Zurück zu allen Rezensionen zu Auf dem Weg. Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela

„CONTRASTE“ Nr. 331 / 2012

„Ich weiß mehr über die Kooperative und habe mehr Fragen“

Endlich ist es da – das Buch über die legendäre, seit 45 Jahren bestehende Kooperative Cecosesola in Venezuela. Ein Dach über Hunderten von kleineren und größeren Kooperativen mit Tausenden Mitgliedern, die Zigtausende Menschen vor allem mit Gemüse und Gesundheitsleistungen versorgen.

Im November 2006 waren zwei Kooperativistas in Berlin beim Kongress Solidarische Ökonomie. In der vorigen CONTRASTE Nr. 330 (März 2012) hatten wir bereits einen Auszug aus dem Vorwort des Buches und die Kurzbeschreibung „Cecosesola in Zahlen“ abgedruckt. Das Buch ist eine Zusammenstellung von Texten aus drei Büchern der Kooperativistas, ergänzt durch die überarbeitete Fassung des CONTRASTE-Beitrags „Gemeinsam können wir es schaffen“ (Nr. 300 im September 2009) des Cecosesola-Mitglieds Jorge Rath zur Eröffnung des genossenschaftlichen Gesundheitszentrums. Auf zwei Seiten ist in einem „Bericht einer Gruppe von Frauen aus den Kooperativen“ beschrieben, wie tradierte Geschlechterrollen in der alltäglichen Zusammenarbeit überwunden werden. Alix Arnold hat das Buch übersetzt und beschreibt auf der Basis von Interviews, die sie in Cecosesola geführt hat, die Bedingungen für die Kooperative im venezolanischen ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts’“, und John Holloway, der zweimal in Cecosesola war, hat ein Nachwort beigesteuert.

Im ersten Teil des Buches werden anschaulich „Die ersten zwanzig Jahre“ der Kooperative beschrieben, die als kooperativer Dachverband zur Gründung eines Bestattungsunternehmens begann, dann mit einem Busunternehmen erst expandierte, kurz darauf jedoch nach vielen Angriffen scheiterte. Aus diesem Scheitern ging Cecosesola zwar mit erheblichen finanziellen Schulden, aber einem enormen Zuwachs an Solidarität und dem Erproben ungewohnt neuer
Organisationsformen hervor. Die Wochenmärkte boten einen Ausweg aus der verfahrenenökonomischen Situation.

Es folgt eine Reflektion der emotionalen und kulturellen Hintergründe, die eine solidarische Zusammenarbeit oft erschweren. In ihrer Analyse beziehen sich die Kooperativistas auf den chilenischen Biologen und Kybernetiker Humberto Maturana, den sie u.a. zitieren mit: „Unsere Wünsche und Vorlieben bestimmen in jedem gegebenen Moment das, was wir tun, nicht die Verfügbarkeit von Naturschätzen oder die ökonomischen Möglichkeiten, die als Merkmale der Welt maßgebend zu sein scheinen.“ (Seite 65) Im Mittelpunkt steht also der Mensch in seiner Subjektivität, nicht seine (scheinbar) objektiven Möglichkeiten. Daraus leitet sich der Fokus auf die Beziehungen der Subjekte untereinander und auf ihre Emotionalität ab.

Kulturelle Muster, die als typisch venezolanische „Tropenversion der westlichen Kultur“ gelten, werden dargestellt. Es entsteht der Eindruck, dass Cecosesola keine Kooperative einer politisch besonders bewussten Elite oder einer bestimmten Bevölkerungsschicht ist. Das beschriebene „wir“ scheint alle VenezolanerInnen zu meinen, unabhängig von ihrer sozialen Situation, wie z.B. die „venezolanische Bauernschläue“, das Trachten nach dem eigenen Vorteil und die Beschränkung solidarischen Verhaltens auf den engsten Familien- und Freundeskreis. Dem wird der Versuch entgegen gesetzt, im kooperativen Alltag gegenseitigen Respekt, Vertrauen und umfassende Solidarität zu entwickeln. Es geht jedoch weniger darum, formal solidarische Strukturen aufzubauen, sondern vielmehr um die Frage: „Wie könnte eine emotionale Grundlage entwickelt werden, die der partizipativen Demokratie förderlich ist und ihr entspricht?“ (Seite 75).

