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„Graswurzelrevolution“ Nr. 358, April 2011

Erinnerung tut Not: Kronstadt 1921
Überraschender Antibolschewismus in der jungen Welt
Warum ein Buch über Kronstadt? Ist hier nicht alles dokumentiert, alles gesagt? Ist es nicht linker Alltagsverstand, dass auf dem Marinestützpunkt vor Petrograd 1921 keine Konterrevolution stattfand, sondern ein verzweifelter Kampf gegen die brutale Terrorherrschaft der Bolschewiki – und zwar mit dem Ziel einer echten Rätedemokratie?
In Manuel Kellners Einführung in den Trotzkismus (Reihe theorie.org, Schmetterling Verlag, 2004) ist jedenfalls zu lesen: „Ein tragischer [!] Tiefpunkt war das Jahr 1921 mit zahlreichen Protesten und Streiks und dem Aufstand von Kronstadt. Trotzki hat bis zum Ende seines Lebens für die Niederschlagung dieses Aufstands [dem es um was ging?] die politische Verantwortung übernommen [wie heldenhaft!]. So wie die überwältigende Mehrheit der Parteimitglieder damals [na dann!] war und blieb er der Meinung, dass die sowjetische Regierung bei Strafe des Untergangs dazu gezwungen war [die arme!]. Eine besondere persönliche Rolle als ‚Schlächter von Kronstadt’ spielte Trotzki aller­dings nicht [na dann!]. Das ist eine ursprünglich von anarchistischen Kreisen in die Welt gesetzte Legende.“ „Bloßgestellt“ wird die anarchistische Legende durch einen pauschalen Verweis auf eine Sammlung von Texten Lenins, Trotzkis u.a. über Kronstadt! Noch schöner wird es, wenn Georg Fülberth in seinem Buch über den „Sozialismus“ (Reihe „Basiswissen“, Papy Rossa Verlag, 2010) Kronstadt kein einziges Mal erwähnt!
Zum „Basiswissen“ über Sozialismus gehört allem Anschein nach anderes: „Er“, so Fülberth resümierend über den Realsozialismus, „hatte Leistungen [!] hervorgebracht und wies einige Vorzüge [gegenüber wem oder was?] auf, die ihn jedoch letztlich nicht auf Dauer in den Volksmassen verankern konnten.“ Dieses blöde Volk aber auch!
Vor dem Hintergrund solcher Publikationen sind Veröffentlichungen, die die Kronstädter Ereignisse in Erinnerung rufen, leider alles andere als überflüssig. Andererseits: Wird eine Artikelserie aus der jungen Welt – hier erschien der Text Gietingers 1997 ursprünglich – Aufklärendes bieten? Man halte seine Vorurteile zurück und lese erst einmal. Und Gietinger stellt klar: „Die größte Revolte, der die bolschewistische Herrschaft je ausgesetzt war, hatte begonnen. Und sie kam von links.“ (41)
Das ist doch schon einmal erfrischend, und insgesamt überrascht der nicht allzu lange Text durch eine konfrontative Schreibe und einen konsequenten Anti-Bolschewismus.
Einige Beispiele:
1.) „Trotzki organisierte die Rote Armee, baute diese nach klassischem Vorbild auf: Dem preußischen Kadavergehorsam. Dies bedeutete die Rücknahme wichtiger ‚Errungenschaften’ der Revolution (Milizsystem, Wahl der Offiziere, Soldatenräte) und war, wie die Zertrümmerung der deutschen Novemberrevolution, konterrevolutionär.“ (14)
2.) „‚Arbeit, Disziplin, Ordnung werden die sozialistische Sowjetrepublik retten’ hieß der Titel von Trotzkis Vorschlag zur Militarisierung der ganzen russischen Gesellschaft. ‚Sozialismus ist uns Organisation, Ordnung und Solidarität’, sagte der deutsche ‚Bolschewik’, der ‚Mehrheits-Sozialdemokrat’ Friedrich Ebert im Januar 1919 auf der Eröffnung der Nationalversammlung. Hatte er von Trotzki abgeschrieben? Oder klangen beide nur so ähnlich, weil sie Freunde des deutschen Militarismus waren?“ (15)
3.) „Das Land war nun praktisch im permanenten Aufstand gegen die städtische Herrschaft der Bolschewiki.
Lenin ordnete am 6. August 1918 an, dass jeder Bauer, der mit der Waffe in der Hand angetroffen wurde, sofort zu erschießen sei. Der deutsche ‚Mehrheitler’ Gustav Noske (SPD) hat einen solchen Befehl gegen die deutschen Arbeiter erst im März 1919 erteilt. Die Bolschewiki waren eben schneller.“ (19f.)
