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SoZ, Ausgabe Nr.2 / Januar 2013

“ … einen wichtigen Streik aus der Vergessenheit geholt“

Wenn heutige Linke die Stichworte „Ausländerstreik, Wilder Streik, 1973“ hören, woran wird da gedacht?  Mit Sicherheit an den Streik im Kölner Fordwerk,  der vor allem von Arbeitsmigranten getragen wurde und mit einer Niederlage der Streikenden endete. Dabei spielte eine erhebliche Rolle, dass Betriebsrat und IG Metall den Streik ablehnten und Versuche, den Streik auch auf  Teile der nicht-migrantischen  Belegschaft auszudehnen, fast komplett scheiterten. Die Schlagzeile von Springers „Bild“ ‚Deutsche Arbeiter kämpften ihr Werk frei‘ markierte  das Desaster dieses Arbeitskampfes.
Aber es gab in diesem bewegten Jahr 1973 nicht nur Niederlagen. Bei Pierburg im niederrheinischen Neuss fand ein bemerkenswerter Streik statt. In diesem Betrieb, in dem Vergaser für Autos und Flugzeuge gefertigt wurden, arbeiteten   fast 3000 Beschäftigte, überwiegend Frauen, darunter ca. 1700 Migrantinnen. Nach klassischemdeutschempatriarchalischem Gewerkschaftsverständnisbot diese Belegschaftszusammensetzung nicht die Voraussetzungen für einen gelingenden Arbeitskampf. Trotzdem endete in diesem  Betrieb ein fünftägiger Arbeitskampf mit dem Erfolg der Streikenden. Warum gelang hier etwas, was anderswo zum Desaster führte?
Dieter Braeg, 1973 stellvertretender Betriebsratsvorsitzender von Pierburg-Neuss, hat mit „Wilder Streik“ im Verlag „Die Buchmacherei“  diesen wichtigen Streik aus der Vergessenheit geholt. Ihm und dem Verlag gebührt ein großes Kompliment. Diese Publikation  ist im positiven Sinne ein „Lehr“- und Lese-Buch geworden.  Ich habe die 174 Seiten in einem Rutsch durchgelesen und die spannenden und gut geschriebenen Texte genossen.  Es beginnt mit dem Vorwortvon Dieter Braeg und einer Einführung von Peter Birke „Der Kampf ist mehr als Geschichte“, hier wird eine erste Einordnung des Arbeitskampfes in den historischen Kontext geleistet und die Nachwirkungen bis heute reflektiert. „Dieses Buch skizziert in der Sprache der 70er-Jahre Gewerkschafts- und Betriebsarbeit, die man als eine „linke“ bezeichnen kann. “
Der nächste Teil schildert die fünf Streiktage, den Verlauf und die Konflikte.  Integriert in die Darstellung sind Schilderungen von und Interviews mit Beteiligten, so mit einer damaligen Jugendvertreterin, die vierzig Jahre später auf „fünf Tage, die mein Leben beeinflussten“ zurückblickt. „Ein kluger Mann namens Ché hat mal gesagt, dass die Solidarität das Salz der Erde sei. Verstanden habe ich diesen Spruch erst in den fünf Tagen des August 1973.“ Solidarität braucht Bedingungen und Streiks werden auch dadurch gewonnen, dass vor dem Streik die Voraussetzungen für ein Gelingen geschaffen werden. Es gab auch 1973 eine Alternative zum Avantgardismus der marxistisch-leninistischen Studentenparteien und  zur gewerkschaftsbürokratischen Mitgliederverwaltung sozialdemokratischer Art. Und dafür  ist Pierburg ein Lehrstück, wie eine konfliktorientierte emanzipatorische Gewerkschaftsarbeit Lernprozesse befördern (nicht schaffen!) und unterstützen kann und wie die Selbstbewusstwerdung von Arbeiterinnen und Arbeitern verläuft. Ein schönes und berührendes Beispiel ist die Schilderung der Entwicklung einer