Zurück zu allen Rezensionen zu Die unbekannte Revolution

„DadDa-Web“ Dezember 2013

Die DadA-Buchempfehlung
Die unbekannte Revolution
Seit dem Auftreten des Anarchismus als einer politischen Ideologie und Bewegung, etwa z.Z. der Französischen Revolution, hat es kaum eine revolutionäre Erhebung auf der Welt gegeben, an der sich die Anarchisten nicht beteiligt haben. Das historische Dilemma des Anarchismus ist nur: Das, was die Anarchisten wollen, ist revolutionär; aber jede Revolution, an der sie sich beteiligten, hat bisher die Niederlage der anarchistischen Bewegung zur Folge gehabt.

In der Geschichte der internationalen anarchistischen Bewegung markiert die russische Revolution von 1917/18 einen tiefen Einschnitt, den der libertäre amerikanische Historiker Paul Avrich folgendermaßen charakterisiert:

„Die Revolution von 1917 war die erste Gelegenheit, bei der die Anarchisten den Versuch unternahmen, ihre Theorien in einem größeren (gesellschaftlichen) Maßstab praktisch umzusetzen. Mit den Mitteln der ‚direkten Aktion‘, der Enteignung und der Arbeiterkontrolle, des Guerillakrieges sowie der Errichtung von freien Kommunen bemühten sie sich, nach libertären Grundsätzen eine neue Gesellschaft aufzubauen und ihre staatslose Vision Wirklichkeit werden zu lassen.” [1]

Der Historiker stößt bei der Untersuchung des russischen Anarchismus, insbesondere was die Epoche der russischen Revolution von 1917/18 und ihrer unmittelbaren Folgezeit angeht, auf verschiedene Schwierigkeiten. Zum einen sind diese Schwierigkeiten mit dem Untersuchungsgegenstand selbst verknüpft. Aufgrund der traditionellen anarchistischen Ablehnung von formalen Organisationsstrukturen, lassen sich – im Gegensatz etwa zur Untersuchung der politischen Parteien – nur sehr schwer Erkenntnisse über die tatsächliche Stärke der anarchistischen Bewegung gewinnen.

Das zweite und weitaus gravierendere Problem, mit dem sich der zeitgenössische Historiker bei der Untersuchung besonders des russischen Anarchismus konfrontiert sieht, ist ideologischer Natur. Lange Zeit sind die russischen Anarchisten von den Historikern ignoriert worden. Wie kaum eine andere politische Minderheit hatten die Anarchisten unter dem – wie James Joll es formuliert – Erfolgskult der traditionellen Geschichtswissenschaft zu leiden, demzufolge nur politisch erfolgreiche Bewegungen das Interesse des Historikers verdienen.[2] Politische Erfolge jedoch können die Anarchisten kaum für sich verbuchen. Sieht man einmal von der Spanischen Revolution (1936-1939) ab, in der es den Anarchosyndikalisten zumindest vorübergehend gelang, zur dominierenden politischen und gesellschaftlichen Kraft der revolutionären Umwälzungen zu werden, so ist die Geschichte des Anarchismus insgesamt betrachtet eine Geschichte der politischen Niederlagen.

Auch und gerade die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung bildet hinsichtlich dieser aus dem „Erfolgskult“ resultierenden verengten historischen Sichtweise keine Ausnahme. Für die Behandlung der Rolle der anarchistischen Bewegung in der russischen Revolution von 1917/18 durch die sowjetischen Historiker gilt Trotzkijs klassisches Verdammungsurteil der Menschewiki:

„Ihr seid elende isolierte Einzelne. Ihr seid bankrott. Ihr habt Eure Rolle ausgespielt. Geht, wohin Ihr gehört: auf den Misthaufen der Geschichte!”[3]

Hinweise über einen aktiven, geschweige denn, konstruktiven Beitrag der russischen Anarchisten zur Oktoberrevolution lassen sich in der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung nicht finden; wohl aber ideologisch verzerrte Darstellungen, die in „bester“ bürgerlicher, aber auch klassisch marxistischer Tradition zumeist auf eine Gleichsetzung von Anarchismus und Terrorismus bzw. „Banditentum“ hinauslaufen. So findet sich beispielsweise in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie folgende Charakterisierung der anarchistischen Bewegung Russlands:

„Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution hat in den Reihen der Anarchisten in Russland zu völliger Mißstimmigkeit und Zersetzung geführt. Die Führer der Anarchisten verwandelten sich in eine böswillige Clique von Feinden des Sowjetstaats, des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, begaben sich auf den Weg der offenen Konterrevolution und des Banditismus.”[4]

Bedingt durch die politische Verfolgung und physische Liquidierung der anarchistischen Bewegung Russlands durch die Bolschewiki, die schon kurz nach der Oktoberrevolution einsetzte, ihren Höhepunkt mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921 und ihren Abschluss in der Stalinära fand, gelangten nur wenige authentische Informationen über die Aktivitäten der russischen Anarchisten in den Westen. Dass die Geschichte des russischen Anarchismus wenigstens in ihren groben Konturen geschrieben werden konnte, ist vor allem den Berichten der wenigen anarchistischen Emigranten zu verdanken, denen es wie Arschinow, Maximoff und Volin gelang, Anfang der 20er Jahre Sowjet-Russland zu verlassen.

Der Möglichkeit der direkten Agitation innerhalb Sowjet-Russlands beraubt, sahen sich diese Emigranten von der internationalen anarchistischen Bewegung in die Rolle der „Verkünder der Lehren“ der russischen Revolution gedrängt. Dass ihre Darstellungen der russischen Revolution sich zumeist auf eine Demaskierung und Anprangerung der bolschewistischen Terrorherrschaft beschränkten, ist angesichts der von ihnen erlittenen Repressionen durch die Bolschewiki durchaus verständlich, war aber dem tieferen Verständnis der Gründe, die das Scheitern der anarchistischen Bewegung Russlands bewirkten, nicht förderlich. Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass in der anarchistischen Emigrantenliteratur der 20er und der frühen 30er Jahre kaum der Versuch einer selbstkritischen Analyse des russischen Anarchismus gemacht wurde. Eine Ausnahme bildet das 1947 erschienene Werk La Revolution inconnue (Die unbekannte Revolution) von Volin, das die Geschichte der revolutionären libertären Bewegungen in Russland und in der Ukraine für den Zeitraum von 1825 bis 1921/22 dokumentiert.

350px-Voline_1937

Der russische Anarchist Volin (Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum; 1882-1945).
Der Autor des Werkes war der aus bürgerlichen Verhältnissen stammende russische Publizist Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum, geb. 1882, der unter seinem nom de guerre „Volin” später als Anarchist eine internationale Bekanntheit erlangte. Eichenbaum hatte in Sankt Petersburg Jura studiert und sich seit der Jahrhundertwende in der Arbeiterbewegung engagiert, indem er Bildungskurse für Arbeiter veranstaltete. Im Januar 1905 beteiligte er sich – nun unter dem Namen „Volin” (d.h. „Mann der Freiheit”) – an der Revolution, die in St. Petersburg nach der blutigen Niederschlagung einer friedlichen Demonstration von 150.000 Arbeitern gegen das Zarenregime ausgebrochen war. Die spontane revolutionäre Erhebung, die anfänglich vor allem von Arbeitern und Soldaten der Hauptstadt getragen wurde, hatte sich schnell auch auf andere Landesteile ausgebreitet. In Volins Studentenzimmer wurde auf einer Sitzung von Delegierten aus verschiedenen Betrieben der erste Sowjet gegründet, der als permanenter Ausschuss den revolutionären Widerstand der Arbeiterschaft aller Petersburger Betriebe organisieren sollte und zur Keimzelle der Sowjetbewegung wurde, die sich in der Februarrevolution 1917 dann landesweit entfalten sollte.

Volin, der bis dahin parteilos gewesen war, war 1905 der Sozialrevolutionären Partei beigetreten und hatte sich auch an der im Juli des folgenden Jahres in Kronstadt stattgefundenen revolutionären Erhebung beteiligt. Nach der Niederschlagung des Aufstandes, der überwiegend von Arbeitern und Soldaten getragen wurde, wurde Volin verhaftet und zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Aber es gelang ihm 1907 während seiner Deportation nach Sibirien zu fliehen. Er ging nach Paris ins Exil, wo er in Kontakt mit der anarchistischen Bewegung kam und sich um 1911 selber dem Anarchismus zuwendete. Doch auch in Frankreich bekam er wegen seines politischen Engagements die Repression der Behörden zu spüren. So wurde er 1915 wegen seiner Antikriegsagitation zur Haft in einem Internierungslager verurteilt, der er sich durch die Flucht in die USA entziehen konnte. Er ließ sich in New York nieder, wo es eine starke russische Community gab, und war dort für die russischsprachige anarchosyndikalistische Zeitschrift „Golus Truda“ tätig, die als das Organ „Union der russischen Arbeiter in den Vereinigten Staaten und Kanada“ erschien.