Unter der Überschrift „Auf dem Weg zur Harmonie“ wird beschrieben, wie versucht wird, diese Frage im Alltag zu beantworten. Die Kooperativistas versuchen sich aus kapitalistisch geprägten Denk- und Handlungsmustern zu befreien und verstehen ihr Projekt als im Werden und in ständigem Wandel begriffen. Fast alle Arbeiten werden rotierend von allen erledigt, die finanziellen Beziehungen werden nach Bedarf und unter der Voraussetzung größtmöglicher Eigenverantwortung jeder einzelnen Person geregelt. Wichtig sind vor allem die vielen Versammlungen und Gespräche.

Dabei bildet sich nach und nach ein gemeinsames Bewusstsein heraus, so dass für eine
Konsensfindung oft gar keine Abstimmung mehr vorgenommen wird. Es kann sogar „eine einzelne Person eine Konsensentscheidung treffen“ (Seite 86), verantwortungsbewusst und anhand gemeinsam entwickelter Kriterien. Was erstmal irritiert, erschließt sich vielleicht aus einer Erfahrung, die wir eher von esoterischen Gruppen erwarten würden: „Manchmal brauchen wir nicht einmal mehr darüber zu reden, um zu wissen, was wir alle denken. Telepathie wird greifbar. Sollten wir tatsächlich ein kollektives Denken entwickeln können, eine Art ‚kollektives Gehirn‘, wenn wir gegenüber den anderen Respekt entwickeln und die Angst verlieren?“ (Seite 97) Das Kapitel „Auf dem Weg zu einem kollektiven Gehirn?“ beschreibt dann nochmal genauer, wie aus „formalen Versammlungen … Orte der Begegnung“ werden. Es gibt keine hierarchischen Strukturen, alle GeschäftsführerInnen, AbteilungsleiterInnen etc. wurden abgeschafft. Die Kooperativistas treffen sich sehr häufig und in verschiedensten Konstellationen, nicht in erster Linie um sachliche Fragen zu diskutieren oder Entscheidungen zu treffen, sondern vor allem, um sich über über ihre Sichtweisen und Empfindungen auszutauschen. Jede und jeder kann fast jederzeit an einer Versammlung teilnehmen. Diese Versammlungen sind auch offen für Außenstehende, es gibt keine Leitung oder Moderation. Die Diskussionen verlaufen oft eher informell und sprunghaft. Die Entwicklung solidarischer Beziehungen untereinander und mit den Menschen im Umfeld steht an erster Stelle. Gelingende menschliche Beziehungen bringen nach den Erfahrungen von Cecosesola nicht nur mehr Lebensfreude, sondern auch wirtschaftlichen Erfolg.

Die namenlosen AutorInnen betonen, dass Cecosesola kein Modell ist, und dass jede Gruppe ihren eigenen Weg finden muss. Sie bieten nichts an, was mit strukturierten und vordefinierten Methoden der Gruppenbildung wie zum Beispiel Community Organizing oder Transition Towns vergleichbar wäre. Sie wenden anscheinend auch keine Kommunikationsmethoden wie zum Beispiel Themenzentrierte Interaktion (TZI) oder Gewaltfreie Kommunikation (GFK) an. Stattdessen beschreiben sie ihre Gruppenprozesse von einer viel grundsätzlicheren Basis her.

