Medienkritik zu "Ist das System Tönnies passé ?"

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express, 12/2022

Über Widerstand gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur

Von Ulrich Maatz

Die Holding der Familie Tönnies ist mit Abstand der größte Fleischverarbeitungskonzern in
Deutschland. In die öffentliche Kritik geraten ist er im Frühjahr 2020 wegen 1.500 Corona-In-
fektionen in seiner Schlachterei am Stammsitz Rheda-Wiedenbrück. Erst dieses Ereignis hat
dazu geführt, dass es eine breitere Empörung über die unmenschlichen Arbeits- und Lebens-
bedingungen der migrantischen Arbeiter:innen in den Großschlachtereien gibt – und als eine
staatliche Reaktion die Verabschiedung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes.
Der »Jour Fixe Gewerkschaftslinke« beschäftigt sich schon seit Jahren intensiv mit diesem
Thema und hat Initiativen gegen das »System Tönnies« unterstützt. Er hat nun
einen Folgeband zu dem 2020 erschienenen Buch »Das System Tönnies« herausgegeben, in
dem nicht nur die Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen in der Fleischindustrie behandelt
werden, sondern auch die Perspektiven der Fleischindustrie, der Landwirtschaft und der Tier-
rechte.
Auf gut 200 Seiten finden sich über 30 Beiträge, die zum großen Teil schon an anderer
Stelle veröffentlicht wurden. Im ersten Teil des Buches sind Berichte abgedruckt, die die
Situation bei Tönnies (und darüber hinaus in der Fleischindustrie insgesamt) vor dem Inkraft-
treten des Arbeitsschutzkontrollgesetzes beschreiben. Im zweiten Teil geht es um die Umset-
zung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes und (erste) Auswirkungen. Im dritten Teil sind Beiträ-
ge unter der Überschrift »Fakten. Ausblicke. Perspektiven« versammelt.
Dass hier Texte nachgedruckt wurden ist kein Nachteil – im Gegenteil: Die Zusammenstel-
lung ermöglicht einen guten Einblick in die unterschiedlichen Aspekte dieser besonderen
Ausbeutungspraxis.
So vermitteln z.B. die Interviews mit dem Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich, mit Inge
Bultschnieder von der »Interessengemeinschaft Werkfairträge« aus Rheda-Wiedenbrück und
mit Freddy Adjan, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft NGG, ein an-
schauliches Bild der Arbeits- und Lebensbedingungen von Werkvertragsbeschäftigten in der
Fleischindustrie. In diesen und anderen Beiträgen wird deutlich, mit wie viel Zivilcourage
sich (zunächst) Einzelne nicht nur gegen die miesen Arbeitsbedingungen, sondern auch gegen
die Umweltverschmutzung und Tierquälerei des »System Tönnies« gewehrt haben ‒ ob am
Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück, in Weißenfels in Sachsen-Anhalt oder in Kellinghusen in
Schleswig-Holstein. Dort wurde sogar der amtierende Landrat des Kreises Steinburg/Itzehoe,
Torsten Wendt, auf Druck der Fleischlobby von der Mehrheit des Kreistages abgewählt, nach-
dem er wegen der Missstände mit der Schließung der Schlachterei gedroht hatte und sich
express Nr. 12/2022
nicht von Tönnies hatte »einnorden« lassen. Der kurze Beitrag von Dieter Wegner dazu ist ein
Lehrstück, wie politische Erpressung funktioniert und demokratische Strukturen ausgehebelt
werden. Die beiden Beiträge über den zweitgrößten Tönnies-Standort in Weißenfels belegen
am Beispiel der dortigen Auseinandersetzung um den Emissionsschutz und um Abwasserpro-
bleme, wie Umweltrecht und rechtsstaatliche Standards umgangen bzw. ignoriert werden.
Die Beiträge im zweiten Teil des Buches befassen sich mit dem Arbeitsschutzkontrollge-
setz und seinen bisherigen Auswirkungen. Es ist am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Wesent-
licher Inhalt ist das Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in Betrieben der Fleischindus-
trie mit mehr als 50 Beschäftigten. Das ist zunächst ein politischer Erfolg aller, die gegen die
Überausbeutung in der Fleischindustrie protestiert haben. Allerdings zeigen die ersten Berich-
te über die Umsetzung des Gesetzes, dass die Auswirkungen für die – jetzt direkt bei den
Schlachtereien beschäftigten – Arbeiter:innen nicht immer positiv sind. So hat die Reduzie-
rung der überlangen Arbeitszeiten teilweise zu einer weiteren Steigerung der Arbeitshetze ge-
führt. Auf der anderen Seite sind die Chancen für gewerkschaftliche Organisation und Durch-
setzung tariflicher Verbesserungen deutlich gestiegen.
Neben diesen beiden Themenschwerpunkten bietet dieser Sammelband aber noch mehr,
beispielsweise: Analysen, wie es überhaupt zu solch haarsträubenden Verhältnissen kommen
konnte (Ferschl/Krellmann: Deutschland einig Dumpinglohnland) und wie sich die Strukturen
der Schlachtbranche aktuell verändern (Hüttenschmidt); Erklärungsansätze, warum das Agro-
business Treiber der Corona-Pandemie und anderer Seuchen ist (Stache/Bernhold: Super-
spreader Fleischkapital) sowie Ansatzpunkte für eine andere landwirtschaftliche Produktion
(Kock-Rohwer und Piachnow-Schmidt, Ideenwerkstatt Kellinghusen).
Dieter Wegner schreibt im Vorwort für die Herausgeber: »Es haben sich in den letzten Jah-
ren sehr unterschiedliche Akteure gegen das System Tönnies zusammengefunden: aus der Zi-
vilgesellschaft, Initiativen gegen das System Tönnies, aus beiden Kirchen, Gewerkschafter,
Tierrechtler, Landwirte, Wissenschaftler. Auch wenn zwischen ihnen Unterschiede in der
Herangehens- und Sichtweise bestehen, sie eint das Ziel: Das System Tönnies muss weg!
Wenn dieses Buch II dazu dient, das Interesse am Thema aufrechtzuerhalten, hat es seinen
Zweck erfüllt.«
Auch wenn es leider nicht immer editorische Erläuterungen zum Hintergrund und den Au-
tor:innen der einzelnen Beiträge gibt – das Buch erfüllt seinen Zweck, ist in seiner Vielfalt
sehr anregend und ein gutes Beispiel für politische Aufklärung – insbesondere zum konkreten
Zusammenhang zwischen Ökonomie und Ökologie. Meine Empfehlung lautet daher: Unbe-
dingt lesen!

  • Ulrich Maaz ist langjähriger ver.di-Aktiver aus Hamburg.

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