Medienkritik zu "Erich-Mühsam-Revue"
Zurück zum Produkt„Standard“, 25.3.2017
Sich fügen heißt lügen
Der Berliner Verlag Die Buchmacherei besteht aus einem kleinen Kreis von Aktivisten aus der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Eine Beschäftigung mit Erich Mühsam (1878 Berlin – ermordet Juli 1934 im KZ Oranienburg) war irgendwie naheliegend. Der Anarchist Mühsam war Schriftsteller und als politischer Aktivist an der Münchener Räterepublik beteiligt. Maren Rehmann und Dieter Braeg haben aus den Texten des Revolutionärs eine Revue mit 15 vertonten Gedichten zusammengestellt. Ergänzt wird die Audio-CD um ein Begleitheft zum Mit- und Nachlesen sowie mit weiteren Texten und Informationen von und über Mühsam. Bei vielen Texten aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts fühlt man sich sofort in das Jetzt gestoßen. Etwa wenn im Lumpenlied der Arme beklagt: „Oh, wäre ich doch ein reicher Mann, der, ohne Mühe stehlen kann.“ Nachsatz: Für die „Buchmacherei“ ist es Ehrensache, nicht über Amazon zu verkaufen. Mühsam hätte ja auch keine Freude mit Amazon gehabt.
Thomas Neuhold
„AUGUSTIN“ (Wien) Nr. 425
Was von den Erich-Mühsam-Songs hängen bleibt
Wir wollen im Leben versinken!
Jeden Abend werfe ich/eine Zukunft hinter mich, die sich niemals mehr erhebt / denn sie hat im Geist gelebt / Neue Bilderr werden, wachsen; / Welten drehn um neue Achsen, / werden, sterben, lieben, schaffen. /Die Vergangenheiten klaffen. / Tobend, wirbelnd stürzt die Zeit / in die Gruft. – Das Leben schreit! Erich-Mühsam-Lyrik, von Maren Rahmann vertont, zu hören auf einer CD mit dem Titel «Doch ob sie mich erschlügen – sich fügen heißt lügen». Der Tonträger und die Liveauftritte der in Wien lebenden Schauspielerin und Sängerin, zusammen mit dem Musiker Didi Disko und dem Mühsam-Verehrer Dieter Braeg, können als ein Beitrag zur Anarchismus-Renaissance durchgehen, die laut Feuilletonisten unter der verzweiflungsanfälligen Linken grassiert.
14 Mühsam-Gedichte hat Rahmann vertont. Das oben zitierte ist ihr Favorit, weil es in seiner poetischen Rätselhaftigkeit keinerlei Kampfrezepte liefert, sondern nachdenklich über das Wie des Existierens macht. Nein, sie fantasiere im Prozess des Vertonens solcher Lieder nicht eine Zukunft herbei in der die in Bewegung Geratenen ihre Mühsam-Songs auf den besetzten Plätzen singen, meint sie im Augustin-Gespräch; ihr genüge die Hoffnung, dass markante Passagen aus den Mühsam-Texten bei den ZuhörerIinnen quasi «hängenbleiben» und als neue Handlungsdevise in ihr zukünftiges Leben integriert werden. «Sich fügen heißt lügen» – das sei zum Beispiel so ein zivil-courageförderndes Motto.
Sie liebe an Mühsam, dass er in vielen seiner Texte die Vision einer Einheit von Leben, Genießen und Kämpfen im Jetzt ausstrahle. Im «Trinkerkerlied» geht es nicht um eine Oktoberfestsaufpropaganda, wie es oberflächlich aussieht, sondern um den Imperativ des Bohemiens: «Wir wollen im Leben versinken!» So meilenweit das von der lebensfeindlichen KPD-Direktive «Ein denkender Arbeiter trinkt nicht» entfernt ist und so suspekt den Kommunstinnen seine Vision der Einheit von Intellektuellen und Geächteten («Landstreicher, Huren, Verbrecher und Bettler») war – Mühsam hat sich doch nach einer Partnerschaft zwischen Anarchistinnen und Marxistinnen gesehnt Auch das ist eine Eigenschaft, die von Rahmann und Braeg geteilt wird. Ihr Mühsam-Projekt empfinden sie als einen Beitrag gegen die Zerspargelung der Linken.
Davon kann auch Dieter Braeg, der in der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung politisiert wurde, ein Lied singen. Die Redaktion der KP-nahen Literaturzeitung «Kürbiskern» meckerte über «anarchistische Tendenzen» eines Braeg-Textes. Der „Kürbiskern“ existiert nicht mehr, aber Mühsam, der sinnlichste Führer der Münchner Räterepublik, feiert in den Köpfen vieler Unzufriedener fröhliche Wiederaufstehung.
R. Sommer
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