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„Archiv der Geschichte des Widerstands und der Arbeit“ Nr. 20-2016
Für künftige theoretische wie praktische Auseinandersetzungen mit den Themen Streik und Arbeit bieten die hier multimedial aufbereiteten Pierburg-Erfahrungen also vielfältige Anregungen
Vordergründig beschreibt das zu besprechende Bändchen einen kurzen, erfolgreichen Streik vor vierzig Jahren in einem Zulieferbetrieb der Automobilindustrie. Im Sinne der Sicherungsfunktion einer wichtigen Episode nicht-offizieller Geschichtsschreibung der Bundesrepublik wäre dies lobenswert genug. Jedoch weist auf den zweiten Blick auch einiges über den Einzelfall hinaus – insofern ist die Lektüre doppelt zu empfehlen.
3000 mehrheitlich migrantische und weibliche Beschäftigte waren im Familienbetrieb Pierburg mit der „Billig-Lohn-Herstellung“ von Vergasern befaßt. Die Zusammensetzung der Belegschaft verdeutlicht exemplarisch die „Unterschichtung“ des Arbeitsmarktes durch migrantische Arbeitskräfte, die einerseits von den Gewerkschaften eher unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten kritisiert wurde und Millionen einheimischen Beschäftigten Aufstiege erlaubte, andererseits ein wesentlicher Auslöser für die oft von Migrant(inn)en angestoßenen und geführten wilden Streiks in den 1970er Jahren waren.
Die bekannteste dieser spontanen und teilweise heftig geführten Arbeitsniederlegungen, an denen sich insgesamt Hunderttausende beteiligten, ist der Kölner Ford-Streik. Die Forderungen in dieser Streikwelle zielten nicht nur auf Lohnerhöhungen, sondern auch auf bessere Arbeitsbedingungen, Auch bei Pierburg herrschte Unzufriedenheit über schlechte Arbeitsbedingungen, die unzumutbare Wohnsituation im betriebseigenen Wohnheim (üblich für alleinstehende Mig-rant(inn)en) sowie über die deutliche Verschärfung des Arbeitstempos seit 1970. Das Unternehmen boomte und wollte die gute konjunkturelle Lage durch höheren Leistungsdruck auf die Beschäftigten nutzen. Dabei war ein Großteil der Beschäftigten, nämlich 1700 ausländische Arbeiterinnen, bei körperlich schwerer Akkordarbeit an Fließbändern nur in der Leichtlohngruppe 2 eingestuft. In den damals weitverbreiteten Leichtlohngruppen drückte sich die generelle Benachteiligung von Frauen(arbeit) aus. Pfingsten 1973 lief das Faß über, 300 Pierburg-Arbeiterinnen traten spontan in Streik, um eine Reihe von Forderungen durchzusetzen, die neben der Abschaffung dieser Leichtlohngruppe und weiteren lohnpolitischen Forderungen (Löhne nach Betriebszugehörigkeit, Schmutzzulage, 1 DM mehr für alle, Höhergruppierung der Beschäftigten an Sondermaschinen, gleiche Bezahlung von schwerer körperlicher Arbeit, Erhöhung des Fahrgelds) auch, betriebs- und sozialpolitische Forderungen (bezahlte Versammlungszeit, keine Entlassungen wegen häufiger Krankheit, gerechte Verteilung von Überstunden, einen halben bezahlten Tag pro Monat für eventuell nötige Arztbesuche, einen bezahlten Hausfrauentag pro Monat) und die sofortige Entlassung eines Vorarbeiters und des Personalchefs umfaßten. In den Verhandlungen erwirkte der erst 1972 installierte Betriebsrat Zugeständnisse, die die Beschäftigten jedoch nicht zufriedenstellten. Im August traten daher erneut 2000 Arbeiterinnen in einen fünf Tage dauernden Streik. Während sich die Gewerkschaft zurückhielt, agierte der Betriebsrat loyal und basisbezogen. Neben dramatischen Szenen – Besetzung des Werksgeländes, Polizeieinsätze und Verhaftungen, Androhung der Selbstverbrennung eines Arbeiters zeichnete sich dieser Streik vor allem durch die fröhliche Energie und entschlossene Präsenz der Arbeiterinnen aus. Aber erst als sich die deutschen Facharbeiter dem Streik anschlossen, wurden fast alle Hauptforderungen erfüllt. Es gelang, die Leichtlohngruppe abzuschaffen, einen deutlich höheren Stundenlohn zu erzielen, vier Streiktage bezahlt zu bekommen und die Entlassung der Streikenden zu verhindern. Auch die nachfolgenden Entlassungen vermeintlicher „Rädelsführer(innen)“ konnten gerichtlich abgewehrt werden.