Gietinger, für den Kronstadt den „entscheidende[n] Wendepunkt der Russischen Revolution“ markiert (7), richtet gegen den Bolschewismus – „preußisch-bolschewistische[r] Kriegskommunismus“ (38) – jene analytische Polemik, wie sie im 19. Jahrhundert (nicht nur, aber vor allem) von anarchistischer Seite gegen Marx und den Marxismus insgesamt gerichtet wurde. Beispielsweise von André Léo, die Marx’ Verhalten in den Auseinandersetzungen innerhalb der Ersten Internationale wie folgt analogisierte: „Während Bismarck allen zwischen Rhein und Oder den Kopf verdrehte und Wilhelm sich zum Kaiser krönte, kürte sich Karl Marx zum Hohepriester der Internationale.“
Auf das Verhältnis von Marx zu den Bolschewiki geht Gietinger leider nicht ein, aber wenige Bemerkungen sprechen dafür, dass Gietinger Marx tendenziell als Libertären rezipiert.
So heißt es über die Kronstädter: Sie „wollten keinen Kapitalismus, kein Parlament und keinen freien Handel. Sie wollten Sozialismus, Marx’ freie Assoziation der Produzenten“ (56f.).
Man könnte hinzufügen, dass jene Idee der „freien Assoziation der Produzenten“ von einem Großteil der Internationale gerade gegen Marx’ zentralistisch ausgerichtetes Konzept verteidigt wurde. Hatte Marx doch erklärt: „Die Zukunft wird entscheiden, dass der Boden nur nationales Eigentum sein kann. Das Land an assoziierte Landarbeiter zu übergeben, würde heißen, die ganze Gesellschaft einer besonderen Klasse von Produzenten auszuliefern.“
Und sagten die Bolschewiki nicht: „Die Belegschaftsangehörigen zu Besitzern zu machen, käme einem Wechsel vom Privatkapitalismus zum Kollektivkapitalismus gleich, die kapitalistische Wirtschaftsordnung aber würde weiter bestehen bleiben. In unseren Putilow-Werken würden beispielsweise wenige Großaktionäre von einer größeren Anzahl Privilegierter abgelöst werden, die Privilegien als solche aber bestehen bleiben. Das wäre kleinbürgerlicher Proudhonismus. Wir marxistischen Kommunisten wollen den Kapitalismus mit der Wurzel ausrotten. Land, Produktionsmittel, Bergwerke, Banken, Handelsunternehmungen, alles muss verstaatlicht werden, und die Zügel des Staates müssen in den Händen der Kommunistischen Partei bleiben. So nur kann die marxistische Lehre von der Diktatur des Proletariats verwirklicht werden, ohne die es keinen Kommunismus gibt.“
Dass eine grundsätzliche Differenz zwischen Marx und den Bolschewiki bestehe, was Gie­tinger in einem im Anhang des Buches veröffentlichten Text („Das Missverständnis“) anhand der unterschiedlichen Positionierungen gegenüber der russischen Dorfgemeinde zu beweisen versucht, schlägt m.E. fehl und Gietinger muss selbst konstatieren, dass Marx „[n]icht unschuldig“ an der Politik der Bolschewiki sei (101). Und wenn bei Gietinger einmal vage von dem „von Marx geerbte[n] Kommuneprinzip“ die Rede ist (28), welches die Bolschewiki aufgegeben hätten, dann darf man ein wenig historische Konkretisierung gegenüber der Kommuneschrift von Marx erwarten, von der Arthur Rosenberg immerhin meinte: „Hier unterdrückt er [Marx] vollkommen jede theoretische oder taktische Meinungsverschiedenheit, die er selbst mit den Männern der Kommune gehabt hatte. (…) Theoretisch war dies ein teilweiser Rückzug des Marxismus vor dem Proudhonismus. (…) Die Schrift von Marx über den Bürgerkrieg von 1871 hat eine außerordentliche historische Bedeutung. Denn mit diesem kühnen Schritt annektierte Marx die Kommune für sich. Erst seitdem hat der Marxismus eine revolutionäre Tradition vor den Augen der Menschheit.“
Auch andere Stellen lassen sich kommentieren. So heißt es z.B.: „‚Die Kommunisten haben sich die alte Taktik der Jesuiten ‚Verleumdet, verleumdet, etwas bleibt ja vielleicht doch hängen’ vorzüglich angeeignet’, konstatierten die [Kronstädter] Rebellen (Rosa Luxemburg, hatte schon 10 Jahre zuvor Trotzki ähnliches nachgesagt).“ (46)
Ja, und AnarchistInnen haben dasselbe schon berechtigterweise Marx und Engels vorgeworfen, wie der gerade erschienene Band von Wolfgang Eckhardt über den Konflikt zwischen Marx und Bakunin in der Internationale eindrucksvoll nachzeichnet (siehe Wolfgang Eckhardt: Michael Bakunin, Konflikt mit Marx, Teil 2, Karin Kramer Verlag 2011; siehe dazu die Rezension in dieser GWR).