Vieles erinnert an fundamentalistische Ansätze alternativer Ökonomien der 1970er/80er Jahre: Der Bedarfslohn, die Rotation, die Ablehnung jeder Leitungs- oder auch nur   Koordinierungsfunktion und Diskussionen ohne Ende. Auch dass – mit den o.g. Ausnahmen – keine Namen von AutorInnen genannt sind, erinnert an den subversiven Charme alter Zeiten. Allzu oft wurde damals jedoch die Erfahrung gemacht, dass unter der ungeregelten Oberfläche gesellschaftliche Dominanzen als informelle Hierarchien umso wirksamer wurden, je stärker sie tabuisiert waren.

Ich möchte mir nicht anmaßen, nachdem ich das Buch gelesen habe, eine realistische  Einschätzung des Projekts Cecosesola abgeben zu können. Aber ich habe den Eindruck, dass sich dort trotz einiger Ähnlichkeiten zu früheren selbstverwalteten Betrieben und Projekten möglicherweise eine andere Dynamik entwickelt hat. Zum einen ist das Projekt allein von der Größe her kaum vergleichbar. Zum anderen scheint mir der Ansatz, den Organisierungsprozess nicht ausgehend von ideologischen Ansprüchen zu gestalten, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen, ein deutlich anderer. Aber wie passiert das genau? Wurden konkrete Methoden entwickelt, mithilfe derer die gemeinsamen Prinzipien umgesetzt und Erfahrungen innerhalb der komplexen kooperativen Strukturen vermittelt werden?

Und wieviel Raum bleibt bei solcher Einigkeit und angesichts dieser Intensität eines Wir für
dissidente Auffassungen und Empfindungen? Werden abweichende Meinungen wirklich offensiv eingeladen, willkommen geheißen und als Bereicherung erlebt? Wie wird Vorsorge getroffen, dass dieses Wir – vor allem bei einem unausgesprochenen Konsens – nicht in eine repressive Atmosphäre umkippt, in der einige Wenige sagen wo es lang geht, und alle anderen sich dem schweigend unterordnen?

Wie gehen die Kooperativistas damit um, dass die Fähigkeiten, sich in Versammlungen zu äußern und andere von der eigenen Position überzeugen zu können, unterschiedlich verteilt sind? Welche Rolle spielen Sympathien und Freundschaften bzw. Konflikte im sozialen Miteinander? Und wie funktioniert die Horizontalität in der Praxis, insbesondere gegenüber Außenstehenden oder in politischen Netzwerken? Wenn es keine Repräsentation durch einzelne Personen gibt – welche Alternativen haben die Kooperativistas entwickelt?

Nach dem Wenigen, was ich bisher von Cecosesola wusste, hatte ich viele Fragen. Beim Lesen war ich hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach einem Zusammenhang, der über eine sachliche Zusammenarbeit hinaus die ganze Person fordert, und dem Gruseln vor so viel Enge.
Nachdem ich das Buch gelesen habe, weiß ich mehr über die Kooperative und habe noch mehr Fragen. Darum freue ich mich sehr auf die Lesereise der Kooperativistas und bin gespannt auf ihre Antworten und den Austausch mit ihnen.

Übrigens scheint es nur ein Gerücht zu sein, dass Cecosesola von Tupamaros gegründet wurde. Im Buch findet sich kein Hinweis darauf, und meine Nachfrage ergab: „Ich habe heute vorsichtshalber nochmal nachgefragt hier bei uns – vor allem Compañeros und Compañeras, die schon von Anfang an dabei sind – ob an der Tupamaro-Geschichte etwas dran ist. Zum Leidwesen von möglichen Tupamaro-Sympathisanten muss ich jedoch feststellen, dass eine solche Verbindung nie bestanden hat, geschweige denn in der Gründung von Cecosesola eine Rolle gespielt hat.“ (Mail von Jorge Rath vom 01.03.2012).

Der Übersetzerin und den HerausgeberInnen dieses Buches gebührt ein großes Dankeschön dafür, dass sie die teilweise doch eher ungewöhnlichen Herangehensweisen und Erfahrungen aus Cecosesola einem deutschsprachigen LeserInnenkreis erschlossen haben.

Elisabeth Voß, Berlin


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