Das vom damaligen stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden Dieter Braeg zusammengestellte Buch ergänzt die Chronologie der Ereignisse durch verschiedene zeitgenössische und jüngere Texte, an denen Braeg meist als Autor oder Mitautor beteiligt war. Interviews mit Betriebsräten sprechen neben dem eigentlichen Konflikt und sei‑nem juristischen Nachspiel viele grundsätzliche Fragen betrieblicher Interessenvertretung an. Betriebliche Handlungskonstellationen und unterschiedliche Rollen der Akteure werden hier lebendig: Streikorganisation, Strategien und Agieren von Betriebsräten bei wilden Streiks, die „grüne Wiese“ als ideale Diskussionsstätte, die Ermöglichung der Teilhabe verschiedener Beschäftigtengruppen, das „professionelle“ Selbstverständnis eines basisbezogenen Betriebsrats. So beeindruckt der Pierburg-Streik als Gegenbeispiel für sensibles und integratives betriebsrätliches Handeln zu einer Zeit, in der die Gewerkschaften zu migrantischen Arbeiter(inne)n ein eher distanziert-funktionales Verhältnis pflegten.
Weitere Teile des Buches wie die retrospektive Schilderung der damaligen Jugendvertreterin und ein Auszug aus dem vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt herausgegebenen Roman „Elephteria oder die Reise ins Paradies“ von Heilmann Spix verdeutlichen die sozialisatorischen Wirkungen des Streiks. Der literarische Zugang stellt Anschaulichkeit auf anderer, emotionaler Ebene her. Ein Anhang mit Materialien zur nachfolgenden juristischen Auseinandersetzung und einem Referat Braegs zur Interessenvertretung ausländischer Beschäftigter rundet das Bild ab. Diese Komposition macht die Lektüre des dokumentarischen „Steinbruchs“ spannend. Der beigelegte 42minütige zeitgenössische und neu geschnittene Streikfilm „Ihr Kampf ist unser Kampf“ verdeutlicht das von heute aus erstaunlich positive mediale Interesse am Streik und bebildert die Erzählung durch unmittelbare Eindrücke von Menschen und Orten. Beeindruckend sind nicht nur die (leeren) Fabrikhallen, die das tägliche Arbeitsleid erahnen lassen, sondern vor allem die soziale Dynamik dieser Tage, die Energie der Frauen in ihren Sommerkleidern und die immer wieder ausbrechende Festtagsstimmung. Die Verteilung von Blumen an die Streikenden symbolisiert nicht nur gegenseitige Zuwendung, sondern war – wenn man es recht versteht – mit ein Grund für die Aktivierung der Solidarität der deutschen Facharbeiter. Die zögerlichen Diskussionen dieser Beschäftigtengruppe, das territoriale Gebaren der Betriebsleitung und die Bilder vom Polizeieinsatz verdeutlichen auch die mühsamen Ebenen dieses Streiks.