Gietingers Ausblenden dieser alten Streitereien führt ihn leider auch zu etwas fragwürdigen Schlussfolgerungen, wenn er erklärt: „Beide starken Männer Russlands [Lenin/Trotzki] waren Kinder des 19. Jahrhunderts, Freunde des Preußentums, der Disziplin und des Autokratismus.“ (78f.)
Aber das 19. Jahrhundert war doch nicht nur Disziplin und Autokratismus. Erst recht nicht innerhalb der sozialistischen Bewegung. Man lese die jetzt von Eckhardt zugänglich gemachten Stellungnahmen aus den Reihen der anti-autoritären Fraktionen der Internationale – in denen immer die Freiheit im Mittelpunkt steht – und es scheint nicht übertrieben, vielmehr den Sozialismus des 20. Jahrhundert als autoritären zu kennzeichnen und damit auch als – zumindest aus meiner Perspektive – ungeheuren Rückschritt gegenüber dem hoffnungsfrohen Treiben des 19. Jahrhunderts.
Etwas irritierend ist auch, wenn es bei Gietinger heißt: „Alle wichtigen Revolutionen dieses Jahrhunderts wurden von meuternden Matrosen ausgelöst oder begleitet“ (22) Spanien 1936? Diese kritischen Anmerkungen sollen aber nicht davon ablenken, dass Gietingers Text durchaus gelungen ist und dies nicht nur, weil er keineswegs einer marxzentrierten Perspektive unterliegt. Wie selbstverständlich wird da von „der im Oktober 1917 weitgefächerten Linken Russlands“ (55) gesprochen und Narodniki, AnarchistInnen und RätekommunistInnen als Stichwortgeber der Ideen der Kronstädter genannt (57).
Dass, obwohl sich Gietinger auf vielerlei anarchistische Texte zu Kronstadt bezieht, er nirgendwo auf Volins Die unbekannte Revolution zu sprechen kommt, überrascht. Volins Schrift, von der ein Teil unter dem Titel Der Aufstand von Kronstadt 2009 in zweiter Auflage im Unrast Verlag veröffentlicht wurde, sei allen Interessierten ausdrücklich ans Herz gelegt.
So erstaunt man jedenfalls über den kämpferischen Text sein kann, so sehr stellt sich Ernüchterung ein, wenn man die teilweise – je nach Geschmack und Stimmung – lächerlichen oder beschämenden LeserInnenbriefe liest, die auf Gietingers Ausführungen seinerzeit antworteten. „Wieder fordert mir ein Artikel“, heißt es da z.B., „der von Antibolschewismus/Antikommunismus und Geschichtsfälschungen strotzt und in einer Zeitung veröffentlicht wurde, die sich doch wohl radikal sozialistisch versteht, eine Geduldsprobe ab.
Nichts steht dagegen, dass sich auch ein relativ junger Mensch mit Geschichte befasst. Nur dann sollte er wirklich einschlägige Literatur bzw. Dokumente zu Rate ziehen. Zum Beispiel W. I. Lenins Darstellung der Kronstädter Ereignisse. Oder ist Lenin nicht der kompetenteste [!] in dieser Frage? Lenin hat jedenfalls die Kronstädter ‚dritte Revolution’ klar als von weißgardistischen Generälen unter Ausnutzung von Unzufriedenheiten, auch Fehlern der Bolschewiki, beeinflusste kleinbürgerliche Konterrevolution bezeichnet.“ (82)
Dass auch der zuständige Chefredakteur Holger Becker allem Anschein nach durch die Veröffentlichung Probleme bekommen hat, macht die Sache nur noch bitterer. Dass dieser sich für die Veröffentlichung aussprach, obwohl selbst anderer Meinung (7), verdient vielmehr Respekt und ist vorbildlich.
Etwas ärgerlich ist meines Erachtens nur Gietingers im Anhang veröffentlichte Rezension des Schwarzbuch des Kommunismus, wo über Noltes „selten dämliche Herleitung“ der „Nazis als Folge des Kommunismus“ hergezogen (115) und der Herausgeber Courtois zum ehemaligen „unangenehmen linksintellektuellen Dummschwätzer“ erklärt wird, der „sich seit 1989 (…) unter Beibehaltung“ einer „borniert-dogmatischen Denkweise zu[m] unangenehmen rechtsintellektuellen Dummschwätzer gewandelt“ hätte (114). Mag alles sein, aber Rudolf Rocker war weder rechts noch dumm, als er Anfang der 1930er Jahre erklärte: „Es muss überhaupt hier klar ausgesprochen werden, dass der Sieg des Bolschewismus über die russische Revolution der erste Auftakt der faschistischen Gegenrevolution in Europa gewesen ist.“

Philippe Kellermann


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