„Forum gewerkschaftliche Linke Berlin“ v. 24.1. 2023
Die Kooperative Cecosesola erhielt im Jahr 2022 den Alternativen Nobelpreis. Aus diesem Anlass gab Jorge Rath, ein langjähriger Aktivist der Kooperatistas, dem Forum ein Interview, das hier nachzulesen ist:
Alternativer Nobelpreis für die Kooperative Cecosesola in Venezuela
„Express“ 12/2022
Über Widerstand gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur
Von Ulrich Maaz
Die Holding der Familie Tönnies ist mit Abstand der größte Fleischverarbeitungskonzern in Deutschland. In die öffentliche Kritik geraten ist er im Frühjahr 2020 wegen 1.500 Corona-Infektionen in seiner Schlachterei am Stammsitz Rheda-Wiedenbrück. Erst dieses Ereignis hat dazu geführt, dass es eine breitere Empörung über die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der migrantischen Arbeiter:innen in den Großschlachtereien gibt – und als eine staatliche Reaktion die Verabschiedung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes.
Der »Jour Fixe Gewerkschaftslinke« beschäftigt sich schon seit Jahren intensiv mit diesem Thema und hat Initiativen gegen das »System Tönnies« unterstützt. Er hat nun einen Folgeband zu dem 2020 erschienenen Buch »Das System Tönnies« herausgegeben, in dem nicht nur die Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen in der Fleischindustrie behandelt werden, sondern auch die Perspektiven der Fleischindustrie, der Landwirtschaft und der Tierrechte.
Auf gut 200 Seiten finden sich über 30 Beiträge, die zum großen Teil schon an anderer Stelle veröffentlicht wurden. Im ersten Teil des Buches sind Berichte abgedruckt, die die Situation bei Tönnies (und darüber hinaus in der Fleischindustrie insgesamt) vor dem Inkrafttreten des Arbeitsschutzkontrollgesetzes beschreiben. Im zweiten Teil geht es um die Umsetzung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes und (erste) Auswirkungen. Im dritten Teil sind Beiträge unter der Überschrift »Fakten. Ausblicke. Perspektiven« versammelt.
Dass hier Texte nachgedruckt wurden ist kein Nachteil – im Gegenteil: Die Zusammenstellung ermöglicht einen guten Einblick in die unterschiedlichen Aspekte dieser besonderen Ausbeutungspraxis.
So vermitteln z.B. die Interviews mit dem Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich, mit Inge Bultschnieder von der »Interessengemeinschaft Werkfairträge« aus Rheda-Wiedenbrück und mit Freddy Adjan, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft NGG, ein anschauliches Bild der Arbeits- und Lebensbedingungen von Werkvertragsbeschäftigten in der Fleischindustrie. In diesen und anderen Beiträgen wird deutlich, mit wie viel Zivilcourage sich (zunächst) Einzelne nicht nur gegen die miesen Arbeitsbedingungen, sondern auch gegen die Umweltverschmutzung und Tierquälerei des »System Tönnies« gewehrt haben ‒ ob am Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück, in Weißenfels in Sachsen-Anhalt oder in Kellinghusen in Schleswig-Holstein. Dort wurde sogar der amtierende Landrat des Kreises Steinburg/Itzehoe, Torsten Wendt, auf Druck der Fleischlobby von der Mehrheit des Kreistages abgewählt, nachdem er wegen der Missstände mit der Schließung der Schlachterei gedroht hatte und sich express Nr. 12/2022 nicht von Tönnies hatte »einnorden« lassen. Der kurze Beitrag von Dieter Wegner dazu ist ein Lehrstück, wie politische Erpressung funktioniert und demokratische Strukturen ausgehebelt werden. Die beiden Beiträge über den zweitgrößten Tönnies-Standort in Weißenfels belegen am Beispiel der dortigen Auseinandersetzung um den Emissionsschutz und um Abwasserprobleme, wie Umweltrecht und rechtsstaatliche Standards umgangen bzw. ignoriert werden.
Die Beiträge im zweiten Teil des Buches befassen sich mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz und seinen bisherigen Auswirkungen. Es ist am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Wesentlicher Inhalt ist das Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in Betrieben der Fleischindustrie mit mehr als 50 Beschäftigten. Das ist zunächst ein politischer Erfolg aller, die gegen die Überausbeutung in der Fleischindustrie protestiert haben. Allerdings zeigen die ersten Berichte über die Umsetzung des Gesetzes, dass die Auswirkungen für die – jetzt direkt bei den Schlachtereien beschäftigten – Arbeiter:innen nicht immer positiv sind. So hat die Reduzierung der überlangen Arbeitszeiten teilweise zu einer weiteren Steigerung der Arbeitshetze geführt. Auf der anderen Seite sind die Chancen für gewerkschaftliche Organisation und Durchsetzung tariflicher Verbesserungen deutlich gestiegen.
