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Beitrag zur Vorstellung des Buches am 6. Dezember im Buchladen „Schwarze Risse“ Berlin

Leicht überarbeitete Fassung des Beitrags von Renate Hürtgen, einschließlich einiger Anmerkungen der Autorin zur Diskussion

Es ist nicht genug zu würdigen, dass Bettelheim seinen eigenen Ansatz, was den Charakter der Oktoberrevolution betrifft, in nur wenigen Jahren änderte – und zwar in Anschauung der Klassenkämpfe z. B. in Polen um 1980 -, und nicht, indem er ins rechte oder Totalitarismuslager gewechselt wäre … sondern unter Beibehaltung eines marxistischen Ansatzes und einer linken Einstellung … Es gibt für mich ein Phänomen, das wir vielleicht diskutieren sollten: Sein Neuansatz hat keine Wirkung in die Linke hinein gehabt. So weit ich sehe, gab es keine Reaktion auf Band 3 und 4 der „Klassenkämpfe in der UdSSR“, die 1982 in Paris erschienen sind … Nach 1982 hat Bettelheim nur noch drei Bücher veröffentlicht, zwei davon auf Italienisch, eins mit Paul Sweezy zusammen, das davon handeln soll, wie eine wirkliche sozialistische Ökonomie aussehen könnte. (Ich kenne es nicht.)

Das ist umso erstaunlicher, als Bettelheim in diesen Bänden von 1982 – die jetzt von Die Buchmacherei erstmals in Deutsch veröffentlich sind – eine ganz neue Einordnung der russischen Revolution vornimmt. Im Kern besteht dieser Neuansatz darin, dass für ihn 1917 mit dem Sturz des Zarismus und der Errichtung einer provisorischen Regierung ein pluraler revolutionärer Prozess begann, den er eine „kapitalistische Revolution“ nennt. Die negative Arbeit dieser Revolution war die Zerstörung vorkapitalistischer Zustände, die positive die Etablierung einer kapitalistischen Gesellschaft. Welche genaue Richtung dieser revolutionäre Prozess einschlagen würde, welche endgültige „Existenzform“ der Kapitalismus in der Sowjetunion annehmen wird – das war nach Bettelheim zunächst offen. Er beschreibt drei Akteursgruppen, die nach der Februarrevolution entstanden waren: 1. Die revolutionäre Bauernbewegung, 2. Die Sowjets und Fraktionen der Intelligenz, die für demokratische Freiheiten, ein repräsentatives System, den Rechtsstaat und eine Verfassungsgebende Versammlung eintraten und 3. Fraktionen des russischen Volkes, darunter die Akteure der Sowjets und der Intelligenz, die eine Verstaatlichung der Produktionsmittel anstrebten.

Die Weichen sind nach seiner Lesart mit der Machtübernahme (Aufstand) der Bolschewiki gestellt, die die Sowjets nach kurzer Zeit zu Organen der Ratifizierung und Ausführung von Regierungs- und Parteientscheidungen verwandeln. („Revolution von oben“) … Das hing – nach Bettelheim – maßgeblich mit ihrer Auffassung von der Rolle des Staates zusammen, der die eigenständige Rolle der Sowjets zugleich einschränkte, am Ende der 1920er-Jahre waren sie nur noch Ausführende.

Anders als noch in den Jahren zuvor selber gedacht bzw. in seinem politischen Umfeld angenommen, geht Bettelheim also hier nicht mehr von einer sozialistischen Phase aus, die durch schwierige historische Umstände oder infolge von Fehlern der politischen Akteure auf die staatskapitalistische Bahn geraten war. Die Frage, die sich ihm folgerichtig jetzt stellte, war die nach der spezifischen Existenzform des Kapitalismus in der Sowjetunion. Und genau das ist der Inhalt der beiden vorliegenden Bände: Bettelheim will hier die Entstehung und Etablierung „eines juristisch und politisch völlig neuen Typs von Kapitalismus“ nachweisen, dessen Errichtung am Ende der 1930er-Jahre erfolgt war.

Das Spannende ist, das Bettelheim damit den Gedanken einbringt, die allgemein als „sozialistisch“ bezeichneten Revolutionen und Bewegungen sind als Teil einer kapitalistischen Entwicklung zu betrachten. Sie bringen verschiedene Existenzformen des Kapitalismus hervor, jedoch keine Alternative zu ihm.

Eine kritische Anmerkung: Was Bettelheim leider nicht diskutiert, das ist die Frage danach, welche „Zukunft“ die Revolution mit ihren zahlreichen Komponenten „hätte schreiben können, wenn die Machtergreifung durch die Bolschewiki ihn (den revolutionären Schwung, R.H.) nicht brutal unterbrochen hätte“ (S. 30). Wäre eine andere, weniger brutale kapitalistische Entwicklung für die Sowjetunion möglich gewesen? Hätte die kapitalistische Revolution nicht in einer Stalin´schen Terror- und Gewaltherrschaft enden müssen?

