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„Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit“ Nr. 20 / 2016

“ … bleibt Müllers Werke beispielhaft für eine engagierte Aufarbeitung revolutionärer Bewegungen“

Diese Neuausgabe des zuerst 1924/25 in drei Bänden erschienenen Werks ist ein „Klassiker“ der Historiographie zur Geschichte der Novemberrevolution, verfaßt von einem Protagonisten der „Revolutionären Obleute“. Mit seiner Fokussierung auf die Bewegungen an der „Basis“ ist es moderner als viele später verfaßte Werke, die sich in den luftigen Höhen der politischen Spitzenverhandlungen bewegen und in denen die revolutionären Massen der Jahre 1918/19 vor allem als niederzuschlagende Meute mit überradikalen Ansichten auftauchen. Müller, Metallarbeiter und ehrenamtlicher Funktionär des „Deutschen Metallarbeiter-Verbandes“, erlebte in Berlin die sich spätestens ab 1916 breiter entwickelnde Anti-Kriegs-Opposition. Als einer der Organisatoren des konspirativen Zusammenschlusses der „Revolutionären Obleute“ in den Berliner Betrieben war er an der Formierung einer politischen Strömung beteiligt, die ab 1917 für die betriebliche Verankerung der neu gegründeten „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei“ stand und einen der Kerne ihres linken Flügels bildete. Im Jahre 1920 sollte dieser durch die Fusion mit der KPD diese erst zu einer Massenpartei machen.

Der Ausbruch der Revolution im November 1918 brachte Müller an die Spitze des Berliner Arbeiterrats und machte ihn im relativen Machtvakuum der ersten Wochen zeitweise quasi zum deutschen Staatsoberhaupt, bis es der SPD gelang, den institutionellen Rahmen des alten Staates, „republikanisch angehaucht“, wiederherzustellen. Mitte der zwanziger Jahre, nachdem er mit der KPD gebrochen hatte – nach ein paar weiteren Jahren im Milieu kleinerer revolutionärer Gewerkschaften gab er dann die Politik gänzlich auf -, verfaßte Müller aufgrund seiner Erfahrungen und auf der Basis einer im Verlaufe der Jahre angelegten großen Materialsammlung über die Rätebewegung seine dreibändige Geschichte; seine Unterlagen verkaufte er später an das Reichsarchiv, sie befinden sich heute im Bundesarchiv.

Der erste Band schildert die Kriegszeit bis zum Vorabend der Novemberrevolution, der zweite die Novemberrevolution vom Ausbruch bis zu ihrer offiziellen Beendigung auf dem Rätekongreß von Anfang Dezember 1919, auf dem die SPD die kurzfristige Wahl einer Nationalversammlung durchsetzte. Band drei behandelt die darauffolgenden drei bis vier Monate, die von sich radikalisierenden Kämpfen zwischen der Staatsmacht und revolutionären Arbeitern, vor allem den Januarkämpfen in Berlin und den Versuchen, in Bremen und München Räterepubliken auszurufen, aber auch von schweren Niederlagen und Rückzugsgefechten gekennzeichnet waren. Besondere Anschaulichkeit gewinnt Müllers Darstellung auch durch die zahlreich abgedruckten Originaldokumente. Die spätere Geschichtsschreibung zur Novemberrevolution hat immer wieder auf Müllers Werk zurückgegriffen, selbst wenn sie seine Fokussierung auf die Massenbewegungen, von seinen politischen Sympathien erst gar nicht zu reden, zumeist nicht teilte.

Auch wenn sich die Geschichtsschreibung in methodischer Hinsicht weiterentwickelt hat, bleibt Müllers Werke beispielhaft für eine engagierte Aufarbeitung revolutionärer Bewegungen. Nach 1968 wurde Müllers Werk mehrfach nachgedruckt, als Raubdruck und 1973/74 in einer 1979 noch einmal aufgelegten Neuausgabe im heute nicht mehr existierenden Verlag Olle & Wolter. Die jetzt vorliegende Ausgabe versammelt in neuem Satz das gesamte Werk in einem Band, ergänzt durch eine Einleitung von Ralf Hoffrogge, der als Verfasser von Müllers Biographie (Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008) einen kurzen Überblick über dessen Leben und die Wirkungsgeschichte des Werks gibt. Inzwischen liegen bereits mehrere Neuauflagen vor, die um ein Personenregister und eine Chronologie der Novemberrevolution erweitert sind; beide stehen auf der website des Verlags als pdf-Dateien zur Verfügung.

Reiner Tosstorff


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