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„express“ Nr. 2-3/2019

Nichts als Staatskapitalismus?

Djilas, Mandel und Huhn streiten über den Zustand der Gesellschaft nach
der Revolution

von Renate Hürtgen

Der Herausgeber, Jochen Gester, macht mit den 1951 erschienenen Beiträgen von Milovan Djilas, Ernest Mandel und Willi Huhn einen spannenden Abschnitt kommunistischer Auseinandersetzung um den Weg zu einer antikapitalistischen Gesellschaft gegenwärtig. Am aufregendsten war für mich der Streit zwischen Djilas und Mandel, wohl, weil sich mit ihren Personen, stärker als es im Artikel von Willi Huhn erkennbar wird, verschiedene Richtungen damaliger antistalinistischer Strömungen und politischer Auseinandersetzungen verbinden.
Der erste Beitrag stammt von Milovan Djilas, jugoslawischer Kommunist, 1911 in Montenegro geboren und 1995 in Belgrad gestorben. Djilas war Mitglied der illegalen jugoslawischen kommunistischen Partei und seit 1938 des ZK der KPJ. Im Rang eines Generalleutnants in der kommunistischen Volksbefreiungsarmee nahm er am bewaffneten Aufstand gegen die Faschisten teil. Djilas gehörte bald zum Führungskreis der illegalen Partei und wurde 1948 in das ZK und Politbüro der KPJ gewählt. Dieser führende Kopf der jugoslawischen Revolution und enge Vertraute Titos sollte jedoch bereits wenige Jahre später dessen größter Kritiker werden. Seit 1954 veröffentlichte er in der parteieigenen Zeitung Borba Artikel, in denen vor der Gefahr einer antisozialistischen Entwicklung in Jugoslawien gewarnt wird; Djilas wird aller Staats- und Parteiämter enthoben. 1957 kommt seine Schrift »Die neue Klasse« heraus. Diese und andere, als »parteifeindlich« eingestufte Äußerungen bringen Djilas insgesamt neun Jahre Gefängnis ein.

Als sein hier wiederveröffentlichter Beitrag 1951 unter dem Titel »Erscheinungen und das Wesen der Sowjetunion« in der Zeitung Einheit erschien, muss er wohl noch konform mit der Linie der Partei gewesen sein.1 Ich versuche, mich in das Jahr 1951 zu denken: Seit 1948 war die kommunistische Partei Jugoslawiens aus der von der KP der Sowjetunion gelenkten Kominform ausgeschlossen und als nationalistisch und faschistisch verfemt. Der offizielle Bruch mit Moskau wurde jedoch erst 1952 auf dem VII. Parteitag der KPJ vollzogen. Die 1951er Kontroverse fand zwei Jahre vor Stalins Tod statt, und der sogenannte eigenständige Weg Jugoslawiens zum Kommunismus war noch nicht vollständig besiegelt. Wichtige Gesetze waren bereits verabschiedet, so 1950 das Gesetz über die Verwaltung der Betriebe durch Arbeiterräte, das die Übernahme der Produktion durch die Produzenten einleiten sollte.2 Wie verhielten sich antistalinistische Linke und Marxisten in dieser Situation gegenüber dem von Jugoslawien eingeschlagenen Weg?

Der proletarische Staat muss erst sozialistisch werden

Tatsächlich ist der Text von Milovan Djilas keine theoretische Abhandlung über die nachrevolutionäre russische Gesellschaft; er ist der Versuch nachzuweisen, warum Jugoslawien sich von der Moskauer Vorherrschaft lösen und einen eigenen Weg zum Sozialismus einschlagen müsse. Würde nämlich in Jugoslawien der Kampf gegen einen immer mächtiger werdenden Staat und gegen eine ausufernde »Bürokratie«, die sich als kollektiver Eigentümer Macht und Privilegien aneigne, nicht geführt, dann sähe die Perspektive genauso aus wie in der Sowjetunion. Dort hätte sich das Staatsmonopol längst zum Staatskapitalismus entwickelt und die Sowjetunion zu einer imperialistischen Großmacht, die in einer Art kolonialer Eroberung anderen Völkern ihr System aufzwinge.

