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„Neue Rheinische Zeitung“ online-Flyer 273, v. 27.10.2010

Erfahrungen in der Sowjetunion
Anté Ciliga wurde 1898 in Istrien, damals zu Österreich-Ungarn gehörig, geboren und starb 1992 in Zagreb. Ein Jahr lang war er Auslandsvertreter der Komintern in Wien, als er sich 1925 entschied, in die Sowjetunion zu gehen. Begeistert für die Sache des Proletariats, wollte er an Ort und Stelle die Ergebnisse und Erfahrungen der Oktoberrevolution studieren. Aber bald war er zutiefst enttäuscht, schloss sich der trotzkistischen Opposition an und musste fünf Jahre in Gefängnissen und Lagern durchleben.

Seine Empörung über die soziale Spaltung und die unmenschlichen Verhältnisse führte dazu, dass er auch von Lenin Abstand nahm, weil der Revolutionsführer die Marschrichtung zu diesem „Staatskapitalismus“ einge-schlagen habe, indem die Fabrikkomitees der ArbeiterInnen mit dem Sieg der Bolschewiken durch die Staatsbürokratie wieder enteignet und die Belegschaften zu unterdrückten Lohnarbeiter- Innen dagradiert wurden. 1935 durfte Anté Ciliga als italienischer Staatsbürger endlich ausreisen, nachdem das zunächst mit allerlei Tricks verhindert werden sollte, um der sowjetischen Reputation im Ausland nicht zu schaden. 1941 landete er im Todeslager von Jasenovac, nachdem er von der jugoslawischen KP an die Polizei der Ustascha verraten worden war.

Anté Ciliga beschrieb ausführlich seine Erlebnisse und Eindrücke in der Sowjetunion. In Frankreich erschienen sie 1938 als Buch, das heftige Diskussionen auslöste. Auch Camus und Sartre, so die Herausgeber, waren gegensätzlicher Meinung über die Veröffentlichung, welche die Illusionen über die „Heimat aller Arbeiter“ zerstörte. 1953 erschien die deutsche Übersetzung in der BRD, aber im Vergleich zu Frankreich und Spanien fand sie kaum Resonanz. In Frankreich wurde das Buch mit dem Titel „Au Pays du Grand Mensonge“ (Im Land der großen Lüge) 1977 noch einmal vollständig verlegt. Nach Ciligas Tod erschien der Bericht 1995 auf Kroatisch und gleichzeitig in New York im Jahresband des Journal of Croatian Studies.

Die Erlebnisberichte und Schlussfolgerungen des einmal zutiefst überzeugten kroatischen Kommunisten Anté Ciliga hat der linke Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ nun erneut veröffentlicht. Der Text basiert unter dem Titel „Im Land der verwirrenden Lüge“ auf der deutschen Originalfassung von 1953. Um ihn in den Kontext der Biografie des Autors zu stellen, wurde am Schluss eine biografische Skizze mit einer Würdigung des Menschen Anté Ciliga von dem Autor Stephan Schwartz übernommen.(1)

Der Bericht umfasst etwa 260 Seiten und ist aufgeteilt in zwei Bücher. Das erste Buch beginnt mit schockierenden Enttäuschungen und enthält zahlreiche Beobachtungen, die der Autor eindringlich beschreibt. Als Historiker und Philosoph unterrichtete Ciliga eine Zeitlang an der Leningrader Hochschule und Akademie. Die unzähligen ArbeiterInnen Leningrads hätten den Stolz der Revolution noch an sich, aber gleichzeitig ist von der „roten Bourgeoisie“ die Rede, mit der die neuen MachthaberInnen gekennzeichnet werden. Die Ermordung des Leningrader Gouverneurs Kirow löste eine Verfolgungswelle aus, durch die Tausende von ArbeiterInnen nach Sibirien verbannt wurden. Im Milieu der neuen KarrieristInnen passten sich die Leute an. Die Wissenschaft wurde nach den Wünschen der Parteiführung manipuliert, der Lebensstandard einer neu entstehenden Führungselite lag mit seinen materiellen Privilegien deutlich über dem der gehorchenden ArbeiterInnen, die unter schwierigsten Bedingungen arbeiten mussten und kaum das Nötigste zum Leben hatten. Diese Einteilung galt sogar in den Gefängnissen. Haft- und Todesstrafen wurden häufig wegen Vergehen verhängt, die aus blanker Not begangen wurden. Die neu entstehende Klassengesellschaft stieß ihn ab. Ciliga sympathisierte mit dem einfachen Volk und schloss sich der trotzkistischen Opposition an, die mit der rigiden Durchsetzung des Ersten Fünfjahrplanes in die Fänge des allgegenwärtigen Geheimdienstes GPU geriet. Er kam ins Gefängnis, wo die Verhöre nur nachts stattfanden und Mitgefangene von Folterungen berichteten. Damit begann sein fünfjähriger Leidensweg durch das Labyrinth der sowjetischen Gefangenenlager bis nach Sibirien, von dem das zweite Buch handelt.