 

Die vorliegenden Bände behandeln die Jahre von 1928 bis 1941, die Zeit der „stalinistischen Revolution“. Die relative Offenheit für unterschiedliche Strategien und auch Praxen (z. B. „Gleichmacherei“ in der NÖP-Zeit, die später erbittert bekämpft wird), die bis weit in die 1920er-Jahre hinein funktioniert hatte, ist vorbei. Eine Offenheit, die allerdings – nach Bettelheim – von Anfang an im Rahmen der bolschewistischen Sozialismusauffassung verblieb, einer Auffassung, in der Sozialismus und Staatskapitalismus gleichsetzt wurden.

 

Zweite kritische Bemerkung: Was Bettelheim nicht nur hier, auch an anderer Stelle so gut wie gar nicht diskutiert, ist, dass diese Gleichsetzung der Bolschewiki von Staatseigentum und Sozialismus durchaus der in der Arbeiterbewegung allgemein verbreiteten Annahme entsprach: Staatseigentum sei sozialistisches, weil vergesellschaftetes Eigentum. Da Bettelheim solche Einordnungen in die internationale Bewegung nicht vornimmt, bleiben seine Erklärungen für die Begeisterung, die die Gründung des Sowjetstaates auslöste, sehr unbefriedigend. Allein mit dem „Mythos“, den die Bolschewiki verbreitet hätten, lässt sich nicht begreifen, warum die internationale Arbeiterbewegung in der SU ihre real gewordene Zukunft sah.

 

Ende der 1920er-Jahre begann nach Bettelheim eine neue Phase der kapitalistischen Revolution, in der die Züge dieses spezifischen sowjetischen Kapitalismus deutlich wurden. Er nennt ihn eine „extreme Form des Kapitalismus“ mit außerordentlich hohen Akkumulationsraten, beispielloser Repression und einer spezifischen politischen Herrschaftsform. Es ist das Jahrzehnt, in dem sich ein Kapitalismus neuen Typs durchsetzt, wo die „Partei zum obersten Organ der Staatsmacht“ erhoben wird. Für den Bettelheim den Begriff „Parteikapitalismus“ entwickelt.

Das Buch heißt „Die Klassenkämpfe in der UdSSR“ … Das ist in einem sehr weiten Sinne gemeint und umfasst den gesamten Konstituierungsprozess einer neuen Ausgebeuteten- und einer neuen Ausbeuterklasse … 300 Seiten sind den „Beherrschten“ und 300 Seiten den „Herrschenden“ gewidmet. Das ist eine, wie ich finde, gute – in der linken Sozialgeschichte verbreitete – Methode, die natürlich den Haken hat, dass sie auf der Ebene historischer Klassenbildung verbleibt und nicht den Produktionsprozess des neuen Typs von Kapitalverhältnis analysiert. Bettelheim hat kein zweites Marx´sches „Kapital“ geschrieben. Aber er ist Ökonom, was dazu führt, dass er diese Klassenbildungsprozesse als Teil der Entstehung eines neuen ökonomischen Verhältnisses versteht, sozusagen die subjektive Seite der Entstehung einer neuen Gesellschaftsstruktur betrachtet.

Diese Klassenbildung in den Jahren 1928 bis 1941 in der SU ist aus meiner Sicht grandios dargestellt. Auf der Seite der Beherrschten sind das vor allem der Prozess der Vernichtung der Einzelbauernwirtschaft, das berühmte „Bauernlegen“, wie Marx es in der Darstellung der ursprünglichen Akkumulation nennt, und ihre „Umwandlung“ in die neuen Lohnarbeiter der Fabriken und auf dem Land. Die Zwangskollektivierungen in Kolchosen und Sowchosen und die brutale Militarisierung bei der Errichtung des Fabriksystems (Fabrikdespotie) gehen einher mit Hungersnöten, elenden Bedingungen in den Städten. So weit also der ursprünglichen Akkumulation im England des 16. Jahrhunderts nicht unähnlich.

