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„Junge Welt“, v. 9.4. 2018

Revolution ist Kleinkram
Eine Dokumentation geht »Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland« nach und idealisiert diese

Vielleicht hat sich dieses Buch zuviel vorgenommen. Jedenfalls für eine einzige Publikation. Es versucht eine Geschichte des Jahres 1917 in Russland von unten, es ediert die Protokolle des Fabrikkomitees der Petersburger Putilow-Werke aus dem Revolutionsjahr, und es beansprucht, eine Erklärung dafür zu finden, dass die Arbeitermacht, wie sie in der Februarrevolution zutage trat, schon ein Jahr später von den Bolschewiki relativ widerspruchslos liquidiert werden konnte.

Der aufschlussreichste und gleichzeitig unbefriedigendste Teil des Buches ist die Dokumentenedition, die etwa 150 der knapp 700 Seiten einnimmt. Sie folgt einer sowjetischen Publikation von 1979, die Koautorin Anita Friedetzky in Teilen aus dem Russischen übersetzt hat – leider nicht immer gut oder auch nur lesbar. Was soll zum Beispiel eine »Abschreibmaschinenkopie« (S. 512) sein? Ein Ärgernis ist die vollkommen willkürliche Transliteration russischer Texte ins Deutsche, die keiner irgendwie anerkannten Konvention folgt (»Rewolutzija«), und ein echtes Hindernis der Umstand, dass die Titel russischsprachiger Sekundärliteratur nicht etwa für diejenigen, die sie nutzen könnten, im Originaltext nach irgendeinem sinnvollen System – es gibt deren mehrere – in lateinische Buchstaben übertragen wurden, sondern ins Deutsche übersetzt. Davon hat niemand etwas: der Russischsprachige nicht, weil er die Titel erst wieder zurückübersetzen muss, um sie in der Bibliothek zu finden, der nicht Russischsprachige auch nicht, weil er die referenzierten Schriften ohnehin nicht versteht.

Die Dokumente selbst zeigen eine Arbeiterklasse, die ihre betrieblichen Angelegenheiten selbstbewusst in die Hand nimmt, sich aber auch in Kleinigkeiten verrennt: Sitzungen lang wird darüber diskutiert, wer eine Jobgarantie bekommen soll: Leute, die an die Front gehen, Leute, die ins Dorf wollen, um an der Frühjahrsbestellung teilzunehmen? Warum die einen ja, die anderen nicht? Kann man vertreten, dass die eine Kategorie von Arbeitern in Schlüsselpositionen eine Lohnerhöhung durchsetzt, wenn andere leer ausgehen? Es geht um Wohnungsfragen und Brennstoffe, das ganze Programm der »Mühen der Ebene«. Die Revolution ist die Resultante. Die hier dokumentierte Selbstverwaltung fand ihre Grenzen, wo ein gewaltsamer Zugriff auf das Eigentum der Bourgeoisie in der Logik der Entwicklung lag. Davor schreckten die Arbeiter zurück. Mehrfach werden die bürgerlichen Eigentümer aufgefordert, für die Zulieferung von Rohstoffen für die selbstverwalteten Betriebe zu sorgen. Waren die Revolutionäre von 1917 wirklich so naiv, vom Klassengegner zu erwarten, er werde eine Produktion subventionieren, die nicht mehr seinem Gewinn diente? Die Appelle zeigen, dass die Aussage der Autoren/Herausgeber, die eigentliche Revolution sei die vom Februar 1917 gewesen, nicht der Oktober, differenziert zu betrachten ist.

Gewiss, die These hat viel für sich. Tatsächlich wurde das zaristische System von Petersburger Arbeiterinnen und Arbeitern gestürzt, ohne dass und bevor die sozialistischen Parteien sich darüber im Klaren waren, was da überhaupt im Gange war. Nur stellt sich, wenn man die Dokumente im Zeitablauf liest, auch heraus, dass die Putilow-Arbeiter, als es um die militärische Sicherung der Revolution ging, gern – und ohne Zwang – auf die Führungserfahrung der Bolschewiki zurückgriffen. Deren Bedeutungszuwachs nach dem Kornilowputsch und infolge der konterrevolutionären Praxis der Provisorischen Regierung in der zweiten Jahreshälfte 1917 war keine Manipulation und keine Usurpation, sie entsprach den Bedürfnissen der Massen, die sich ihre Revolution nicht stehlen lassen wollten, und denen die Bolschewiki als Leute gegenübertraten, die wussten, was sie wollten, und wie sie es zu erreichen gedachten.

Ein anderes Thema ist, was die Bolschewiki aus diesem Vertrauen gemacht haben: was daran die von den Autoren unterstellte Perfidie war, was dagegen objektiver Zwang der Verhältnisse. Ja, es stimmt, die Bolschewiki haben schon Anfang 1918 die Fabrikkomitees entmachtet, ein Jahr später war nicht mehr viel von ihnen übrig. Jeder mit ein paar »braunen Bänden« im Regal kann nachlesen, wie Lenin im Laufe des Jahres 1918 zum Advokaten einer Rekonstruktion der kapitalistischen Arbeitsverhältnisse unter dem politischen Patronat des Sowjetstaates wurde. Weil sie effizient waren und die neugeborene Sowjetrepublik nicht auf Dauer von der Plünderung der 1917 vorgefundenen Vorräte leben konnte. Die einzigartige Erfahrung der Arbeiterselbstverwaltung des Jahres 1917 ging dabei vor die Hunde. Aber wäre das unter dem Druck der materiellen Not der Jahre 1918 und 1919 nicht ohnehin passiert? Sie hatte keine Chance, ihre Kapazitäten zur Bewältigung der katastrophalen Wirtschaftskrise zu beweisen, aber sie bleibt eben auch den Beweis schuldig, dass sie es gekonnt hätte. Die Herausgeber stehen auf der Seite der Petersburger Arbeiter von der Basis. Leider sind sie der Verlockung erlegen, diese Basisbewegung zu idealisieren. »Es war ein magischer Moment«, heißt es über einen der Tage Ende Februar. Das, Genossen, ist Kino, und keine Geschichtserkenntnis.

Reinhard Lauterbach


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