Die Berichte fallen unter die „desillusionierende Literatur“, die vor dem zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges wegen ihrer möglichen Demotivierung im Kampf gegen den Faschismus und gegen Restauration und Imperialismus zum ideologischen Arsenal der Konterrevolution gerechnet wurde. Selbst unter den TrotzkistInnen gab es eine massive Ablehnung, als Ciliga die Politik Lenins kritisierte. Der Text beinhaltet durchaus eine neue Aktualität nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Machtbereichs, weil er retrospektiv gelesen einen Grundstein des Scheiterns sichtbar werden lässt. Gefängnisse und Lager waren keine Randerscheinungen in dieser Gesellschaft. Die gesellschaftliche Polarisierung in Henker und Opfer mit ihren verzweigten Grauzonen richtete das Handeln vieler Menschen aus. Die Gesellschaft lebte alltäglich mit dieser Gewalt, sie wurde traumatisiert, verrohte und verleitete zum Opportunismus. Wie sich diese Stimmung und die Vorteilnahme in der sowjetischen Gesellschaft von oben aus breit machten, veranschaulichen die Berichte an einigen Stellen.

Der spanische Anarchist Abel Paz, Mitstreiter und Biograf des legendären Anarchisten Durruti, gab während einer Veranstaltung im Kölner Allerweltshaus auf die Frage aus dem Publikum nach der Aussicht auf eine neue Revolution in Europa die Antwort, diese habe sich mit dem Verrat an der Spanischen Revolution und den zahllosen negativen Erfahrungen der Menschen mit der stalinistischen Herrschaft in Mittelosteuropa auf unabsehbare Zeit erledigt.

Meiner Meinung nach müssen die inzwischen sehr verschwommenen und diskreditierten Begriffe Sozialismus und Kommunismus im Lichte der Erfahrung von Unmenschlichkeit und Scheitern ganz neu hinterfragt und diskutiert werden. Eine Aufarbeitung der Verbrechen ist bisher nur unzureichend geschehen, sei es aus Scham oder aus Angst vor dem Verlust von Illusionen oder um das Lehrgebäude des dogmatischen Marxismus nicht allzu sehr zu beschädigen. Mit der Neuauflage dieser erschütternden Berichte des jugoslawischen Kommunisten Anté Ciliga haben die Herausgeber einen mutigen Beitrag geleistet, der bei AntikapistalistInnen nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt und bei Einigen sogar wieder den alten Tonfall über den vermeintlichen Klassenverrat herauszulocken vermag. Aber ohne sich der Tatsache der sozialen Spaltung und Gewaltexzesse im sowjetischen Machtbereich zu stellen, wird es einen Weg in eine humanere, nachkapitalistische Gesellschaft nicht geben. Auch die Herausgeber schreiben im Vorwort, es sei lächerlich, sich an die Vorstellung zu klammern, dass sich dieses System in ähnlicher Weise noch einmal wiederholen könnte, es sei denn als Alptraum. Und damit lassen sie Rosa Luxemburg zu den Problemen der Russischen Revolution auch noch einmal zu Wort kommen. (PK)

(1) Revolutionary History (http://revolutionaryhistory.co.uk/euro/ciliga.html.)
WERNER RUHOFF


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