Die gewaltsame soziale Umstrukturierung in den 1930er-Jahren hatte jedoch eine Reihe sowjetischer Spezifika, die sie von der in anderen Jahrhunderten unterschied: Das waren u. a. der Massenterror (Krieg gegen die Bauern, sagt Bettelheim) und die Zwangsarbeit, darunter die Sträflings- und „Lagerarbeit“. Die Arbeitslager waren bald ein entscheidender Bestandteil der Gesamtproduktion und für den Staat wichtige Produktionsstätten, namentlich im Bergbau, in der Schwerindustrie, der Forstwirtschaft und auf dem Bau. Aber auch Forschung und Entwicklung bekam in speziell für Fachleute eingerichteten Gefängnislagern – den berüchtigten Scharaga – Zwangscharakter. Nicht nur inner-, sondern auch außerhalb der Arbeitslager bekam die Arbeit Zwangscharakter, Gewerkschaften wurden Teil der Herrschaft, das Arbeitsgesetzbuch wurde zum Strafgesetzbuch. Die demografische Folge: Rund 20 Millionen Tote. Die Folgen für die Arbeiter, die – ich sage es mal in meinen Worten – auf diese Weise den Anschluss an die internationale Arbeiterbewegung nie mehr finden konnten, war ein historisches Drama.

Diese auf staatliche Massenrepression und Terror gründende militärische Organisation des Klassenbildungsprozesses sollte allerdings ihre von Stalin beabsichtigte Wirkung auch nicht verfehlen. Die Produktion konnte in wenigen Jahren gesteigert werden, namentlich in der Schwerindustrie; die Löhne dagegen sanken. Die Arbeitsproduktivität blieb niedrig. Der „Ausbeutungsgrad“ war also angesichts einer extensiven Ausbeutung und geringster Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft in den Lagern enorm.

 

Dritte kritische Bemerkung: Bettelheim bezeichnet dies alles als „Niederlage der Arbeiterklasse“ und vergisst m. E. an dieser Stelle, dass er den historischen Prozess des Übergangs vom zaristischen Russland zum Kapitalismus beschreibt, der für die neuentstehende Arbeiterklasse durchaus fortschrittliche und lebensverbessernde Entwicklungen, allerdings unter neuen, z. T. despotischen Ausbeutungsverhältnissen brachte. Mir scheint es angesichts der Bildungs- und Qualifizierungskampagne von Massen von Bauern und Analphabeten, die zu einer Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft führte, zu einer Arbeiterelite, zur Privilegierung eines Teil der Arbeiter (Stachanow-Bewegung), sogar zum Aufstieg in die herrschende Klasse, angebracht, auf den widersprüchlichen Charakter und die widersprüchlichen Folgen dieser Diktatur hinzuweisen. Indem Bettelheim solche Entwicklungsmomente nur am Rande erwähnt, muss er seine Erklärungen, woher die Zustimmung zu diesem System kam, allein auf Angst und eine russisch-nationalistische Ideologie gründen. Das ist zu wenig. In der Realität gab es – wie immer – auch Gewinner dieser Industrialisierung, auch unter den Arbeitern (weniger wohl unter den Bauern?!).

 

Die Konstituierung der herrschenden Klasse, die er anschließend beschreibt, war nach Bettelheim ein nicht weniger brutaler Prozess, gleichfalls von Massenrepressionen und Terror begleitet. Beeindruckend seine Schilderungen des ewigen Wechsels der politischen Linie, mit der Folge einer ständigen Existenzbedrohung für alle, die einen Posten bezogen hatten, von dem sie nach kurzer Zeit „liquidiert“ wurden. … eine Erfahrung, die einen untertänigen … Kadertypus schuf, der – so drängt es sich dem Leser auf – bis zum Ende der UdSSR seinen Charakter nicht geändert hat.

Die wesentlichen Vorgänge in den 1930er-Jahren, die – nach Bettelheim – am Ende zu einer herrschenden Klasse mit besonderem Aussehen führten, waren: Die Schaffung eines neuen Typs von Partei- u. a. Kadern aus den unteren Schichten (was er mit einer Kulturrevolution verbindet); der permanente „Austausch“ von Kadern aller Ebenen, um sie den Erfordernissen einer staatlichen Planung, nicht nur der Wirtschaft, anzupassen, und die Ausschaltung aller alten Kader in der Partei, die dem autokratischen Staats- und Parteiaufbau Stalins im Wege standen. Letzteres war so einfach nicht herzustellen, die Oligarchen, wie Bettelheim jene Kader nennt, die sich als führende Gruppe innerhalb des herrschenden Blocks bereits etabliert hatten, wehrten sich gegen diese Alleinherrschaft. Am Ende der 1930er-Jahre sei eine Herrschaftsstruktur etabliert gewesen, in der ein kleiner Führungskreis die politische Herrschaft („Agenten des Kapital-Eigentums“) diktatorisch über die herrschende Klasse der „Agenten des Kapitals als Funktion“ als auch über die Volksmassen ausübt. (Funktionsteilung des Gesamtkapitalisten, Anlehnung an Marx!)

