Medienkritik zu "Das andere 1968"
Zurück zum Produkt„Contraste“ 07-08 2022 | NR. 454-455
Das ganz ander 1968
Der Göttinger Soziologe Peter Birke interviewt in diesem Buch die Arbeitsund Umweltwissenschaftler Wolfgang Hien (*1949) und Herbert Obenland (*1950). Gegenstand ist vor allem ihre Zeit als Lehrlinge bei BASF in Ludwigshafen Mitte der 1960er Jahre und ihr direkt daran anschließender Aufenthalt auf dem so genannten Speyer-Kolleg, an dem sie dann Mitte bzw. Ende 1972 das Abitur ablegen.
Beide kommen aus der Provinz, Hien aus dem Saarland, Obenland aus dem Schwäbischen. Die BASF ist für sie zuerst die moderne, »weite Welt«, die dann allerdings schnell auch ihre zutiefst autoritären Strukturen zeigt. Beide engagieren sich, vom kirchlichen Milieu herkommend, in der sozialistischen Lehrlingsbewegung und knüpfen Kontakte zu Linken in Ludwigshafen und Heidelberg. Untergebracht sind sie – und das wird dann in Speyer sehr ähnlich und wichtig sein – in einem Jugenddorf. Dort leben hunderte Lehrlinge der BASF wie in einer Art Jugendherberge zusammen. Sie haben dadurch vielfältige Möglichkeiten, sich zu treffen, sich auszutauschen und zu organisieren.
Mit Anfang 20 gehen die beiden (Hien muss erst noch in einem Vorkurs die mittlere Reife nachholen) an das Speyer-Kolleg. Dort gibt es schnell Konflikte um die Lehrinhalte (etwa den Religionsunterricht) und allgemein Fragen der Demokratie und Mitbestimmung (»Alles drehte sich um die Frage: ›Wer bestimmt hier was‹«, S. 153). Der Konflikt dort endet mit einer Niederlage. Die Zeit am Kolleg bzw. in Speyer, in der sie auch Kontakte zu Betrieben in Speyer haben, eine kleine Zeitung mitherausgeben, und eine, wie Birke es nennt, »Barfuß-Soziologie« betreiben, ist für das weitere Leben der beiden »Arbeiterintellektuellen« trotzdem wichtig.
Beide gehen nach dem Abitur erst einmal mit politischer Motivation im Rahmen der APO für einige Jahre in den Betrieb, den sie dann Ende der 1970er wieder verlassen; Obenland etwa arbeitet bis 1981 bei Degussa in Frankfurt/Main. Die Themen Gesundheit, Gesundheitsschutz und Arbeit/Betrieb beschäftigt die beiden ihr ganzes Leben: Hien als politischen Bildner und prekären Wissenschaftler, Obenland als Inhaber eines kleinen Forschungsbüros.
Jenseits der Ereignisgeschichte geht es immer wieder um Erfahrungen im Betrieb, und wie diese verarbeitet werden und das weitere Leben prägen. Das Bedürfnis nach Emanzipation besteht bei den beiden bis heute. Ein zweites Metathema ist das Verhältnis von Wissen, Bildung und Selbstorganisation. Wie entsteht Wissen, wie kann es »angewendet«, und wie ist das mit der Herkunft der beiden verknüpft?
»Das andere 1968« ist ein spannendes, persönliches Buch — und es ist nicht zuletzt Zeugnis von und Ergebnis der über 50-jährigen Freundschaft zwischen Hien und Obenland. Birke und die beiden stellen ein lebendiges Stück Sozial- und Zeitgeschichte zur Verfügung, das absolut lesenswert ist.
Bernd Hüttner
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