Neben diesen beiden Themenschwerpunkten bietet dieser Sammelband aber noch mehr,
beispielsweise: Analysen, wie es überhaupt zu solch haarsträubenden Verhältnissen kommen konnte (Ferschl/Krellmann: Deutschland einig Dumpinglohnland) und wie sich die Strukturen der Schlachtbranche aktuell verändern (Hüttenschmidt); Erklärungsansätze, warum das Agrobusiness Treiber der Corona-Pandemie und anderer Seuchen ist (Stache/Bernhold: Superspreader Fleischkapital) sowie Ansatzpunkte für eine andere landwirtschaftliche Produktion (Kock-Rohwer und Piachnow-Schmidt, Ideenwerkstatt Kellinghusen).
Dieter Wegner schreibt im Vorwort für die Herausgeber: »Es haben sich in den letzten Jahren sehr unterschiedliche Akteure gegen das System Tönnies zusammengefunden: aus der Zivilgesellschaft, Initiativen gegen das System Tönnies, aus beiden Kirchen, Gewerkschafter, Tierrechtler, Landwirte, Wissenschaftler. Auch wenn zwischen ihnen Unterschiede in der Herangehens- und Sichtweise bestehen, sie eint das Ziel: Das System Tönnies muss weg!
Wenn dieses Buch II dazu dient, das Interesse am Thema aufrechtzuerhalten, hat es seinen Zweck erfüllt.«
Auch wenn es leider nicht immer editorische Erläuterungen zum Hintergrund und den Autor:innen der einzelnen Beiträge gibt – das Buch erfüllt seinen Zweck, ist in seiner Vielfalt sehr anregend und ein gutes Beispiel für politische Aufklärung – insbesondere zum konkreten Zusammenhang zwischen Ökonomie und Ökologie. Meine Empfehlung lautet daher: Unbedingt lesen!
* Ulrich Maaz ist langjähriger ver.di-Aktiver aus Hamburg.
„Lichtwolf Nr. 80“ (Winter 2022/23)
Oh wie handlich!
Bedauerlich, wenn Verlage wie der VWF aufgeben, aber hier ist ein anderer eingesprungen und hat das Buch gleich mal drastisch verbilligt. Das Lexikon zum großen Trierer und seinem Verbündeten aus Wuppertal umfasst rund 300 Artikel mit Schwerpunkt Ökonomie. Jeder einzelne ist kommentiert und zitiert die einschlägigen Stellen mit Hinweis auf die MEW-Fundstelle. Mit seinen fast 800 Seiten ist der stattliche Band immer noch viel kleiner, aber eben auch viel handlicher und v.a. billiger als W. F. Haugs vielbändiges Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus aus dem Argument-Verlag: Wer auf dieses „Jahrhundertwerk“ (Oskar Negt) noch spart, ist mit jenem schon mal mehr als nur notversorgt. (hi)
„Sozialistische Zeitung“ (SoZ)12/2022
Gejagt und verraten
Die KPD Südbayern in den 20er und 30er Jahren
von Peter Nowak
Bayern ist als Ort der Reaktion schon in der Weimarer Republik bekannt. In München begann der Aufstieg der NSDAP. Nürnberg wurde zum Inbegriff der Reichsparteitage der NSDAP. Viel weniger ist über den linken Widerstand in Bayern bekannt.
Vielleicht ist gerade noch die Münchner Räterepublik ein Begriff, wird aber in der Regel als kurze Zeit des linken Chaos abgetan. Deshalb ist es umso verdienstvoller, dass der Historiker Max Brym auf knapp 80 Seiten eine kurze Geschichte des antifaschistischen Widerstands in Südbayern vorgelegt hat.
Brym wurde 1957 in Altötting geboren und ist seit Jahrzehnten in der linken Bewegung in Bayern aktiv. Darüber hat er auch in der Vergangenheit schon Bücher verfasst.
