhn sei Antisemit, gestützt auf zahlreiche Textbelege fundiert zurück und versachlicht hiermit die Diskussion.

Wer den umfangreichen, kaum erschlossenen Nachlaß Huhns kennt, kann ermessen, welcher Verdienst Gester zukommt, die Texte dieses originellen, sperrigen Denkers zugänglich gemacht zu haben. Denn Huhn war ein Vielschreiber und anregender Theoretiker. Gerade dort, wo er wie ein Terrier sich in weiterführende Fragestellungen verbiss und zu Widerspruch herausforderte.

 

 


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