Medienkritik zu "Markt zerfrisst Gesundheitswesen! - Stimmen aus einem zornigen Bereich"

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„nd“ 10.12. 2020

»Dieses fürchterliche Fabrikmäßige abschaffen«

Wie arbeitet ihr? – Das ist die verbindende Frage, die der Politologe (und frühere Werkzeugbauer) Klaus Dallmer 14 Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen stellt. Unter ihnen sind Krankenschwestern, Medizinisch-Technische Radiologieassistenten, Fachkrankenpflegekräfte verschiedener Richtungen, zwei Ärzte und drei Verdi-Mitarbeiter, außerdem Nadja Rakowitz für den Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Mit gewerkschaftlicher Arbeit haben alle zu tun, deshalb ist ihre Wahrnehmung für das, was in den Kliniken oder Pflegeheimen geschieht, noch einmal besonders geschärft.

Wie arbeitet ihr? Wie war das zu Beginn der Berufstätigkeit? Wie hat es sich mit den Jahren verändert? Mit Fragen in diese Richtung beginnen einige der Interviews. Alle Gespräche geben den Befragten Raum, ihre Arbeitssituation ausführlich darzustellen. Darüber hinaus werden Entwicklungen aus der Sicht der Beschäftigten an Krankenbett und OP-Tisch nacherzählt, konkret und plastisch genug, um die sich ergebenden Forderungen an Klinikleitungen und Politik zu verstehen. Für viele der angeschnittenen Themen erweist sich das Format der Interviewsammlung als Vorteil: Wiederholungen sind zwar unvermeidbar, aber die verschiedenen Erfahrungen ergeben am Ende einen umfassenden Einblick in die Praxis der Krankenhäuser.

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„Publik-Forum“ 21-2020

Unser Gesundheitswesen ist krank — auch wenn es in Corona-Zeiten bis jetzt stand­gehalten hat. Der ökonomische Druck schnürt dem Personal die Luft ab. Kran­kenschwestern, Altenpfleger, Ärzte, Ge­werkschafterinnen und Gewerkschafter, viele im Bündnis Krankenhaus statt Fa­brik aktiv, berichten in diesem Inter­viewband über haarsträubende Zustände: Personalnot, Arbeitshetze, Lohndumping und Operationenwettlauf. Als Hauptver­ursacher wird das System der Fallpauscha­len identifiziert, mit dem »Aktionäre Ge­winn aus Kassenbeiträgen« machen. Was viele nicht mehr wissen: Bis Mitte der 1980er-Jahre gab es das sogenannte »Kostendeckungsprinzip«. Das Entscheidende dabei: Gewinne waren verboten. Wie könnte heute die Alternative aussehen? »Die Fallpauschale muss weg und eine vernünftige Personalbernessung muss fest­geschrieben werden«, sagt eine Gewerk­schaftssekretärin. Glaubwürdige Berichte von engagierten Menschen, die zähen Wi­derstand leisten. Unsere Solidarität ist gefragt.