Djilas’ theoretische Exkurse sind widersprüchlich und seine Versuche, Marx und Lenin als Kronzeugen für den richtigen Weg zum Sozialismus zu zitieren, sind weniger überzeugend als die von Ernest Mandel und Willi Huhn. Das mag auch daher rühren, dass er sich zwar lang und breit auf Marx und Lenin bezieht, es aber an anderer Stelle ablehnt, aus diesen Heiligenbilder zu machen, über die man nicht mit eigenen Gedanken hinaus gehen dürfe, obwohl die Entwicklung weiter gegangen sei (S. 42). Ich habe diese Passagen hervorgehoben, weil hier ein Ausgangspunkt für die weitreichenden Differenzen zu Mandel liegt. Es sind nicht die Beschreibungen des Widerspruchs von Wort und Tat in der sow-jetischen Ideologie, die Djilas und Mandel trennt, nicht die Verurteilung der stalinistischen Innen- und Außenpolitik, die allen Völkern ihren Sozialismus oktroyiert, vielleicht nicht einmal die unterschiedliche Sicht auf die Bürokratenkaste – die Djilas hier noch nicht als »neue Klasse« bezeichnet –, die jeden sozialistischen Impuls unterdrücke. Der Knackpunkt ihres Streits ist vielmehr der Zustand der Gesellschaft nach einer proletarischen Revolution, die Frage nach dem Charakter des Staatseigentums, welches sich nach Djilas noch ganz und gar nicht »sozialistisch« nennen könne – ein Gedanke, der später von Charles Bettelheim und anderen aufgegriffen und weiter entwickelt wurde. Dieses nachrevolutionäre Staatseigentum unterscheide sich zunächst nicht von einem kapitalistischen Staatsmonopol (S. 63) und sei nicht mehr und nicht weniger als ein »Vorabend des Sozialismus« (S. 35). Lediglich die Zielstellung, unverzüglich mit der Abschaffung des Staates beginnen zu sollen, sei eine andere als im staatsmonopolistischen Kapitalismus (S. 27).

Der neue Staat muss also erst sozialistisch werden, zunächst sei er ein staatskapitalistischer (S. 29). Erst die weitere Entwicklung würde zeigen, ob Staat und Bürokratie oder aber die
Rechte der Massen in der Wirtschaft gestärkt würden (S. 50). »Wenn aber die Diktatur des Proletariats in der Wirtschaft (…) nicht abstirbt (…) wenn die Diktatur ihre selbständige Rolle (…) beibehält, dann wird (…) der Staatskapitalismus freilich nicht zum Sozialismus werden« können (S. 28f.).

Die eigentliche revolutionäre Leistung sei es also nicht, in einer proletarischen Revolution das Privateigentum in kollektives Staatseigentum verwandelt zu haben – das könne der entwickelte Kapitalismus auch –, sondern mittels »Volkskontrolle« unverzüglich seine sozialistische Entwicklung einzuleiten. Sollte keine sozialistische Entwicklung gelingen, gibt es nach Djilas nur zwei (schlechte) Varianten: Entweder etabliert sich eine bürokratischstaatskapitalistische Ordnung oder eine privat-kapitalistische bürgerliche Gesellschaft (S.
65f.).

Was nach der Revolution also beginnen müsse, sei ein Klassenkampf um eine sozialistische Entwicklung. Djilas steht 1951 an vorderster Stelle in diesem Kampf. Es gibt in Jugoslawien schon Volksausschüsse und die Nationalversammlung (S. 67), aber noch sind die Arbeiterräte nicht wirklich verankert. Die Praxis dessen, was Djilas »Volkskontrolle« nennt, hat kaum begonnen (S. 69). Dieser Klassenkampf um die sozialistische Demokratie in Jugoslawien hat – nach Djilas – gleich zwei Gegner: »die bürokratisch-staatskapitalistischen und privat-kapitalistischen Elemente« (S. 69); nach nur wenigen Jahren scheint ihm dieser Kampf verloren, die »Elemente« haben sich zu einer neuen Klasse etabliert.3

Reicht eine politische Revolution?

Nur sechs Monate später antwortete Ernest Mandel, 1951 bereits ein führender Vertreter der trotzkistischen Vierten Internationale, auf diesen Beitrag.4 Wer annimmt, die beiden Marxisten und antistalinistischen Kommunisten müssten sich im Wesentlichen einig gewesen sein, irrt. Schon nach wenigen Sätzen kanzelt er Djilas Beitrag als nicht auf den Grundlagen des Marxismus stehend und als Kapitulation »vor der bürgerlichen Ideologie und der bürgerlichen Gesellschaft« ab (S. 71). Ich kann mir kaum vorstellen, dass danach noch eine solidarische Auseinandersetzung möglich war. Mandel belehrt Djilas ausführlich – als ob dieser das nicht gewusst hätte – über die widrigen historischen Umstände für die russische Revolution: Unterentwicklung, Isolation und der Sieg Stalins über Lenin und Trotzki – das ganze trotzkistische Programm. Es dient Mandel dazu, die ja auch von ihm gesehene »ausufernde Bürokratie« in Sowjetrussland auf eben solche sogenannten objektiven (unreife Basis, Isolation) und subjektiven (Stalins Sieg über seine GegnerInnen, korrupte Funktionäre) Mängel zurückzuführen. Djilas Überlegungen, dass Bürokratisierung und Stalinisierung die Folgen eines derart zentralisierten Staatseigentums sein könnten, also quasi »Strukturfehler«, wie wir es heute nennen würden, werden von Mandel scharf zurückgewiesen.