Nach dem Ausbruch der Februarrevolution in Russland 1917 erließ die provisorische Regierung Russlands eine Generalamnestie. Diese ermöglichte es Volin gemeinsam mit der gesamten Redaktion von „Golos Truda“ nach Russland zurückzukehren, wo das Blatt als das Organ der „Anarchosyndikalistischen Propaganda Union“ erst in Sankt Petersburg und ab März 1918 in Moskau erschien, zu deren Leiter Volin ernannt wurde. Zum Redaktionsstab des Blattes, das als das wichtigste Sprachrohr der anarchistischen Bewegung in Russland betrachtet werden kann, gehörten neben Volin auch solche prominenten russischen Anarchisten wie Gregori Maximow, Alexander Schapiro und Efim Yartschuk.

Nachdem die Bolschewiki unter Lenin im Oktober 1917 durch einen Putsch die Staatsmacht an sich gerissen hatten, geriet die anarchistische Gruppe um „Golos Truda“ ebenso wie alle anderen anarchistischen und übrigen linken Organisationen in Russland, die nicht auf die Linie der Bolschewiki eingeschworenen waren, schon bald in Konflikt mit dem neuen Regime. Am 17. November 1917 erließ der Oberste Sowjet ein Gesetz, das den Bolschewiki die Kontrolle über die gesamte Presse übertrug und die Macht der Behörden bei der Unterdrückung von oppositionellen Publikationen erweiterte. Im August 1918 wurde die zu der Zeit als Tageszeitung erscheinende „Golus Truda” von der bolschewistischen Regierung verboten.

Die zunehmende Repression gegen die anarchistische Bewegung in Russland, bewog Volin Ende 1918 in die Ukraine zu gehen, wo er mit anderen Anarchisten die anarchistische Föderation der Ukraine gründete. 1919 schloss er sich in Odessa der bäuerlichen Partisanenarmee unter der Führung des Anarchisten Nestor Machno an, die gegen die zarentreue Weiße Armee und die deutschen und österreichischen Mittelmächte kämpfte. Mitte Januar 1920 wurde die nach ihrem Führer benannte Machnowscina von der Rote Armee der Bolschewiki angegriffen und sah sich gezwungen, einen Zweifrontenkrieg zu führen. Volin wurde von Agenten der bolschewistischen Regierung gekidnappt und entging nur knapp seiner von Trotzki angeordneten Hinrichtung. Im März 1920 wurde Volin nach Moskau deportiert, wo er bis Oktober in Haft verblieb. Zu dieser Zeit hatte sich die militärische Lage für die Rote Armee verschlechtert, die eine Entlastung durch eine Bündnisvereinbarung mit Machno suchte, die Volin die Begnadigung und Haftentlassung brachte. Doch die Freiheit sollte nicht lange währen. Kaum war es der Roten Armee gelungen mit Hilfe der Machnowscina die Weiße Armee zu besiegen, brachen die Bolschewiki im November 1920 ihr mit Machno getroffenes Bündnisabkommen und gingen in ihrem Machtgebiet erneut mit äußerster Härte gegen die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung vor. Im Zuge dieser Verfolgung wurden Volin und viele seiner Genossen verhaftet und im berüchtigten Taganka Gefängnis in Moskau inhaftiert, das schon zu Zeiten des Zaren als Haft- und Folterstätte für politische Gefangene gedient hatte.

