Medienkritik zu "KlassenLos – Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten"

Zurück zum Produkt

„Kontrapolis“ v. 18.10. 2023

Einige Gedanken zur Buchvorstellung „Klassenlos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten“

Von Peter Nowak

Am 16. Oktober fand im Stadtteil Laden Lunte in Neukölln eine gut besagte Offene Versammlung statt. Eingeladen hatten mit Anne Seeck, Gerhard Hanloser und Peter Nowak drei der Herausgeber*innen des in der Buchmacherei erschienenen Sammelbands „Klassenlos Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten“.
Einige Autor*innen des Buches hielten kurze Inputs, Markus Staiger, der in dem Buch für das Bündnis „Heizung, Brot und Frieden“ interviewt wurde, sowie Aktivist*innen
der Offenen Versammlung „Der Preis ist heiß“ und der Kiezgruppe in der Lunte. Es ging dabei um die Frage, warum der heiße Herbst gegen Inflation im letzten Jahr weitgehend ausgefallen ist.
Deutlich wurde, dass sowohl der „Preis ist heiß“ als auch „Heizung, Brot und Frieden“ bei allen politischen Unterschieden in der Ausrichtung eine Gemeinsamkeit hatten. Beide Gruppen achteten bei der Terminierung ihrer Protestaktionen im letzten Herbst sehr stark darauf, dass sie vor den Rechten auf der Straße präsent sind. Die Proteste wurden aber nicht darauf ausgerichtet, ob die von der Teuerung Betroffenen, die armen Menschen, überhaupt ein Interesse hatten, deswegen auf die Straße zu geben. Viele haben längst individuelle Überlebensstrategien zur Bewältigung ihres Alltags entwickelt und für Straßenproteste keine Zeit. Diese Kritik führen in dem Buch die langjährigen Erwerbslosenaktivisten Harald Rein und Hinrich Garms weiter aus. Auszüge aus einen Text von Rein hat Anne Seeck in die Diskussion eingebracht. Die Genoss*innen von“Der Preis ist heiß“ sahen ihre Arbeit trotz der ausbleibenden Massenproteste nicht als gescheitert an. So ist Berlin einer der wenigen sozialrevolutionären Treffpunkte gegen die Teuerung in Deutschland. Sie haben auch einen sozialrevolutionären Block auf der Revolutionären 1. Mai-Demonstration 2023 organisiert. Die Initiative arbeitet weiter, organisiert regelmässig offene Treffen und mobilisiert mit Flyern, Plakaten und Aufklebern Wer für einen anarchistischen/sozialrevolutionären Ausweg aus Teuerung und kapitalistischer Krise. Kooperation mit politische Parteien lehnt „Der Preis ist heiß“ aus ihren antistaatlichen Selbstverständnis ab.

Mit oder ohne Sahra gegen die Teuerung?

Einen anderen Ansatz hat das Bündnis „Heizung, Brot und Frieden“. Dort haben auch Vertreter*innen politischer Parteien mitgearbeitet, aus der LINKEN, aber der DKP und anderen linken Parteien. Markus Staiger stellte allerdings gleich zu Beginn seines Inputs klar, dass die Überschrift über dem Interview „Mit Heizung, Brot, Frieden und Sahra gegen die Teuerung?“ nicht von ihm kommt. Staiger sieht also in der sozialkonservativen Sahra Wagenknecht keinen Mobilisierungsfaktor. Er betonte allerdings auch, dass die Verwerfungen und Diskussionen in und um die Linkspartei auch das Bündnis „Heizung, Krieg und Frieden“ prägten. Nach einer vielbeachteten und kontrovers diskutierten Auftaktveranstaltung Anfang September 2022 vor der Parteizentrale der Grünen in Berlin, ließ es die Mobilisierungsfähigkeit schnell nach. Eine Kundgebung in Lichtenberg, einem Bezirk, der nicht als Hochburg der von Wagenknecht und Co. kritisierten woken Linken gilt, wurde zum Flop, weil sich außer den Organisator*innen kaum jemand beteiligt. Das Bündnis hat sich in den letzten Monaten verkleinert. Staiger selber hat heute größere Distanz zu Heizung, Brot und Frieden als noch zu Seiten des Interviews.

