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„kultuRRevolution“ No 77/78 – 2020

Der »lange Marsch« eines ›altachtundsechziger‹ Intellektuellen

Von Jürgen Link

Bodo Zeuners 706 Seiten umfassende Sammlung exemplarischer »politischer und politikwissenschaftlicher Texte aus 50 Jahren« dokumentiert den ebenso exemplarischen – sowohl theoretischen wie praktischen – »langen Marsch« eines ›altachtundsechziger‹ Intellektuellen 1. Exemplarisch, weil der Autor als Assistent und später Professor an dem berühmten »OSI«, dem Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin, institutionell in einem Auge des Taifuns »Achtundsechzig« wirkte – aber auch, weil seine Entwicklung vom loyalen Sozialliberalen zum Radikaldemokraten und marxistisch inspirierten unabhängigen Linkssozialisten durch und nach 68 typisch für einen wichtigen Sektor der »Achtundsechziger« ist.

Es sind die »Konversionsverweigerer«, wie man sagen könnte – die die Konversion zum Kapitalismus (oder sogar zu Bombenkriegen gegen mit ›neuen Hitlers‹ gleichgesetzte Bevölkerungen) verweigerten, sich aber gleichwohl auch nicht resignativ ins ›unpolitische‹ Privatleben zurückzogen. Stärker als bei den »Konvertern«2 handelt es sich bei jeder und jedem von ihnen um unverwechselbare Singularitäten, und das gilt auch für Bodo Zeuner.

So war er etwa eine Zeitlang Journalist beim Spiegel und scheiterte dort an den Grenzen zugelassener Kritik. Diese und andere besondere Erfahrungen, die in seine Spielart von Politologie eingingen, schildert er in einer ausführlichen autobiographischen Einleitung, die später durch spezifische Einleitungen in die Hauptabschnitte ergänzt wird. Die größten dieser Abschnitte sind »Parteien und Parteiensysteme« und »Gewerkschaften und Arbeiterbewegung«.

Ich habe Bodo Zeuner erst spät persönlich kennengelernt, als wir gemeinsam an der Chinareise einer Gruppe engagierter Gewerkschafter teilnahmen, die sowohl Kontakte zu verschiedenen Richtungen staatlicher Gewerkschaften wie zu unabhängigen Labour Activists hergestellt hatte. Dieses von Bodo Zeuner weiter verfolgte Engagement ist in dem Sammelband ebenfalls dokumentiert. Ich hatte auch nicht bewusst mitbekommen, dass er zu den ständigen Mitarbeitern der Zeitschrift PROKLA und zwar zeitweilig einer besonderen Gewerkschaftsabteilung gehörte. Seine dort und im Umkreis publizierten Analysen stellen meines Erachtens den Kern seiner Dokumentation dar. Wir haben PROKLA stets als ein Organ betrachtet, das der kRR (in unserer Wunschvorstellung, vielleicht bloß Illusion) in arbeitsteiliger Kooperation hätte verbunden sein sollen. Wir hätten uns explizite gegenseitige Anschlussmöglichkeiten gewünscht.

Bodo Zeuners Beiträge zu PROKLA (plus thematisch verwandte Beiträge andernorts) markieren sehr gut die politökonomische und klassenpolitische Hauptdimension der Zeitschrift. Mit häufigen Anspielungen ironisiert er die späteren vermeidungstaktischen Ausweichmanö ver von PROKLA gegenüber ihrem Titel, der anfangs für »Probleme des Klassenkampfs« stand. Sollte man (wie alle Konverter, aber darüber hinaus die große Mehrheit der akademischen Sozialwissenschaft) den marxistischen Klassenbegriff aufgeben? Bodo Zeuner verteidigt ihn, und zwar vor allem gewerkschaftstheoretisch. Dabei ist die negative Seite der Verteidigung einleuchtender als die positive. Wenn die Auswüchse des »Individualisierungsansatzes« Lohnabhängige und Unternehmer/Manager zu bloßen homogenen Spielarten von »Individualisierung im Betrieb« machen möchten, dann verdient das Zeuners sarkastische Ironie. Aber kann man den Klassenbegriff ›positiv‹ verteidigen, ohne von einer Dialektik zwischen »objektiver« (Lohnabhängigkeit, Verkaufszwang der Arbeitskraft und damit der Lebensbasis) und »subjektiver« Klasse auszugehen, die es dann unbedingt ›upzudaten‹ gilt? Konversionsverweigerung heißt ja absolut nicht Wissens- und Lernverweigerung. Das Wissen betrifft die »subjektive« Klasse: Sie scheint nicht mehr zu existieren. Aber da kommen eben neue Wissensbereiche ins Spiel, die auch Zeuner unter den Stichworten Beck, Luhmann, Berger-Luckmann und Foucault diskutiert.