Christine Weber-Herfort


„Express“ 11/2020


Zum Weiterbohren empfohlen

von Stefan Schoppengerd: Klaus Dallmers Gesprächsband aus dem Gesundheitswesen

»Wer die hier versammelten Interviews liest, wird verstehen, wo der Sachverstand des Gesundheitswesens wirklich sitzt.« (S. 5) So eröffnet Klaus Dallmer seinen Gesprächsband »Markt zerfrisst Gesundheitswesen! Stimmen aus einem zornigen Bereich«, erschienen im Verlag Die Buchmacherei. Was von ihm als Kompliment an seine 17 GesprächspartnerInnen ebenso gedacht ist wie als Spitze gegen abgehobenes Expertentum, kann auch als treffendes Urteil über sein Buch gelten. Dallmer hat im Juni und Juli dieses Jahres mit Leuten geredet, die sich für einen Systemwechsel in Krankenhäusern, Psychiatrien und Altenpflege engagieren: Weg vom Primat der Gewinn- und Verlustrechnungen, hin zu einem Gesundheitswesen, dass als unerlässlicher Bestandteil gesellschaftlicher Daseinsvorsorge organisiert ist. Die meisten Interviewten sind als Pflegekräfte oder MTAs in verschiedenen Häusern tätig. Vertreten sind die Unikliniken, die als Hochburgen des Kampfes um Personalbemessung bekannt geworden sind: Schleswig-Holstein, Jena, Düsseldorf und Essen sowie die Berliner Charité. Zwei Kolleginnen aus Berlin arbeiten bei Vivantes, außerdem kommt je eine aus dem psychiatrischen und aus dem Altenpflegebereich zu Wort. Ergänzt werden die Stimmen aus der Pflege durch Mitglieder des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte bzw. des Bündnisses »Krankenhaus statt Fabrik« und hauptamtliche ver.di-Leute. Wer an den Auseinandersetzungen in letzter Zeit näher dran war, wird einige bekannte Namen entdecken.
Einhellig wird der Ökonomisierungsdruck zurückgewiesen, werden die Finanzierung nach Fallpauschalen und die Privatisierung von Einrichtungen abgelehnt. In diesen Forderungen und den allgemeiner gehaltenen Aussagen zu den Entwicklungen der Krankenhausökonomie hätte manche Wiederholung vielleicht durch strengere redaktionelle Eingriffe kürzer gehalten werden können.
Interessant sind die Beiträge aber wegen ihres Detailreichtums. Der Wandel betrieblicher Abläufe, Auswirkungen des Drucks auf Behandlungsqualität wie auf die Psyche der Arbeitenden, sachkundige Kommentare zu Fehlentscheidungen und Alternativen auf kommunal-, landes- und bundespolitischer Ebene und nicht zuletzt Erfahrungen mit unterschiedlichen Mobilisierungsansätzen und innergewerkschaftlichen Konflikten kommen zur Sprache.
So wenig die Schilderungen aus dem medizinischen Alltag geeignet sind, das Zutrauen ins deutsche Krankenhauswesen zu stärken, so sehr ist das Buch in seiner politischen Botschaft ermutigend. Wer sich einen Systemwechsel im Gesundheitswesen vornimmt, hat ein dickes Brett zu bohren, aber die Löcher sind schon nicht mehr zu übersehen. Und diejenigen, denen diese Löcher zu verdanken sind, lassen keinen Zweifel daran, dass sie weitermachen werden.
(StS)


„ver.di Gesundheit & Soziales 3/2020“


Sachverstand spricht

In diesem Buch kommen die wirklichen Expert*innen aus dem Gesundheitswesen zu Wort: Klaus Dallmer dokumentiert 17 Interviews mit Kranken- und Altenpflegekräften, mit Ärzt*innen, Medizinisch-Technischen Assistent*innen und Gewerkschaftsaktiven, die ein detailreiches und differenziertes Bild der Branche zeichnen. Doch sie bleiben nicht bei der Analyse der Ökonomisierung und ihrer Folgen stehen, sondern zeigen durch ihr Handeln auch Wege des Widerstands auf. 

Dallmer sieht die Protestbewegung im Gesundheitswesen als Teil einer größeren gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die »Zurückwendung« der in den vergangenen drei Jahrzehnten erfolgten neoliberalen Wende. Die Gesundheitsbeschäftigten charakterisiert er dabei als Vorreiter, denn sie seien »die ersten, die für ihren Arbeitsbereich die Bestimmung durch die Marktlogik mehrheitlich ablehnen, und dafür bereits die gesellschaftliche Hegemonie in den Köpfen erreicht haben«. Zudem hätten sie mit dem System der Teamdelegierten »eine alte Form der Arbeiterdemokratie (…) neu erfunden«. Es ist dem Herausgeber uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt, dass in den Interviews deutlich werde, »wo der Sachverstand des Gesundheitswesens wirklich sitzt. Und steht und rennt und schwitzt und hebt und hetzt und über die Grenzen der Erschöpfung arbeitet. Dieser Sachverstand wird von der Gesundheitspolitik missachtet, und das schon über Jahrzehnte.« Die Interviewten streiten allesamt dafür, dass sich die Verantwortlichen diese Missachtung nicht länger leisten können. Ihre Einschätzungen und Forderungen zu verbreiten, ist ein verdienstvoller Beitrag dazu.

Daniel Behruzi


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