Und tatsächlich traf Dijlas Gedanke, dass nach der proletarischen Revolution nicht sofort ein sozialistisches Staatseigentum entstanden sei, das im besten Fall erst mittels Arbeiterräten im Kampf gegen »die Bürokratie« dazu werden könne, ins Herz der trotzkistischen Lehre vom sozialistischen Eigentum, welches ungeachtet eines »entarteten proletarischen Staates« (S. 92) seinen Charakter nicht verlöre. Nach trotzkistischer Lesart ist vielmehr eine politische Revolution nötig, um Entartung und Bürokratisierung zu beseitigen (S. 90). Während das Staatseigentum selbst nicht-kapitalistischen Charakter habe, sei lediglich die Verteilung kapitalistischer Natur (S. 89f.).

Mehr als ein Streit um Begriffe

Ebenso rigoros ist Mandels Kritik an der jugoslawischen KP, einen nationalen Alleingang zu versuchen. Mandel spricht von Illusionen (S. 77) und vom »nationalistischen Sündenfall der jugoslawischen Revolution« (S. 100), bezichtigt die jugoslawischen GenossInnen, der internationalen Arbeiterbewegung zu schaden, und erklärt die Vierte Internationale zur alleinigen Kraft, die den Weltsieg des Sozialismus anführen könne. Keine kritische Solidarität, sondern harter Machtkampf zwischen den verschiedenen antistalinistischen linken Strömungen. Und das, obwohl Mandel gerade in diesen Jahren den Bruch Titos mit Stalin für den Beginn des Zerfalls des Stalinismus gehalten hat? Diese scharfe Zurückweisung eines potentiellen Bündnispartners und das Beharren auf der »reinen Lehre« in einer Situation, wo ein Zusammenhalt aller Antistalinisten auf der historischen Tagesordnung gestanden hätte, gehörte nach meiner Meinung in eine kritische Aufarbeitung der eigenen trotzkistischen Geschichte.

Eine längere Arbeit des deutschen Marxisten Willi Huhn5 über den Staatskapitalismus in Russland rundet diese nicht nur historisch spannende Kontroverse ab.6 Willi Huhn, 1951 schon bekannt als Theoretiker, der sich kritisch sowohl mit den Ideen der kommunistischen als auch mit der sozialdemokratischen Bewegung auseinandersetzte, greift in seinem Beitrag nun wiederum Mandels Kritik an Djilas auf und weist nach, dass bereits Lenin von der nachrevolutionären russischen Gesellschaft als »Staatskapitalismus« und von der Bürokratenkaste als »kollektivem Gesamtkapitalisten« gesprochen hätte (S. 108). Ich meine allerdings, dass Huhn damit nicht den Kernpunkt der Differenz zwischen Mandel und Djilas getroffen hat, denn schon fünf Jahre nach seinem Beitrag von 1951 gibt Djilas den Begriff des Staatskapitalismus zugunsten des Gedankens auf, es würde sich bei den kommunistischen Diktaturen um ganz eigenständige Herrschafts- und Ausbeutungsgesellschaften handeln.7 Aber das jugoslawische Modell und die theoretischen Erklärungs- und Legitimationsversuche von Djilas interessieren Willi Huhn wohl auch nicht.

Mir dagegen erscheint Djilas Beitrag aktuell besonders lesenswert. Er ist widersprüchlich, manchmal unlogisch, zeigt aber den undogmatischen Versuch, die Situation in Jugoslawien begreifen zu wollen. Und er kommt dabei auf Ideen, an denen wir nicht vorbeikommen, wenn wir uns heute mit der Frage beschäftigen, welchen Charakter die »sozialistischen Revolutionen « eigentlich hatten und haben.

* Renate Hürtgen ist Historikerin und im Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost West aktiv.

Anmerkungen:
1 DIE EINHEIT, Monatsblatt für Politik, Wirtschaft und Kultur, Klagenfurt: Wutte, Sonderbeilage
1951.
2 Walter Gyssling: »Jugoslawien und seine Arbeiterselbstverwaltung«, online unter:
http://www.trend.infopar
tisan.net/trd1111/jugoselbst_gmh_0360.PDFA
3 Milovan Djilas: »Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems«, Wien-
München 1976 (Erstveröffentlichung 1957)
4 E. Germain: »Zur ›Theorie des Staatskapitalismus‹ in Sowjetrussland«, in: Jochen Gester
(Hg.): »Staat, Kapital, Kapitalismus, Klassen«, a.a.O., S. 71-102 (E. Germain war Ernest
Mandel).
5 Jochen Gester (Hg.): »Auf der Suche nach Rosas Erbe. Der deutsche Marxist Willy Huhn
(1909-1970)«, Die Buchmacherei, Berlin 2017 (siehe die Buchbesprechung in express 8/9
2018, S. 11)
6 Von dieser Kritik an der Kritik konnte Huhn lediglich 1952 einen kleinen Teil veröffentlichen.
Im Buch ist noch eine bisher unveröffentlichte Arbeit Willi Huhns von 1968 aufgenommen.
Vgl. »Staat, Kapital, Kapitalismus, Klassen«, a.a.O., S. 131-193.
7 Vgl. Djilas: »Die neue Klasse«, a.a.O.
express im Netz unter: www.express-afp.info


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