Auch wenn man die These gleicher Autopoiesis aller Teilsysteme zurecht als überzogen ablehnt, sind die bei Marx unter dem pauschalen Begriff der »Ideologie« gefassten Reproduktionszyklen wie Wissen/ Technik (etwa Digitalisierung), Sozialität (etwa Gender und Familie), Politik (etwa Sozialstaat), Kultur, Medien u.a. soweit ›relativ autonom‹, dass sie innerhalb des gesamten Kombinats der »Moderne« phasenweise dominant werden und phasenweise den ökonomischen Zyklus »überdeterminieren« können.

Hier zeigt sich ein Defizit nicht speziell des Autors, sondern des PROKLA-Ansatzes insgesamt, das sich gerade in der Dokumentation verdienstvoll herausprofiliert: Althussers Marxismus und überhaupt die ›French Theory‹, besonders auch Foucault mit seiner Diskurs- und Subjektivierungstheorie, ja Kategorien wie »Ideologie« bzw. Kultur, Diskurs und Subjektivität, fehlen weitestgehend. Nur durch ein Modell, das Zyklen-Kopplungen bzw. Überdeterminationen zu denken erlaubt, kann das Phänomen einer ›fehlenden‹ subjektiven Klasse bei Fortbestehen der objektiven Klasse begriffen werden. Anders gesagt: Die subjektive Klasse ist nicht »ableitbar« aus der objektiven, sondern ihr Auftauchen ist als historisches Ereignis zu fassen, das phasenweise durch interzyklische Kopplungen entsteht, von denen die objektive ökonomische Polarisierungstendenz (Zeuner) nur eine ist – und eine durch Kopplungen mit anderen Zyklen (z.B. sozialdemokratische Umverteilung, aber vor allem auch Normalismus) zeitweilig kompensierbare. Die ›subjektive‹ Entwicklung der Gewerkschaften auf ihrer objektiven Strukturbasis ist also tatsächlich ein entscheidendes empirisches Feld sowohl für die Geschichte der interzyklischen Kopplungen wie für die Unerbittlichkeit der Polarisierungstendenz zwischen Kapital und Arbeit und damit für die Geschichte der modernen Klassen. Diese doppelte Geschichte zeichnet die Dokumentation exemplarisch nach.

Vielleicht die wichtigste Umkopplung des letzten halben Jahrhunderts ist die mit dem Begriff »Neoliberalismus« bezeichnete: Sie bedeutet, wie in dem Text »Das Politische wird immer privater. Zu neoliberaler Privatisierung und linker Hilflosigkeit« von 1998 (386–403) analysiert wird, die Abkopplung der Ökonomie und der gesamten Sozialität vom politischen Zyklus des klassischen sozialdemokratischen ›Sozialstaats‹ und ihre Ankopplung an ein Subjektivitätsmodell: das Modell des privaten Entrepreneurs für beide Seiten des Antagonismus (der Polarität). Zeuner beschreibt die verschiedenen Spielarten von Privatisierung und ihre jeweiligen Konsequenzen: die des Staatskapitals (z.B. VW), die der öffentlichen Aufgaben (Post, Bahn, Wasser, Bildung), schließlich sogar die des staatlichen Gewaltmonopols (Sicherheitsunternehmen, Söldnermilitärs).

In weiteren Texten wird das jeweils ein wenig phasennachhinkende Einschwenken von SPD und DGB auf dieses umfassende Entpolitisierungsprogramm nachgezeichnet. Am Horizont dieser fatalen Tendenz steht die Gewerkschaft als »Dienstleistungsunternehmen« (426f.) – es wäre zu ergänzen: insbesondere als Versicherungsunternehmen gegen kompensationslose Arbeitslosigkeit. Die Unerbittlichkeit des Antagonismus erweist sich jedoch in den Tendenzen zur »Entgrenzung« (428–456) der DGB-Gewerkschaften in ihrer Krise multidimensionaler Schrumpfung.

Zeuner behandelt u.a. die Stichworte »Basis-Internationalismus« (ein praktisches Beispiel ist das China-Engagement) und »Social movement unionism«, also die Kopplung von Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen, u. a. mit der Empfehlung von Boykottkampagnen (447). Dabei geht es letztlich um kulturrevolutionäre Interventionen und also um wichtige Anschlusspunkte zum Projekt kRR. Solche Anschlüsse und Kopplungen behandelt Zeuner in den anderen Abschnitten über Politologie und Medien.

Anmerkungen

1 Dazu das Kapitel »Der lange Marsch durch die Institutionen«, 414– 417.
2 So ihr Spitzname in meinem Roman Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung, der sich als literarische und stark satirische Parallelaktion zu Zeuners Dokumentation lesen lässt.


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