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„express“ 10-2015

Erwitte 1975 – ein deutsches Märchen?

Betrieb besetzt und dann 449 Tage Streik

von Anton Kobel

»Beton – es kommt drauf an, was man draus macht!« – Die Besetzung des Zementwerks Erwitte war vermutlich die erste Besetzung in der Geschichte der Bundesrepublik, jedenfalls ein für die hiesigen Verhältnisse bemerkenswerter Vorgang und ist es noch heute – nicht nur wegen der immensen gesellschaftlichen Unterstützung, die dieser Kampf erfuhr, sondern auch, weil er unter Bedingungen geführt wurde, die so ›historisch‹ gar nicht sind, wie es scheint; der Kampf gegen Betriebsschließungen, Arbeitsplatzverlagerungen und damit verbundene Zerstörung von Existenzgrundlagen ist so aktuell wie je, schon gar, wenn er unter Krisenbedingungen stattfindet. Das Verdienst, diese Besetzung und den anschließenden, fast eineinhalb Jahre dauernden Streik (von den Nachwirkungen ganz zu schweigen) dem Vergessen entrissen zu haben, gebührt Dieter Braeg, der uns schon das schöne Büchlein über den Streik der Frauen beim Autozulieferer Pierburg in Neuss für die Abschaffung der »Leichtlohngruppen« beschert hat – auch eine dieser wegweisenden Auseinandersetzungen der 70er Jahre, bei denen man schnell fündig wird, wenn es um Parallelen und Vergleichsmöglichkeiten geht. Das Ende von Erwitte werden wir hier nicht verraten, nur eins: Es wird nicht bei einem Datum bleiben, wenn man sich auf die Lektüre einlässt.

Es war einmal eine Belegschaft in Erwitte in Westfalen. 151 Menschen, die in einer Zementfabrik arbeiteten. Sie hatten einen bösen Chef wie viele andere auch. Aber ihrer war ein besonderer. Er kündigt im Februar 1975 die Entlassung von 96 Beschäftigten an, darunter auch durch Gesetz besonders geschützte Schwerbehinderte, Betriebsratsmitglieder und Betriebs- ratskandidaten sowie Wahlvorstandsmitglieder. Nach ersten Protesten, die sich nicht nur gegen die Auswahl, sondern auch gegen die ökonomische Notwendigkeit der Entlassungen richteten, sollten es nur 86 sein; die »Geschützten« wurden wieder von der dem Betriebsrat übergebenen Liste runter genommen.

Nicht nur der Chef war ein besonderer. Auch Betriebsrat, Gewerkschaft und Belegschaft waren dies. Sie fingen an, sich zu wehren, und hörten lange nicht auf. Am 7. März 1975 trat die Belegschaft in einen zweistündigen Warnstreik, um die Geschäftsleitung zu Verhandlungen zu zwingen. Am 9. März 1975 versammelten sich in der nur 5500 EinwohnerInnen zählenden Stadt 2000 Menschen zu einer Protestversammlung in einer Halle. Am folgenden Tag besetzte die Frühschicht das Werk. Ihrem Arbeitskampf schloss sich die gesamte Belegschaft an. LKW’s versperrten das Werkstor. Auf der Kundgebung am 1. Mai 1975 waren dann 12000 DemonstrantInnen, teils von weither angereist (siehe Chronologie, S. 62ff.)