griechischen Bandarbeiterin zur Streikaktiven. Es stammt aus dem Band „Elephteria oder die Reise ins Paradies“, der  ursprünglich 1975 in der Werkkreis-Reihe bei Fischer erschien. Ich habe diesen Band als Mut-Macher oft in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit eingesetzt. Pierburg machte deutlich, dass es kein Naturgesetz ist, dass deutsche und ausländische Arbeiter in unterschiedlichen Kampffronten stehen. Dass Frauen und selbst Un- und Angelernte in der Lage und bereit sind, für ihre tatsächlichen Interessen wie die Abschaffung von Leichtlohngruppen zu kämpfen, erstaunte viele Repräsentanten der „männlichen Facharbeitergewerkschaft“.Und dass es möglich ist, dass alle diese unterschiedlichen Schichten und Teile einer Belegschaft  einen Arbeitskampf durchstehen und gewinnen. Und dazu gehört auch, dass Lernprozesse mit dem „neutralen Staat“ und seinen Organen und der Justiz gemacht werden.
Für den Polizeipräsidenten von Neuss war von Anfang an klar worum es ging. „Wilder Streik – das ist Revolution!“In der obrigkeitsstaatlichen Tradition der Adenauer-Ära helfen gegen Demokraten nur Soldaten.  Ersatzweise darf auch die Polizei ran. Aber in Neuss bei Pierburg gelang den Herrschenden nicht, was bei Ford Köln gelungen war. Die Belegschaft war sich einig, sie hatte die Gewerkschaft und den Betriebsrat hinter und nicht gegen sich und auch in der Öffentlichkeit war die Legitimität des Streiks vermittelt.
Dass Arbeitgeber ihre „Niederlagen in Siege verwandeln“ wollen, ist bekannt und bei Pierburg wollte er nach dem Streik die Führung des Betriebsrates (unter ihnen auch Dieter Braeg) fristlos kündigen. Eine Begründung :Verletzung der Betriebsverfassung.  Damit kam er allerdings nicht durch. Hierzu sind im Anhang einige Dokumente abgedruckt.
Als Sahnehäubchen mit ausreichend Schokostreuseln ist dem Buch eine DVD beigefügt mit dem 42 Minuten- Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“aus dem Jahr 1973. Erstellt hatte ihn die Fernsehjournalistin Luc Jochimsen, heute eher als Politikerin der „Linkspartei“ bekannt.
Braeg versteht Buch und DVD als „Anregung dazu, eine Diskussion über jene Demokratie zu führen, die endlich nicht an den Betriebstoren enden, sondern gesellschaftsverändernd in die Betriebe zurückkehren muss.“ (S. 9)
Ich möchte hinzufügen, dass beide auch anregen darüber nachzudenken, wann und unter welchen Bedingungen Menschen anfangen, für ihre Interessensolidarisch zu kämpfen und was heute daraus zu lernen ist. Die österreichische Gruppe „Schmetterlinge“ war in den Siebzigern oft bei Streiks mit ihren Liedern präsent. Ein Refrain passt als Resümee dieser Besprechung:
„Nichts kann uns dazu bringen,  habacht am Fleck zu stehen,  und niemand kann uns zwingen,  einen Fehler zweimal zu begehn. Wir lernen im Vorwärtsgehn, wir lernen im Gehn.“(1)
Verfasser: Ulrich Peter, Berufsschullehrer und Gewerkschafter in Berlin, 1973 gewerkschaftlicher Jugendfunktionär im Ruhrgebiet

(1) Zum Pierburg-Streik sind noch zu empfehlen:

  • Redaktionskollektiv „EXPRESS“ Spontane Streiks 1973 – Krise der Gewerkschaftspolitik“, Offenbach 1974, bes. S. 78 – 81
  • Pierburg-Autorenkollektiv „Pierburg-Neuss:Deutsche und ausländische Arbeiter- Ein Gegner-Ein Kampf“, ISP-Verlag 1974

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