Zumeist in der Halblegalität
In seinem neuen Buch beginnt Brym ebenfalls mit den verschiedenen bayerischen Räterepubliken im Jahr 1919. Denn nicht nur in München, sondern auch in vielen kleineren bayerischen Städten riefen die Arbeitenden damals solche Räterepubliken aus. Darüber hat Michael Seligmann 1989 im Trotzdem-Verlag ein sehr informatives Buch unter dem Titel Aufstand der Räte herausgegeben, das allerdings nur noch antiquarisch zu bekommen ist. Leider wird es nicht in Bryms Literaturliste angeführt. Doch es ist sehr wahrscheinlich, dass er es gelesen hat. Denn mehrmals erwähnt er die Räterepubliken in Kolbermoor oder Rosenheim, die trotz ihrer schnellen Niederschlagung Auswirkungen auch auf den Widerstand gegen den Faschismus ab 1933 hatten. Denn die wenigen Wochen der Räterepubliken haben zur Politisierung einer ganzen Generation von Arbeiter:innen geführt, die sich trotz der massiven Repression nicht brechen ließen. Dabei erinnert Brym auch daran, dass die massive Repression gegen Linke aller Couleur bereits 1919 in der rechten Ordnungszelle Bayern begann.
»Die KPD war bis 1921 in Bayern vollständig illegal. Darauf folgte eine teilweise Legalisierung bis zum Jahr 1923, die von 1923 bis 1925 erneut zur vollständigen Illegalisierung führte. Von 1925 bis 1933 befand sich die KPD in einem halblegalen Zustand. Knapp die Hälfte ihrer Veranstaltungen in dieser Periode wurden polizeilich verboten und immer wieder wurde Material der Partei beschlagnahmt«, skizziert Brym die Arbeitsbedingungen einer antagonistischen Linken in einer Zeit, die heute als Weimarer Demokratie verklärt wird. Bei der Zerschlagung der Räterepubliken spielten auch führende bayerische Sozialdemokraten eine unrühmliche Rolle.
»Es ist daher kein Wunder, dass die verhängnisvolle Sozialfaschismustheorie bei den bayerischen Kommunisten weitgehend auf Zustimmung stieß«, kommentiert Brym. Er hebt sich damit wohltuend von vielen Historiker:innen ab, die darin nur ein Diktat Stalins sehen und vergessen, dass viele Arbeiter:innen in den Jahren 1919–1923 die Erfahrung machen mussten, dass von Sozialdemokraten befehligte Polizei und Freikorps Jagd auf sie machten, sie verhafteten oder gar ermordeten.
„Allround-TV v. 10.12.22
Max Brym stellt sein neeues Buch vor:
https://www.allround-tv.de/mediathek/video/buchvorstellung-max-bryms-arbeiterwiderstand-in-suedbayern/
„RADIO LORA“ v. 7.9. 2022
Im Gespräch mit Max Brym:
„Passauer Neue Presse“ v. 16.11.22
Von Till Frieling
„Der Arbeiterwiderstand fehle völlig in der Erinnerungskultur – das Buch ist ein Versuch, das zu ändern“
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist für Max Brym, der in Altötting geboren ist, ein sehr persönliches Thema. Bryms Vater war polnischer Jude und Überlebender der Schoah. Mit seinem Sohn konnte er jedoch nie über seine Zeit im KZ sprechen. Diese einschneidende Erfahrung war für den Autor Anlass, sich intensiv mit dem Naziregime und zu befassen.
In seinem neuen Buch „Skizzen – Arbeiterwiderstand gegen das Nazi Regime in Südbayern“ widmet sich Brym, der heute in München lebt und unter anderem Gastdozent an der Universität Prishtina im Kosovo war, dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der bayerischen Provinz. Das Buch ist sein zweites Werk zu dem Thema. In dem Buch „Roter Widerstand in der bayerischen Provinz“ beschrieb Brym schon einmal den Widerstand der bayerischen Arbeiterschaft gegen den NS-Terror. Sein neues Werk knüpft daran an, ist aus Bryms Sicht jedoch breiter aufgestellt.
Kleine Arbeiterzentren wie Burghausen spielten laut Brym eine nicht ganz unwichtige Rolle im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Vor allem vor der Machtergreifung Hitlers 1933 gab es hier immer wieder heftige Auseinandersetzungen zwischen den Nazis und organisierten linken Arbeitern. Der erste Versuch der NSDAP, 1932 eine größere Veranstaltung im Burghausener Gasthof „Glöckelhofer“ abzuhalten, wurde so gemeinsam von sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern unterbunden — auch mit Gewalt.