Ihren Höhepunkt erreichte der bolschewistische Repression gegen die anarchistische Bewegung nach dem Kronstädter Arbeiter- und Matrosenaufstand Aufstand im März 1921. Im Sommer desselben Jahres fand in Moskau eine Tagung der sog. „Roten Gewerkschafts-Internationale” (RGI) statt, an der sich auch Delegierte ausländischer anarchosyndikalistischer Organisationen beteiligten. Zur gleichen Zeit traten im Taganka-Gefängnis 13 inhaftierte russische Anarchisten und Anarchosyndikalisten, unter ihnen auch Volin, aus Protest gegen ihre politische Inhaftierung und die Brutalitäten der Tscheka in den Hungerstreik. Dies und die ersten genaueren Informationen über die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstands durch die Rote Armee, lösten unter den syndikalistischen Delegierten des Gewerkschaftskongresses einen Sturm der Empörung aus. Zwar willigten die Bolschewiki am 10. Tag des Hungerstreiks auf Druck der syndikalistischen Delegierten ein, die 13 inhaftierten Anarchisten und Anarchosyndikalisten freizulassen, jedoch nur unter der Bedingung ihrer Deportation ins Ausland.

Volin ging wie auch die meisten anderen seiner freigelassenen Genossen Ende 1921 zunächst nach Berlin, wo er für die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) tätig war. Zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Russland gründete er ein Hilfskomitee für verfolgte Anarchisten und Anarchosyndikalisten in Sowjet-Russland und veröffentliche Berichte über die politische Repression in der Sowjetunion. 1923 zog er auf Einladung von Sebastian Faure nach Paris und unterstützte diesen bei der redaktionellen Arbeit an der Encyclopedie Anarchiste und schrieb Artikel für die französische und internationale anarchistische Presse. Ideologisch vertrat Volin zu dieser Zeit und auch später die Idee der „anarchistischen Synthese”, derzufolge die sonst überwiegend getrennt agierenden Bewegungen des Anarchosyndikalismus, des Anarchokommunismus und des Individualanarchismus in Anerkennung der jeweiligen Existenzberechtigung jeder einzelnen Strömung sich durchaus zu einer Bewegung vereinen ließen. Im Juli 1934 erschien seine Schrift Le Fascisme Rouge ou le communisme d’état dévoilé (Der rote Faschismus oder der enthüllte Staatskommunismus), in der er den Bolschewismus mit dem italienischen Faschismus verglich, die beides diktatorische Systeme seien, die vor dem Hintergrund der „russischen Erfahrungen” auf das Energischste bekämpft werden müssen.

Während des Zweiten Weltkrieges war Volin, der inzwischen nach Marseille gezogen war, innerhalb einer kleinen Gruppe internationaler Anarchisten in der der Résistance gegen die deutschen Besatzer aktiv. Die Widerstandsgruppe flog auf, und nur Volin gelang es in letzter Minute der Verhaftung zu entkommen. Durch das rastlose Leben im Untergrund wurde seine Gesundheit schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Kriegsende war Volin ein schwerkranker Mann, der von zwei spanischen Genossen gepflegt wurde. Zusammen mit seinem Sohn Leo kehrte Volin nach Paris zurück, wo er am 18. September 1945 im Krankenhaus an Tuberkulose verstarb, die er sich während einem seiner zahlreichen Gefängnisaufenthalte zugezogen hatte.

350px-Voline_La_Revolution_Inconnue_1947

Die Originalausgabe von Volins „La Revolution Inconnue“, Paris 1947.
1947 erschien in Paris das von seinen Freunden herausgegebene Hauptwerk Volins: La Revolution inconnu, in dem der Autor den libertären Charakter der revolutionären Bewegung in Russland beschreibt und dokumentiert. Das Werk ist in drei „Bücher” untergliedert, die sowohl in der französischen Originalausgabe als auch in der zweiten deutschen Neuauflage von 2013 in einem Band erschienen sind.

Das erste Buch beinhaltet „Geburt, Entwicklung und Triumph der Revolution”, und beschreibt die politische Entwicklung in Russland ab 1825, die hin zur Revolution von 1905 führte, in der das Konzept des freien Sowjet seine Geburtsstunde erlebte. Das erste Buch schließt ab mit der Revolution von 1917, die statt in einer vom freiheitlichen Geist getragenen sozialen Revolution in der bolschewistischen Machtergreifung mündete.

Das zweite Buch beinhaltet die Gegenüberstellung von „Bolschewismus und Anarchismus”, in der Volin die zwei gegensätzlichen Konzeptionen der russischen Revolution von 1917 herausarbeitet. Eingehend – und auch unter Schilderung persönlicher Erlebnisse – dokumentiert er in diesem Buch die revolutionären Aktivitäten der libertären Bewegung in Russland vor und nach der Oktoberrevolution. Er beschreibt den Terror, mit dessen Hilfe die kommunistische Partei der Bolschewiki die Macht im Staat eroberte und die freiheitlich-sozialistischen Kräfte der Revolution zunehmend in die Defensive drängte.