Für künftige theoretische wie praktische Auseinandersetzungen mit den Themen Streik und Arbeit bieten die hier multimedial aufbereiteten Pierburg-Erfahrungen also vielfältige Anregungen. Hier seien nur zwei Anstöße aufgegriffen: Zum ersten spricht das Buch nicht explizit die Besonderheit von Frauenbeschäftigung und Frauenkampf an. Aber der Pierburg-Streik stellt auch das traditionell-gewerkschaftliche Vorurteil, nach dem weibliche Beschäftigte schwer(er) zu organisieren bzw. zu mobilisieren seien, in Frage. Aus anderen zeitgenössischen Analysen ist bekannt, daß (sogenannte) unqualifizierte Arbeiterinnen in den Streiks der 1970er Jahre direkt oder indirekt immer wieder eine zentrale Rolle spielten. Von den Gewerkschaften, deren Konzepte eher auf die Facharbeiter zielten, nicht vertreten, entwickelten sie im Konflikt eigene, spontane Aktionsformen. Sie kämpften für Lohnerhöhungen, aber auch gegen diskriminierende Bewertungskriterien von Arbeitsplätzen und formulierten „geschlechtsspezifische“ Forderungen (bezahlter Hausarbeitstag, saubere Arbeitsplätze), die die Problematik geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung thematisierten, wenn auch nicht aufhoben. Die sozialisatorischen und ambivalenten Auswirkungen dieser „Selbstermächtigungen“ werden im Pierburg-Buch nur angedeutet. Man hätte sich gewünscht, daß in dem ansonsten sehr instruktiven Band auch die Beschäftigten unterhalb der „Funktionärsebene“ zu Wort gekommen wären. Die (betriebsrätliche) Repräsentationslogik wird an keiner Stelle in Frage gestellt. Der zeitgenössisch verbreitete und vermutlich unbewußte Paternalismus auch linker, aufgeschlossener Gewerkschafter äußerte sich nicht zuletzt darin, daß nach dem Streik nur die Betriebsräte auf Film- und Diskussionsreisen gingen. Dies ist inzwischen anders. Die Diskriminierung von Frauenarbeit besteht jedoch weiter und scheint angesichts der Ausweitung eines Niedriglohnsektors sogar aktueller denn je.
Zum zweiten verwundert nach vielen Jahren weitgehend „sozialpartnerschaftlicher“, co-managerialer betrieblicher Interessenvertretung, was das eigentlich „Revolutionäre“ an diesem kleinen Streik gewesen sein soll. Wieso sieht der lokale Polizeichef die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung bedroht? Welche gesellschaftliche Nervosität muß da geherrscht haben, wenn dieser Streik, gewiß im Kontext einer größeren, aber begrenzten Streikwelle – unironisch – als revolutionäre Erhebung bezeichnet wird? Hat der ungewöhnlich starke Zusammenhalt dies bewirkt? Im Buch, aber auch in der zeitgenössischen Rezeption, wird der Ausnahme-Erfolg bei Pierburg wesentlich auf die Solidarität verschiedener Gruppen – jugoslawische Frauen, eine griechische sozialistische Gruppe, der linke Betriebsrat, deutsche Facharbeiter – zurückgeführt. Die Beschäftigten überwanden traditionelle Grenzziehungen zwischen Geschlecht, sozialem Status, Nationalitäten und Arbeiterkategorien und demonstrierten ihre „Produktionsmacht“. Oder hängt die „Nervosität“ auch damit zusammen, daß in migrantischen Arbeitskämpfen oft auch darüber hinausgehende problematische Lebenslagen, etwa auf dem Wohnungsmarkt oder durch diskriminierende Gesetzgebung zur Sprache kamen? Die Festtagsreden zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkom-mens haben vordergründig betont, wie sehr die Migrant(inn)en die deutsche Gesellschaft verändert und bereichert hätten. Nicht zuletzt mit dem Pierburg-Streik im Hinterkopf wäre es an der Zeit, über kulinarische und kulturelle Anreicherungen hinaus auch die migrantischen Anteile an politischem und gesellschaftlichem Aktivismus und an widerständiger Geschichte in den Blick zu nehmen.
Andrea Gabler
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