Brym betont, dass die Zusammenarbeit zwischen den beiden linken Lagern zu diesem Zeitpunkt durchaus eine Besonderheit war. Auf Reichsebene bekämpften sie sich oft, anstatt sich gemeinsam gegen den aufkommenden Faschismus zu stellen. In den kleineren Arbeiterstädten wie Burghausen hatte man jedoch früh begriffen, dass die Nazis keinen Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten machten – und man tat sich zusammen. Für Brym ist der Widerstand in der Region daher ein Beispiel dafür, wie der Nationalsozialismus noch vor 1933 hätte zerschlagen werden können.
Bryms Buch ist voll von Geschichten und Anekdoten über den Kampf gegen die Nazis in der bayerischen Provinz. So beschreibt der Autor, wie am Burghauser Wöhrsee Waffenlager anlegt und wieder geleert wurden, nachdem sie beinahe entdeckt worden waren. Auch die Burghauser Geschehnisse des 9. März 1933 – der Tag der sogenannten Gleichschaltung der Länder – beschreibt er. Die Burghauser Ortsgruppe der KPD versuchte damals, die NSDAP daran zu hindern, eine Hakenkreuzfahne auf dem Dach des Rathauses zu hissen.
Das Brym so ausführlich und anschaulich über die Geschehnisse berichten kann, liegt an seiner umfassenden und zum Teil schon jahrzehntelangen Recherche. Schon in den 1970er Jahren begann er, Gespräche mit Zeitzeugen zu führen und darüber Tagebuch zu schreiben. So konnte Brym Ende der 70er Jahre noch mit Alois Haxpointner sprechen, der lange die KPD in Burghausen geleitet hat und zehn Jahre im KZ Dachau inhaftiert war.
Mit seinem Buch möchte Brym auch die Geschichtsschreibung über den Widerstand gegen das Naziregime ergänzen. Man erinnere sich zwar richtigerweise an Gruppen wie die Weiße Rose oder den militärischen Widerstand rund um Claus Schenk Graf von Staufenberg, der Arbeiterwiderstand fehle aber komplett in der Erinnerungskultur, erklärt er. Sein neues Buchs ist daher auch ein Versuch, das zu ändern.
„Mibestimmung“ 10/2022
“ Ein ganz großer Gewinn für die Aufarbeitung der Geschichte der Migration …“
Von Wolfgang Jäger
Vom Anwerbeabkommen bis zur Heimat im Plural erzählt der ehemalige IG Metall Sekretär Nihat Öztürk die wechselvolle Geschichte der Migration in Deutschland seit Mitte der 1950er Jahre. Sein rund 40seitiger Essay schlägt den großen Bogen über rund 70 Jahre Migration, der im zweiten Teil des Buches mit der Dokumentation von 21 Ausstellungstafeln auf knapp 100 Seiten reich bebildert illustriert wird. Das Buch ist zur Wanderausstellung entstanden, die im August ihre Reise in Düsseldorf begonnen hat. Beide sind ein ganz großer Gewinn für die Aufarbeitung der Geschichte der Migration. Nihat kennt sich in der Forschung zur Migrationsgeschichte und der Migrationspolitik der IG Metall bestens aus und scheut nicht das prononcierte Urteil: „Wir haben kein Flüchtlingsproblem, sondern ein Problem der Solidarität, des Werteverfalls und des Rassismus. Selbst die beispielhafte Solidarität mit den Menschen in und aus der Ukraine […] hat eine hässliche Seite. Die rassistische Sortierung der Kriegsflüchtlinge in schützenswerte weiße Europäer (uns kulturell nahe Menschen) und nicht schützenswerte People of Color.“
„Contraste“ 07-08 2022 | NR. 454-455
Das ganz ander 1968
Der Göttinger Soziologe Peter Birke interviewt in diesem Buch die Arbeitsund Umweltwissenschaftler Wolfgang Hien (*1949) und Herbert Obenland (*1950). Gegenstand ist vor allem ihre Zeit als Lehrlinge bei BASF in Ludwigshafen Mitte der 1960er Jahre und ihr direkt daran anschließender Aufenthalt auf dem so genannten Speyer-Kolleg, an dem sie dann Mitte bzw. Ende 1972 das Abitur ablegen.
