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„Salzburger Nachrichten“ 21.11.2015

Rollentausch beim Zigarrendrehen

Arbeiterinnen. Mit ihrer Studie über die „Tschikweiber betrat die Historikerin Ingrid Bauer Neuland in der Geschichtswissenschaft. Die Lebensgeschichten der Tabakarbeiterinnen besitzen 28 Jahre nach dem Erscheinen immer noch Aktualität.

Andreas Praher

Der älteren Generation in Hallein ist die Zigarrenfabrik noch ein Begriff. Das Bild von streikenden, widerständigen Frauen ist in Erinnerung geblieben. Dass mehrheitlich Frauen das männliche Konsumgut Zigarre in Hand­arbeit herstellten, lag an arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen in Österreich. Und dass diese Frauen sich gewerkschaftlich stark organisierten, war ein Spezifikum der Tabakindustrie. Die Halleiner Zigarren­fabrik war mehr als ein florierendes Wirt­schaftsunternehmen. Sie war Ausdruck einer bestimmten Arbeiterinnenmentalität.

SN: Sie haben Mitte der 1980er-Jahre als eine der ersten Historikerinnen die Geschichte von Arbeiterinnen aufgegriffen. Was veranlasste Sie zu der Oral-History-Studie über die „Tschikweiber“?

Bauer: Als junge Historikerin war ich ge­prägt von der demokratischen Aufbruchstimmung der 70er-Jahre, den neuen sozia­len Bewegungen und der Frauenbewegung. Gleichzeitig erlebte ich eine innovative Phase der Geschichtswissenschaft, die sich geöffnet hat für neue Ansätze, neue histo­rische Akteure in den Blick genommen hat, eben breite Bevölkerungsschichten. Was mich noch sehr inspiriert hat, war die „Gra­be, wo du stehst“-Bewegung. Geschichte ist überall: Grabe in deinem Stadtviertel, in deinem Wohnblock, in dem Betrieb, in dem du arbeitest, in der Schule, die du besuchst. Das machte mich hellhörig für das Thema Zigarrenarbeiterinnen in Hallein. Ich hatte vorher nie etwas von ihnen gehört, und als ich mit dem Bus von Salzburg nach Hallein gefahren bin, haben zwei ältere Herren über die „Tschikweiber“ geredet, die resolut war en, anders zusammengehalten haben und am 1. Mai aufmarschiert sind und gestreikt haben. Das hat dem gängigen Frauenbild widersprochen, auch sozialen Stereotypen, i war der Beginn meiner Spuren suche.

SNI: War dieser Widerspruch der Reiz an der Thematik?

Zunächst war es sicherlich das. Diese Rollenumkehr, dass es Frauen waren, die im Vergleich zu ihren Männern die besseren Arbeitsplätze gehabt und mehr verdient haben, dass sie gern in die Zigarrenfabrik gegangen sind und ihre Mütter und Groß­mütter dort schon Arbeiterinnen waren. Und. ihr enorm hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad, über 90 Prozent, der war untypisch für diese Zeit. Salzburg war damals stark ländlich geprägt. Drei Viertel alle Frauen sind auf haushaltszentrierten Arbeitsplät­zen tätig gewesen, waren Mägde, Dienst­botinnen, Hausgehilfinnen oder mithelfen­de Familienangehörige. Da fallen 600 Frau­en in einer Fabrik, die Geld haben, auf. Die Frauen waren begehrt auf dem Heiratsmarkt. „Wenn einer eine erwischt hat, die in der Fabrik war. dann hat er zugegriffen“, hieß es. Das waren starke Geschichten, die diese Frauen verkörperten. Wobei sie von typischen Lebensrealitäten zwischen Fabrik und Daheim eingeholt worden sind. Viele mussten ihre Kinder zu Bauern geben. Heute würde man sagen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

SN: Ihre Forschungsarbeit war damals eine Pionierarbeit. Wie waren die Reaktionen?

Ich habe noch den Satz im Ohr: „Arbeiter­innengeschichte, ist das dein Ernst?“ Das hat sich aber rasch geändert und die Reso­nanz auf das Buch war groß. Sowohl in der Wissenschaft als auch weit über Salzburg hinaus. Das hat mich damals erstaunt, ist aber nachvollziehbar, weil neue Zugänge wie Alltagsgeschichte die Geschichtswis­senschaft popularisiert haben. Man spürt im Buch, dass es um einen anderen Blick geht, wie ein sehr konkretes, anschauli­ches, farbiges Bild von Arbeits- und Lebens­verhältnissen entfaltet wird. Es wird nicht über die Arbeiterinnen geschrieben, son­dern gemeinsam mit ihnen im Dialog. Die Darstellungsform ist fast ethnografisch.

SN: Mittlerweile, 28 Jahre nach dem ersten Buch, ist Frauengeschichte ‚ ein zentraler Forschungsgegenstand. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

Die historische Frauenforschung hat durch ihr Potenzial, Geschlechterstereotypen zu hinterfragen und aufzubrechen, viel bewegt. Weil man mit Vergleichsbeispielen aus der Geschichte anschaulich belegen konnte, dass damalige Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit einen historischen Entstehungskontext, haben. Dass sie gewachsen sind- und was gewachsen ist, kann verändert werden. Wie eine Gesellschaft mit Frauen und Männern umgeht, mit Männlichkeit und Weiblichkeit, welche Zuschreibungen es gibt, das ist diskutierbar, ist gestaltbar. Unter den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen rücken die „Tschikweiber“ in anderer Hinsicht wieder näher. Sie und ihre Familien waren einge­bunden in Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, prekäre soziale Verhältnisse. Diese Realitäten werden wieder drängender durch Phänomene der neuen Armut. Nicht nur, wenn man an Spanien und Griechenland denkt, wo sich das drastisch abzeichnet.Und das sind eben auch Themen der I930er-Jahre, die mit diesen Frauen verbun­den sind. Ihre Lebensgeschichten sind ab­geschlossen, aber an der Art und Weise, wie wir sie lesen, könnte sich im Kontext der aktuellen Realpolitik in vielen europäischen Ländern etwas ändern.

SN: Wie kann die Studie hier einen Beitrag leisten?

Geschichtsforschung leistet selten direkte Beiträge. Sie macht es möglich, eigene Schlüsse zu ziehen. Auch bei der aktuellen Flüchtlingsbewegung, bei der Historiker gefragt werden, wie war denn das früher, kann man aus historischen Kontexten nicht eins zu eins etwas ableiten, aber es ist ein Erkenntnisrahmen, aus dem man Aktuelles präziser in den Blick und in den Griff kriegt, indem man ein Vergleichsszenario hat. Aber um aus der Geschichte zu lernen, braucht man Leute, die etwas aus der Geschichte lernen wollen. Leute, die Fragen stellen und die, wenn sie dieses Buch lesen, andere Fra­gen stellen als in den 8oer-Jahren gestellt wurden. In denen es darum gegangen ist: Toll, da gibt es starke Frauen, die mir starke Geschichten erzählen. Vielleicht nimmt man jetzt, da Arbeitsverhältnisse aufgeweicht werden, das Prekäre mehr wahr. Wir sprechen heute von der Fabrik 4.0, wo der Workflow digitalisiert ist. Aber es geht um dasselbe. Was ist menschenwürdige Arbeit? Welche Spielräume gibt es? Welche Vorga­ben machen gesellschaftliche Strukturen und wie viel Handlungsmächtigkeit liegt beim Einzelnen?


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