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Neue Rheinische Zeitung – online vom 07.02.08

… authentisch und leicht lesbar
Der im neoliberalen Gewand auftretende Kapitalismus führt zu einer stärkeren Verinnerlichung seiner Regeln. Mit „der Ausfransung der Ränder“ der „großen Aggregate der industriellen Arbeit“ (so der Autor Martin Dieckmann) setzte das ein, was seit Anfang der achtziger Jahre mit dem Begriff Prekarisierung gekennzeichnet ist.
Nach Ansicht von Dieckmann sind die inhaltlichen Bedeutungen der Begriffe Proletariat und Prekariat im Marxschen Sinne des freien Arbeiters zwei Seiten einer Medaille. Dabei kennzeichnet Prekariat aber die Entwicklung, die immer stärker an Bedeutung zunimmt: die Teilung der warenförmigen Arbeit als fließende Übergänge von Kern- und Randbelegschaften, in neue Selbstständige, Scheinselbstständige und Niedriglohnbereiche.
Die Folge: „die Macht“ der zentralistischen, bürokratischen Gewerkschaften als Interessensorganisationen der Arbeit implodiert. Die innerbetriebliche Aufteilung der Betriebe als aufeinander bezogene Märkte und die zunehmende Auslagerung von Produktions- und Dienstleistungsarbeiten in neue Selbstständigkeiten führt zur unmittelbaren Konfrontation mit der Konkurrenz. Gleichzeitig entstehen aber Freiräume, die Arbeit innerhalb der Regeln des Profits und der Konkurrenz selbstständiger zu gestalten.

Soziale Widerständigkeit
An den Widersprüchen dieser Entwicklung setzen die AutorInnen an. Die zehn Beiträge des Buches stammen aus Workshops und Vortragsreihen des Instituts für sozialökonomische Handlungsforschung (SEARI). Inhalte und Formen sozialer und widerständiger Selbstorganisation stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen und Überlegungen. Im Zusammenhang mit der neoliberalen Entwicklung und den darin eingebetteten Formen und Inhalten von Selbstorganisation beleuchten die AutorInnen die „gegenwärtig sich zeigende soziale Widerständigkeit“ mit ihren Erfolgen und Problemen und versuchen, daraus Anknüpfungspunkte für weitere theoretische Überlegungen und praktische Schritte abzuleiten.
Während in den ersten vier Beiträgen die theoretische Abhandlung im Vordergrund steht, enthalten die 3 Beiträge des zweiten Teils praktische Beispiele aus historischer und aktueller Sicht. Der dritte Teil des Bandes umfasst Beiträge, die sich mit Problemen der als typisch prekär gekennzeichneten Arbeitsverhältnisse beschäftigen.

Gegenseitige Angst
Selbstorganisierter Hartz IV-Gegner Foto: HD Hey, arbeiterfotografie.comDer Frage, warum der Widerstand unter den neuen Bedingungen des so genannten Postfordismus so schwierig ist, geht Holger Heide im ersten Beitrag mit drei Thesen nach. Das Verhältnis von lebendiger Arbeit und totem, vampiristischem Kapital beruhe psychologisch auf gegenseitiger Angst. Das Kapital (durch wen personalisiert?) habe Angst vor der Selbstbestimmung der lebendigen Arbeit. Uns binde die Angst aus dem kollektiven Trauma der gewaltsamen, historischen Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft an das Kapital. Ohne dieses kollektive Trauma ist der äußere Zwang als innerer Arbeitsantrieb nicht denkbar. Viele Menschen zerbrechen aber in der harten Konkurrenz um die Früchte des Marktes „an der Grenzenlosigkeit der selbst gesetzten Ansprüche an sich selbst“. Dem müsse ein weiterentwickelter Begriff von Solidarität entgegengesetzt werden, der von der abstrakten Ebene des Interesses auf die gefühlsmäßige Ebene des Bedürfnisses herunterkommt. In der Angst liege das Autonomiedefizit, und damit sei das Durchbrechen der Angstspirale der erste entscheidende Schritt, den die neuen sozialen Bewegungen bewusst angehen müssten.