Diese für die damalige BRD spektakuläre Betriebsbesetzung wandelte sich bzw. wurde von der Gewerkschaft in einen Streik umgewandelt, der schließlich 449 Tage dauern sollte. Um der üblichen Gewerkschaftsschelte an dieser Stelle vorzubeugen: Die Umwandlung der Besetzung in einen Streik erfolgte nach Diskussionen mit Belegschaft und Streikleitung, sie sollte und konnte die Aussichten im Hinblick auf die rechtlichen Dimensionen der Auseinandersetzung verbessern. Denn während in den 1970er Jahren in Italien in den Betrieben harte Kämpfe ausgefochten wurden und in Frankreich zeitweise über 200 Betriebe besetzt waren – die Belegschaft der Uhrenfabrik LIP in Besancon war mit anfangs 2000 Beschäftigten, die ohne Chefs produzierten und verkauften, landes- und europaweit das Beispiel – eröffnete der Eigentümer Seibel mit Prozessen noch eine zweite Konfliktschiene. Diese mit Schadensersatzprozessen in Millionenhöhe und arbeitsrechtlichen Schritten verbundenen Auseinander- setzungen endeten erst 1987/88 (!). Aus einem mit großer gesellschaftlicher und öffentlicher Solidarität geführten beispielhaften Kampf um Arbeitsplätze und Existenzgrundlagen wurde so auch ein – in den Räumen der Justiz geführter – wirtschaftlicher Vernichtungskampf gegen die beiden »Rädelsführer« Josef Köchling, Betriebsratsvorsitzender, und Herbert Borghoff, lokaler Geschäftsführer der IG Chemie-Papier-Keramik, sowie gegen die IG CPK selbst. Sie hatten, so das Gericht, einen »wilden Streik« entweder geführt, organisiert oder unterstützt. Seibel forderte inklusive Zins und Zinseszins über 13,4 Millionen DM. Schließlich wurden ihm wegen eigener Teilschuld »nur« 2.738.977 DM zugesprochen. Vielfältige Aktionen der Solidarität konnten die bundesdeutsche Arbeitsgerichtsbarkeit, in der noch reichlich rechtliche und personelle Nazi-Erbmasse die Grundlage für den rechtlichen Umgang mit Arbeitskämpfenden und Arbeitskämpfen bildete, nur wenig bewegen.

All dies schildert der Herausgeber Dieter Braeg u.a. in eigenen Beiträgen, aber auch mit Hilfe zahlreicher Dokumente. Dadurch werden viele Dimensionen und Details eines harten Arbeitskampfes deutlich. Immerhin mussten die beiden »Rädelsführer« dies alles verkraften und verarbeiten. Mit sich, ihren Familien und Freunden. Sie mussten mit Zweifeln und Ängs- ten umgehen. Wer den selbst kampferfahrenen Dieter Braeg kennt, weiß, was es bedeutet, wenn er heute formuliert: »Ich ziehe meinen Hut vor Josef Köchling, dem Betriebsratsvorsitzenden, und Herbert Borghoff, dem Geschäftsführer der IG CPK, die – mehr als 15 Jahre bedroht durch Millionen-Forderungen an Schadenersatz – sicher kein gutes Leben führen konnten.« (S. 29) Braeg war Bildungsobmann der IGM, Betriebsrat bei Pierburg und in Erwitte in die Solidaritätsarbeit involviert. Wir dürfen gespannt sein, was nach dem vorliegenden Band über den Kampf in Erwitte kommt…

Ich finde, wer sich für Arbeitskämpfe interessiert, kann sich bei Dieter Braeg bedanken für die Herausgabe dieses Buches. Die – hoffentlich vielen – LeserInnen finden ausführliche Beschreibungen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation Anfang der 1970er Jah- re, die den Hintergrund und die Basis dieses Arbeitskampfes bildete. Auf die »wilden Streiks« von 1969 und 1973 wird ebenso hingewiesen wie auf die – im Vergleich zu Italien und Frankreich – wenigen Betriebskämpfe in Deutschland. Es hat sie aber auch gegeben.