Mit Plakaten und Wandzeitungen mobilisieren

Eine grundsätzliche Kritik an den linken Mobilisierungsversuchen gegen die Inflation übte Gerdi von der Kiezgruppe in der Lunte. Er kritisiert die stark akademisch geprägte linke Szene, die kaum noch Kontakt mit den armen Menschen habe. Der Stadtteilladen Lunte ist seit Jahren ein Treffpunkt von aktiven Erwerbslosen, die dort auch lange ein Erwerbslosenfrühstück organisierten, wo die Betroffenen auch Begleitung für ihre Termine im Jobcenter bekommen können. Allerdings habe die Erwerbslosengruppe in der Lunte zuletzt das Niveau einer Selbsthilfegruppe erreicht, so Verdi. Mit der Kiezgruppe haben einige Aktivist*innen einen neuen Aufschlag gemacht. Gerdi zeigte sich skeptisch über immer neue schlecht besuchte Demonstrationen, die dann auch kaum jemand wahrnimmt. Er schlug vor, mit Plakaten und Wandzeitungen im Stadtteil präsent zu sein und dort auch über Beratungsstellen zu informieren. In den letzten Monaten organisiert die Kiezgruppe Menschen, die sich mit den bürokratischen Problemen bei der Nutzung des Sozialtickets im Öffentlichen Nahverkehr herumschlagen müssen. Diese Probleme sorgen dafür, dass viele der Menschen, die wenig Geld haben, 60 Euro Nachlösegebühr bezahlen müssen. Es gäbe an den Zahlstellen lange Schlagen. Doch kaum jemand sei bereit, sich, statt zu zahlen, an den Protesten zu gegen die bürokratischen Schikanen rund um das Ticket zu beteiligen. Anderseits melden sich mehrere Betroffene, als die Stadtteilgruppe in den sozialen Netzwerken anfragte, wer auch wegen dieser Probleme mit den Sozialticket 60 Euro zahlen muss. Es gab gemeinsame Besuche bei der Zahlstelle der BVG. Das Fazit der Berichte der Offenen Versammlung: es gib weiter Proteste von Menschen, die sich gegen ihre Entrechtung wehren, aber der große Widerstand bleibt aus.

Deutsche Wohnen enteignen – oder wie sich Hoffnung in Enttäuschung verwandelt

Sehr anschaulich berichtete ein junger Mann auf der offenen Versammlung über sein Engagement bei der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ (DW Enteignen), die Hoffnungen der ersten Wochen als die Initiative im Coronajahr 2021 ab Ende Februar die Straßen Berlins prägte. Ihre bunten Fahnen und ihre Plakate waren bald auch in den Berliner Stadtteilen nicht zu übersehen, die nicht als links galten. Es gab in dieser Zeit immer wieder Konzerte, Kundgebungen, Demonstrationen und dann als Höhepunkt den großen Erfolg – am 26. September 2021 stimmten 59,1 % der Abstimmungsberechtigen für die Ziele von DW-Enteignen. Doch zwei Jahre später ist keine einzige DW-Wohnung wieder in kommunales Eigentum überführt worden. Den Staatsapparaten gelang es mit Hinhaltetricks, mit Taktieren etc. die Initiative ins Leere laufen zu lassen. Der junge Mann spricht von einer großen Enttäuschung, nach der Hoffnung gemeinsam und mit großer Mehrheit eine emanzipatorische Forderung im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt zu haben. Und die größte Enttäuschung ist für ihn, dass es keinerlei Großdemonstrationen gab, auf denen die Menschen, die für das Volksbegehren gestimmt haben und nun die Umsetzung einfordern. Und noch eine weitere ernüchternde Feststellung machte der DW-Aktivist. Er habe in der Mobilisierungsphase, als es galt, von Haustür zu Haustür die Ziele des Volksbegehrens in Wohnvierteln bekannt zu machen, wo sonst nie linke Aktivist*innen auftauchen, mit mindestens 100 Menschen Gespräche geführt über die die Wohnungspolitik und über ihre Vorstellungen, was sich da in ihren Interesse ändern sollte. Er habe nur ganz selten den Eindruck gehabt, dass die Menschen sich überhaupt mit diesen Fragen auseinandersetzen. Dieser ernüchternde Bericht hat mich am Stärksten beeindruckt, weil er die Schwierigkeiten deutlich macht, mit denen heute und auch in Zukunft linke Aktivist*inenn konfrontiert sind. Da ist ein Teil der Bevölkerung, der sich völlig aus der gesellschaftlichen Diskussion ausklinkt, die auch dann nicht mehr protestiert, wenn es direkt um die eigenen Interessen geht. Der Teil dieser Menschen wird zunehmen, wenn die kapitalistischen Staatsapparate weiterhin ohne Widerstand selbst ein Volksbegehren mit fast 60 Prozent ignorieren können, weil davon wenn auch nur geringfügig die Verwertungsbedingungen des Immobilienkapitals angegriffen werden.

Linke Niederlagen – rechte Erfolge?