Selbstbefreiend organisieren
In seinem Beitrag über die „organisierte Selbstorganisation“ weist Lars Meyer in Anlehnung an Hardt und Negri auf das „revolutionäre Potenzial“ der selbstregulierenden Organisationsformen. Dies ließe sich daran festmachen, dass die neuen Kooperationsbeziehungen der modernen Arbeitsorganisation mit einer moralischen Entwicklung einhergingen, die mit der Erfahrung von Gleichheit im Kontrast zur Unterordnung verbunden wäre. Die Grenzen und Paradoxien der eigenen Subjektivität unter den Bedingungen des Privateigentums durchsichtig machen und sich dabei selbstbefreiend zu organisieren, müsste dadurch geschehen, dass die Individuen lernen aus einer „inneren Autonomie“ zu handeln und dass auf allen gesellschaftlichen Ebenen Prozesse des Erfahrungsaustausches, der Wissensaneignung und der kritischen Selbstreflexion in Gang kommen, die den Anspruch der Gleichheit gegen alle Herrschaftsverhältnisse zur Geltung bringen.
Deutsch-französische Einblicke
„Selbstorganisation“ wird nötiger denn je | Titel Die Buchmacherei Mit den deutsch-französischen Einblicken in den selbstermächtigten Widerstand gegen die Zumutungen von Behörden und Kapital schildert der Autor Willi Hajek eine Reihe interessanter Beispiele von Widerständigkeit aus beiden Ländern. Die seit den neunziger Jahren in Frankreich erfolgte Herausbildung der dezentralen SUD-Gewerkschaften deutet auf eine Radikalisierung des Widerstandes. Die SUDs gewinnen an Boden, wie die Beispiele bei Post und Telekom zeigen. Sie verstehen sich nicht als Stellvertreterorganisationen für Lohnund Arbeitsfragen. Durch ganzheitliche Konzepte im Gesundheits- oder im Verkehrsbereich, in dem eine Föderation vom Taxi- und LKW-Fahrer über den Lokführer bis zum Piloten angestrebt wird, wird die Frage nach dem konkreten Nutzen für die Menschen zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung gemacht, in den auch die VerbraucherInnen einbezogen werden.
Siemenskonzern 2002
Inken Wanzek schildert, wie im Siemenskonzern 2002 aufgrund einer angekündigten Massenentlassung ein basisdemokratisches Netzwerk von KollegInnen entsteht, die spontan bereit sind, sich zu wehren. Dieses firmeninterne Netzwerk NCI ist autonom vom Konzern und von den Gewerkschaften. Die Verständigung erfolgt über E-mails und Treffen. Es gibt keine Hierarchie. Der Einfluss eines Mitglieds bestimmt sich nach dem Grad seiner Aktivität. Dieses Netzwerk lebt einen kontinuierlichen Prozess der Selbstverständigung sowie der Koordination von Handlungen und Zielen. Das NCI hat sich mit der Befriedungspolitik der IG Metall nicht einverstanden erklärt und verfügt inzwischen über einen Sitz im Betriebsrat.
Sergio Bologna beschreibt die Situation der prekären Selbstständigen in Italien, wo Kleinstbetriebe seit den achtziger Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Im Bemühen seinerseits um die gewerkschaftliche und parteipolitische Aufmerksamkeit für deren Probleme innerhalb der Linken schildert er die Hindernisse, auf die er stieß. Die Regionen, in denen sich die selbst- und schein-selbstständigen Arbeitsverhältnisse entwickelt und massenhaft verbreitet hatten, wurden von der Propaganda der Lega Nord und der Berlusconipartei erobert.

Denkanstöße
Ich hätte mir bei den theoretischen Texten eine verständlichere Lesbarkeit für NichtakademikerInnen gewünscht. Die praxisorientierten Beiträge sind am ehesten geeignet, die Diskussion, anknüpfend an eigene Erfahrungen und Bedürfnisse, zu verbreitern. Begriffe wie Postfordismus sollten vielleicht auch im Anhang kurz erläutert werden. Hilfreich finde ich die Literaturangaben hinter den Aufsätzen der AutorInnen. Zu dem Kreis der AutorInnen zählt leider niemand, die/der die Frage der Selbstorganisation im Zusammenhang der wertkritischen Diskussion, die seit Jahren in Gang ist, beleuchtet. Dort werden die Probleme der Selbstorganisation im theoretischen wie praktischen Versuch durch die Überwindung der Warenförmigkeit (freie Software, Umsonstläden, Selbstversorgung) untersucht. Für Menschen, die sich in selbstorganisierten Projekten, aber auch in den traditionellen Gewerkschaften engagieren, bietet das Buch Denkanstöße und kontroverse Anknüpfungspunkte für die nötige, zeitgemäße Solidarität von Widerstand und Selbstbefreiung. (PK)

Werner Ruhoff


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