Im dritten Buch beschreibt Volin die „Kämpfe für die wirkliche soziale Revolution”, so wie sie im März 1921 im Aufstand der Kronstädter Arbeiter und Soldaten gegen das bolschewistische Regime, aber auch in der libertären Bewegung der Machnowscina in der Ukraine sichtbar wurden. Beide Bewegungen waren stark von der Ideologie und den Konzepten der Anarchisten beeinflusst und strebten die Beseitigung der bolschewistischen Diktatur an, um einer freiheitlich-sozialistischen Entwicklung den Weg zu ebnen. Beide Bewegungen scheiterten und damit scheiterte zugleich auch der ersten Versuch von Anarchisten ihre Theorien in einem größeren gesellschaftlichen Kontext mit den Mitteln der direkten Aktion, der Enteignung und der Arbeiterkontrolle, des Guerillakrieges sowie der Errichtung von freien Kommunen zu realisieren.

Das unter extrem schwierigen Bedingungen im Untergrund entstandene und vom bereits schwer erkrankten Autor nach Kriegsende abgeschlossene Buch ist nicht ohne Mängel und Fehler geblieben. Die Herausgeber der deutschen Erstausgabe, die 1975 im Verlag Association erschienen ist, kritisierten das anarchistische Geschichtsverständnis Volins, das ihn dazu verleitet hat, die Klassengegensätze in der russischen Geschichte auf den politischen Überbau zu reduzieren und die historischen Ereignisse isoliert darzustellen, so dass der Zusammenhang von Ursache und Wirkung verloren geht. Und der amerikanische Historiker Paul Avrich, der als einer der besten Kenner des russischen Anarchismus gilt, bemängelte an dem Werk, dass Volin wichtige Aspekte der „unbekannten Revolution” nicht beschrieben hat: „Wenig wird über die Arbeiter- und Bauernbewegung außerhalb von Kronstadt und der Ukraine mitgeteilt. Auch vernachlässigt das Buch die Individual-Anarchisten, eine faszinierende, wenn auch kleine Gruppe, sowie die Rolle der Frauen in der anarchistischen und revolutionären Bewegung.“[5]

Doch aller berechtigten Kritik zum Trotz bleibt unbestritten, dass Volins Werk eine der wichtigsten Quellenpublikationen zur Geschichte der libertären Bewegungen in der Russischen Revolution ist, die sowohl in der bürgerlichen als auch marxistischen Historiografie bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben sind oder verfälscht dargestellt wurden.

Die deutsche Erstausgabe des Buches von 1975 war jahrzehntelang vergriffen und selbst antiquarisch nur sehr schwer zu bekommen. Dass das Werk nun wieder erhältlich ist, ist dem jungen in Berlin ansässigen Verlag „Die Buchmacherei” zu verdanken, der mit Förderung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (sic!) das Buch auf Grundlage der deutschen Erstausgabe und ergänzt durch eine Einleitung von Roman Danyluk und Philippe Kellermann neu herausgebracht hat. Es ist ein wichtiges Buch, das ich jedem empfehlen möchte, der sich mit der Thematik „Anarchismus und Revolution” am historischen Beispiel der Russischen Revolution intensiver beschäftigen möchte.

Jochen Schmück
Potsdam, im November 2013

Anmerkungen

  1. Paul Avrich (Ed.): The Anarchists in the Russian Revolution. London 1973, S.9
  2. Vgl. James Joll: Die Anarchisten. Berlin 1969, S.7f.
  3. Zit. n. ebd.
  4. Zit. n. Felix Ingold: (Nestor) Machno und die sowjetische Anarchismuskritik, (als Nachwort abgedruckt) in: Peter Arschinoff; Anarchisten im Freiheitskampf. Geschichte der Machno-Bewegung 1918-1921. Neuauflage des 1921 in Berlin gedruckten Originals, Zürich 1971, S. 348
  5. Paul Avrich: V. M. Eikhenbaum (Volin): The Man and His Book, in: ders. Anarchist Portraits. Princeton 1988, S. 134.

 


Zurück zu allen Rezensionen zu Die unbekannte Revolution