Die ernüchternden Erfahrungen des DW-Enteignen-Aktivisten korrespondieren mit ähnlichen Erfahrungen, die in den Jahren 2011 – 2015 Hunderttausende Menschen in den Ländern Südeuropas vor allem in Spanien, Italien und Griechenland machen mussten. In dem Kapitel heißt es:
„Hier hatte eine Generation von jungen Aktivist*innen die Erfahrung gemacht, dass die Macht des Kapitals bürgerlich-demokratisch gewählte Regierungen ignorieren kann. Diese Erfahrungen haben damals in vielen Ländern der EU Hunderttausende Menschen gemacht. Sie haben Massendemonstrationen gegen die Austeritätspolitik organisiert, die oft brutal niedergeschlagen wurden. Sie haben sich mit Streiks und Fabrikbesetzungen gegen die Zumutungen des globalisierten Kapitalismus gewehrt. Doch sie sind gegen die Macht des EU-Kapitals, deren Machtzentrum nicht zufällig viele in der deutschen Politik sahen, nicht durchgekommen.“
Höhepunkt und schnelle Niederlage dieser europaweiten Sozialproteste war der Sommer 2015, als sich die neu ins Amt gewählte linkssozialdemokratische Syriza-Regierung mit großer Unterstützung der Bevölkerung gegen die Austeritätspolitik der EU-Troika unter deutscher Führung wehrte und schließlich kapitulierte. Danach begann der Aufstieg der Rechten überall in Europa. Die Bewegung DW Enteignen war auf Berliner Verhältnisse heruntergebrochen ebenso eine Bewegung, die vielen Menschen in Berlin Hoffnung machte. Könnte die Enttäuschung über die Nichtumsetzung auch den Aufstieg der Rechten weiter beschleunigen?

Ein Buch als kollektiver Organisator von Diskussionen

Aber könnte die Entwicklung nicht auch anders verlaufen, wenn die gesellschaftliche Linke dafür sorgt? Da ergäben sich gerade für DW Enteignen einige Fragen. Wurde zu voreilig suggeriert, dass sich im Kapitalismus Reformen im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung mit einem Volksbegehren durchsetzen lassen? Wurde die Macht des Kapitals ud siener Staatsapparate unterschätzt? Besteht der eigentiche Erfolg von DW Enteignen nicht darin,dass Konzept der Sozialisierung von Wohnkonzernen in Berlin überhaupt wieder auf die Tagesordnung gesetzt und mehrheitsfähig gemacht zu haben? Bestünde die Aufgabe einer gesellschaftlichen Linken, nicht nur DW Enteignen, nicht darin, über eine Organisierung zu reden, die sich dann auch die Aufgabe stellt , die mehrheitsfähigen linken Forderungen durchszusetzen, damit wir nicht immer wieder entmutigend vor den Toren von Staatsapparaten wie den Arbeitsgericht im Falle des Arbeitskampfs der Mall of Berlin oder eben der verschiedenen Kommissinen des Berliner Senats bei der Abwicklung des DW Enteignen Volksbegehrens stehen? Wäre eine Aufarbeitung dieser Niederlagen nicht der erste Schritt, um sich auf neue Kämpfe vorzubereiten, die auch auf den Erfahrungen von DW Enteignen aufbauen, den positiven wie den negativen? Wären dafür nicht solche offenen Versammlungen und Diskussionen wie am 16. Oktober in der Lunte ein wichtiger Bestandteil? Deswegen ist „Klassenlos Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten“ auch kein historisches Buch, in dem nachgelesen werden kann, welche Kämpfe arme Menschen geführt, manchmal gewonnen und oft verloren haben. Nein „Klassenlos Sozialer Widerstand …“ ist ein sehr aktuelles Buch. Es ist eine kollektive Arbeit von Menschen, die damit Diskussionen anregen und künftige Kämpfe vorbereiten wollen. Klassenlos ist der große Anspruch. Weitere Diskussionen zum und mit dem Buch sind in Planung .Am 1. November 2023 laden die Herausgeber*innen in die Beratungsstelle der Berliner Mieter*innengemeinschaft in der Sonnenallee 101 (Berlin Neukölln) zu einer weiteren Diskussionsveranstaltung.

Im Einladungstext heißt es:

Vor 20 Jahren am 1.11.2003 fand die Großdemonstration gegen Sozialkahlschlag mit mehr als 100 000 Teilnehmer*innen in Berlin statt. Diese Demo war in eine Vielzahl von Aktivitäten gegen Sozialabbau eingebettet, deren Höhepunkt sie war. Wir wollen an dieses Ereignis erinnernd und zurückblickend den Zustand der gegenwärtigen Linken und ihr Verhältnis zum sozialen Protest analysieren.


Zurück zum Produkt