Anders als bei der Darstellung der Konstituierung der Arbeiterklasse verfährt Bettelheim hier viel analytischer und beschreibt klarer die rationalen Hintergründe für dieses Klassenkonstrukt. Demnach waren es die historischen Umstände in der SU, die es nötig machten, die Einheit der herrschenden Klasse mittels Terror und Zwang herzustellen; Privilegien reichten nicht aus, die zentrale Planwirtschaft schuf diese Einheit auch nicht im Selbstlauf. Es brauchte eine politische zentrale Führung, die die Widersprüche der Interessen innerhalb der herrschenden Funktionsklasse tilgt.

Ein spannendes Buch, das eine Fülle von empirischen Daten über die Wirtschaft, die Lebenslage der Arbeiter und Bauern, die politischen Auseinandersetzungen in den 1930er-Jahren in der SU enthält. Ein Buch, das zur Diskussion anregt und an dem Mensch nicht vorbeikommt, wenn er oder sie sich im nächsten Jahr in die Frage einmischen will: Was war die Oktoberrevolution in Russland?

 

Zwei Widersprüche, die in der Diskussion zu meinem Beitrag geäußert wurden, und ein paar Gedanken im Nachhinein

 

Zu meinem großen Erstaunen wurde von mehreren Diskutant/innen Bettelheims Einordnung der russischen Revolution als „kapitalistische Revolution“ nicht so verstanden oder wenig interessant und bedeutend gefunden; einige lehnten diese Auffassung mit Bezug auf den anfänglich sozialistischen Charakter ganz ab. Ein Diskutant machte den Vorschlag, den zwar bürgerlichen, aber nicht kapitalistischen, Charakter der Oktoberrevolution zu betonen. Aber zu einer wirklichen Diskussion kam es nicht. Das verwundert mich sehr, denn wenn man Bettelheim folgt, dann wurde 1.) 1917 in der UdSSR nicht das „Jahrhundert der Extreme“ eingeleitet, sondern das Jahrhundert, in dem der Kapitalismus sich in bisher völlig unbekannten Formen entwickelte, die einige gemeinsame Merkmale haben. Und 2.) enthält seine Auffassung die „Botschaft“, dass 1917 weder die Bauernaufstände, noch die Sowjets eine sozialistische Perspektive ermöglicht hätten. Nach seiner Auffassung waren sie Teil eines pluralen, kapitalistisch-revolutionären Prozesses, bei dem sich der von den Bolschewiki favorisierte Weg durchgesetzt hat. Bettelheim diskutiert nicht, ob eine andere Variante sich hätte durchsetzen können, warum sie es nicht tat und ob mit ihr ein „besserer“ Weg der Klassenbildung eingeschlagen worden wäre? Ist das heute nicht eine Diskussion wert?

Folgt man Bettelheim, so hätte das für unsere Bewertung aktueller Revolutionen und Bewegungen entscheidende Konsequenzen: Wir müssten nämlich genau gucken, ob es sich um emanzipatorische Bewegungen „zum“ oder „im“ Kapitalismus handelt oder um Bewegungen, die über kapitalistische Verhältnisse hinausweisen. Anders gesagt: Wenn wir Bettelheims Vorschlag folgen, gelingt es uns vielleicht, nicht immer gleich sozialistische Bewegungen dort entdecken zu wollen, wo es sie gar nicht gibt.

 

Der zweite heftige Widerspruch wurde geäußert, weil ich für die Zeit der Stalin´schen Revolution einige positive Entwicklungsmomente annehme. Das ist eine sehr grundsätzliche Problematik und hängt davon ab, ob Mensch überhaupt Entwicklung respektive „widersprüchlichen“ Fortschritt in der Geschichte sieht. Im Zusammenhang mit Bettelheim habe ich kritisch angemerkt, dass er, wenn er diese Momente nicht berücksichtigt, auch keine ausreichende Erklärung dafür findet, warum sich nicht nur international eine derartige Begeisterung für die sowjetische Entwicklung breitmachen konnte.

Meine Erfahrung mit der Aufarbeitung der DDR hat mir rasch gezeigt, dass ich mit der ausschließlichen Darstellung von Diktatur und Repression weder dem Herrschaftssystem, noch den Erfahrungen der Menschen gerecht werde. Anders als die Totalitarismusforschung, kommt man mit der Sozialgeschichte als Methode den verschiedensten Seiten dieses Herrschaftstyps weitaus näher, und dazu gehört es auch, seine „Modernität“ zu begreifen. Aber vielleicht ist auch das eine ausführliche Diskussion wert? Bettelheim sei Dank!

 

Renate Hürtgen

Berlin, 12.12.2016


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