Beide kommen aus der Provinz, Hien aus dem Saarland, Obenland aus dem Schwäbischen. Die BASF ist für sie zuerst die moderne, »weite Welt«, die dann allerdings schnell auch ihre zutiefst autoritären Strukturen zeigt. Beide engagieren sich, vom kirchlichen Milieu herkommend, in der sozialistischen Lehrlingsbewegung und knüpfen Kontakte zu Linken in Ludwigshafen und Heidelberg. Untergebracht sind sie – und das wird dann in Speyer sehr ähnlich und wichtig sein – in einem Jugenddorf. Dort leben hunderte Lehrlinge der BASF wie in einer Art Jugendherberge zusammen. Sie haben dadurch vielfältige Möglichkeiten, sich zu treffen, sich auszutauschen und zu organisieren.
Mit Anfang 20 gehen die beiden (Hien muss erst noch in einem Vorkurs die mittlere Reife nachholen) an das Speyer-Kolleg. Dort gibt es schnell Konflikte um die Lehrinhalte (etwa den Religionsunterricht) und allgemein Fragen der Demokratie und Mitbestimmung (»Alles drehte sich um die Frage: ›Wer bestimmt hier was‹«, S. 153). Der Konflikt dort endet mit einer Niederlage. Die Zeit am Kolleg bzw. in Speyer, in der sie auch Kontakte zu Betrieben in Speyer haben, eine kleine Zeitung mitherausgeben, und eine, wie Birke es nennt, »Barfuß-Soziologie« betreiben, ist für das weitere Leben der beiden »Arbeiterintellektuellen« trotzdem wichtig.
Beide gehen nach dem Abitur erst einmal mit politischer Motivation im Rahmen der APO für einige Jahre in den Betrieb, den sie dann Ende der 1970er wieder verlassen; Obenland etwa arbeitet bis 1981 bei Degussa in Frankfurt/Main. Die Themen Gesundheit, Gesundheitsschutz und Arbeit/Betrieb beschäftigt die beiden ihr ganzes Leben: Hien als politischen Bildner und prekären Wissenschaftler, Obenland als Inhaber eines kleinen Forschungsbüros.
Jenseits der Ereignisgeschichte geht es immer wieder um Erfahrungen im Betrieb, und wie diese verarbeitet werden und das weitere Leben prägen. Das Bedürfnis nach Emanzipation besteht bei den beiden bis heute. Ein zweites Metathema ist das Verhältnis von Wissen, Bildung und Selbstorganisation. Wie entsteht Wissen, wie kann es »angewendet«, und wie ist das mit der Herkunft der beiden verknüpft?
»Das andere 1968« ist ein spannendes, persönliches Buch — und es ist nicht zuletzt Zeugnis von und Ergebnis der über 50-jährigen Freundschaft zwischen Hien und Obenland. Birke und die beiden stellen ein lebendiges Stück Sozial- und Zeitgeschichte zur Verfügung, das absolut lesenswert ist.
Bernd Hüttner
„express“ 12/2021
Über die Leerstelle von „Anger“ und „Action“
von Jonas Berhe
Schon der Titel lässt es erahnen: Der Frankfurter Gewerkschafts-Organizer, Theoretiker und Autor Slave Cubela lässt in seinem Buch »Anger, Hope – Action? Organizing und soziale Kämpfe im Zeitalter des Zorns« viel Platz für Emotionen und auch (Selbst-)Zweifel. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die hiesige Organizer-Szene sich in der vergangenen Dekade eher für Antworten denn für noch mehr Fragen zu gewerkschaftlichen Herausforderungen interessierte.
Einleitend fragt sich Cubela anhand verschiedener zeithistorischer Momente, beispielsweise von kollektiven Ausgrenzungserfahrungen in den französischen Vorstädten schon vor 30 Jahren, warum solche Erfahrungen zwar immer wieder zu Riots, aber nicht zu konsequenten größeren gesellschaftlichen Konfrontationen geführt haben. Mit anderen Worten also, warum Anger nicht konsequenterweise zu Action führt (daher das kritisch aufdringliche Fragezeichen im Titel), während die reine Organizing-Schule aber genau mit diesem politischen Dreisatz zur Mobilisierung der betrieblichen Massen rät: Also Anger ausmachen, Hope vermitteln und Action umsetzen. Cubela, selbst erfahrener und immens talentierter Organizer, verweist an diesem Punkt auf eine »wiederkehrende Leerstelle«, die er beobachtet. Zu dieser »Leerstelle« zwischen Anger und Action findet er in der gesamten, mittlerweile selbst im deutschsprachigen Raum recht vielfältigen Publikationswelt keine passende Antwort.
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