Gisela Notz beschreibt in ihrem Beitrag »Der Abschied von der ›braven Hausfrau‹« die Bildungs- und Emanzipationsprozesse der »Ehefrauen der Zementwerker in Erwitte«. Neben den zahlreichen Fakten aus dem Kampf ruft ein Beitrag von Rainer Duhm und Erhard Maus aus dem Jahre 1975 den Älteren die damaligen Diskussionen in den Kreisen, die man heute zur Gewerkschaftslinken zählen würde, in Erinnerung – die Jüngeren kann er zur Reflektion anregen. Lesenswert das kurze »Nachwort« des vor Kurzem verstorbenen Arno Klönne. Es endet: »Eigenwille an der Basis ist notwendig; wer sich ›auf die da oben‹ verlässt, ist schon verlassen, auch bei den Gewerkschaften.«

Die Rolle und das Verhalten der IG CPK wird ebenfalls kritisch dargestellt. Die internen Auseinandersetzungen werden mehrfach angedeutet. »Sozial«- oder »Konfliktpartnerschaft« (um den klassischen Terminus »Konfliktorientierung« etwas abzuwandeln) – diese Frage war 1975 in der CPK noch nicht eindeutig entschieden. Erst 1979/80 wandelte sich diese Gewerkschaft in die Organisation, die wir heute kennen. Wenig kämpferisch, eher parlamentarische Lobbyarbeit als außerparlamentarische Aktionen, lieber Kompromisse am Verhandlungstisch als nach (Warn-)Streiks und Urabstimmung. Ob dieser für deutsche Gewerkschaftsverhältnisse untypische Kampf in Erwitte, der zwar mit vielen Erfahrungen, aber dennoch mit einer Niederlage endete, den Weg der CPK in die Sozialfriedlichkeit beschleunigt hat oder gar nach der tarifpolitischen Niederlage 1970/71 im Kampf um eine betriebsnahe Tarifpolitik gegen die Großchemie das letzte »Argument« dafür war, bleibt Diskussionsthema.

Warum empfehle ich dieses Buch jüngeren, in den Gewerkschaften Aktiven? Erwitte ist auch ein Ergebnis langjähriger, betriebsnaher Gewerkschafts- und vor allem betriebs- und ortsnaher Bildungsarbeit. Für Letztere stand die IG CPK einige Jahre: Qualifizierung der Mitglieder und betrieblicher Vertrauensleute waren das – wie Erwitte auch zeigt – erreichbare Ziel. Das Buch und die beiliegende CD enthalten viele Dokumente und Wissenswertes über diese erste Betriebsbesetzung in der BRD.
Lese-Empfehlung der Redaktion, oder: Unterstützt Eure Antiquariate im Interesse des besseren Verständnisses der Gegenwart:

• »Fabrikbesetzung. Arbeitskampf der Zementwerker bei Seibel & Söhne in Erwitte«, he- rausgegeben von der Vertrauenskörperleitung der Belegschaft von Seibel & Söhne, Selbstverlag, Erwitte 1975 – DIN A4-Broschüre mit vielen Bildern, Streikdokumenten, Interviews, Berichten und einer Chronologie, 60 Seiten
• »Unternehmerwillkür in Erwitte. Frauen kämpfen mit den Männern«, herausgegeben von der Frauengruppe Erwitte, Offizin-Verlag, Erwitte 1977, DIN A5- Broschüre mit vielen Interview-Ausschnitten und Bildern, 107 Seiten
• Rainer Duhm / Harald Wieser (Hg.): »Krise und Gegenwehr«, Rotbuch-Verlag, Berlin
1975 – eine Sammlung von Aufsätzen, u.a. von den Herausgebern zu Erwitte
• Rainer Duhm/Ulrich Mückenberger (Hg.): »Arbeitskampf im Krisenalltag. Wie man sich wehrt und warum«, Rotbuch Verlag, Berlin 1977 – mit Beiträgen zu späteren, ebenfalls bedeutsamen Kämpfen der Bundesrepublik, z.B. zum Druckerstreik 1976 von Rainer Erd und Fritz Lamm, zu gewerkschaftlicher Tarifpolitik in der Krise von Otto Jacobi und Wal- ther Müller-Jentsch, zur Produkt- und Produktionskonversion bei Fokker in Speyer von Klaus Grössler u.v.a.

 

In: express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/2015


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