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Syndikalismus Dezember 2012
„Extrem dürftig“
Die Idee, sich mit den Bedingungen und Voraussetzungen für eine libertäre Gesellschaft auseinander zu setzen, findet meine vollständige Unterstützung. Allerdings sollten neuzeitliche Erörterungen bitteschön auch Handlungsanweisungen und Empfehlungen enthalten, wie wir dann dorthin gelangen könnten. Allein die Aufforderung, doch Kollektive zu gründen, ohne arbeiterselbstverwaltete Selbstbestimmungsmodelle zu beschreiben, ist etwas dürftig.
Die Ankündigung dieses Traktates erinnerte mich sofort an das Selbstverständnis der Londoner Group Solidarity aus dem Jahre 1973 – As we see it – As we don’t see it [1]. Doch die Enttäuschung war beträchtlich,denn deren Vorschläge und Ansichten sind deutlicher was den Prozess des Übergangs in eine libertäre Gesellschaft beschreibt, ohne als trotzkistisches Übergangsprogramm gebrandmarkt werden zu können.
Bereits auf S. 11 ergreift einen das Grauen, wenn der Autor Gerd Stange behauptet, «die Enttäuschung des Proletariats über die Ohnmacht der Arbeiterbewegung hat immer wieder Massen von Arbeitern zu reaktionären und faschistischen Parteien überlaufen lassen.» So weit, so richtig – auch wenn ‚Massen’ nicht zwingend ‚Mehrheit’ bedeutet –, aber der sofort nachfolgende Satz ist entwaffnend dumm: «In den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts schien gesellschaftliche Veränderung von niemandem mehr gewollt. Resignation breitete sich» aus … Soviel zu den Kenntnissen dieses Herrn. Mitte der Fünfziger Jahre setzte das so genannte Ehrhardtsche (SS-geplante) ‚Wirtschaftswunder’ ein, der Wohlstand prosperierte – und dem erwachsenenbildenden Körperpsychologen Stange fällt als gesellschaftliche Analyse nur ein «schien» ein. Bitte tanze uns mal den Begriff ‚Widerstand’ …. Der dann zehn Jahre später – wohl aus ebenso unerklärlichen Garküchen – auftauchte (die 1969er Streikbewegung) und mit Willy Brandts ‚Mehr Demokratie-wagen’-SPD-Wahlsieg ersäuft wurde. Die aus der Kloake der Geheimdienste auftauchende RAF erwürgte dann den neuerlichen Auftritt einer emanzipatorischen – und vor allem – multikulturellen Arbeiterbewegung in Deutschland endgültig mit ihrem pastoralen Terrorismus. Aber das hat Stange wohl alles verpennt oder verdrängt.
Wer Behauptungen aufstellt und sich dann ganz von einer geschichtlichen Analyse abkoppelt, der ist zum Scheitern verurteilt, egal was für einen klugen Brei er sonst noch verzapft. Auch bei Stange geht es ganz entschieden darum, dass wir den Kapitalismus nur überwinden können, wenn wir endlich anfangen, Fakten zu schaffen. Und das bedeutet, eben nicht auf den ‚Kommenden Aufstand’ zu warten oder ihn herbeizuagitieren. Auch dieser Aufstand würde «massakriert» werden, da stimme ich ihm zu.
Der Abschied vom Proletariat mag sehr anarchistisch klingen, nur – wer sonst soll denn die Produktion aufrecht erhalten, damit wir nicht alle verhungern? Besonders, wenn wir uns die Vorstellung zu Gemüte führen, dass jeder Mensch an gesellschaftlich notwendiger Tätigkeit in zehn Jahren nicht mehr als 4.000 Stunden abzuleisten hat (grob gerechnet geht der Autor von 200.000 Lebens«arbeits»stunden aus) – per anno also gerade einmal 400 Stunden, das bedeutet dann immerhin ein 50-jähriges «Arbeits»leben. Das dürfte etwas eng werden. Aber für Gürtelengerschnallen ist Stange ohnehin – mag sein, dass die französische Provence mehr Naturalien abgibt, als eine Großstadt … und nicht jeder besitzt ein eigenes Gästehaus im freundlichen sonnigen Süden. Ebenfalls unscharf seine Kritik an der «Wachstumsideologie», die er aber nicht mit einem einfachen «Konsumverzicht» kontern möchte; das dürfte für die vielen Hungernden der Erde wohl auch extrem zynisch klingen. Wie deren Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wohnung und Bildung bei einer 8-Stunden-Woche befriedigt werden sollen, mag Stange erklären, ich kann es nicht. Allein auf einem Schiff dürfte das zum Untergang führen, entweder, weil zu viele Matrosen an Deck rumturnen und auf ihre Kurz-Arbeit warten oder weil sie wegen zu wenig Personal absaufen.
Die Gegnerschaft zur «den Kapitalismus mit generierenden Arbeiterklasse» («Der Gegner des Kapitalismus ist nicht das Proletariat, so wenig wie der Träger des Kapitalismus der Kapitalist ist»; S. 11) macht mich wirklich sprachlos. Natürlich kämpft die aktive Arbeiterbewegung einerseits für Verbesserungen im Kapitalismus (sie steht zweifelsohne nicht außerhalb des System der Ausbeutungsverhältnisse), ihr aber vorzuwerfen, sie gehöre zur Maschinerie des Systems – das dürfte kaum die freie Entscheidung der Mehrheit der Klasse sein. Für eine sozialrevolutionäre, klassenkämpferische Arbeiterbewegung trifft das jedenfalls nicht zu – sie kämpft ja gerade für die Aufhebung der Lohnarbeit und für eine libertäre Gesellschaft. Eben das ist diesem Autor wohl nicht einsichtig.
Wer sind dann die Objekte der Veränderung, wenn es nicht das «Proletariat» noch irgendwelche «Randgruppen» sind, «die zwischen dem Wunsch nach Integration durch Arbeit und der Verzweiflung angesichts der Erbarmungslosigkeit ihrer Mitmenschen» zerrieben werden, weil ihre «Heterogenität» auch für gesellschaftliche Veränderungen «aussichtslos» sind? (S. 10/11) Ohne Forderungen wie «Weg mit …!» fängt nach Stange «die Arbeit an» (sic!) und er fordert positiv: «Her mit der libertären Gesellschaft!» (S. 10/11)«Das Übel des Kapitalismus», schreibt Stange, «ist nicht der Kapitalist, sondern das Kapital» (S. 36) – deshalb will er auch das Geld als Tauschmittel nicht abschaffen. Wie er dann den Kapitalismus «unschädlich» (S. 35) machen will, bleibt er schuldig. «Das Biest muss sterben» (S. 17) ist also nur ein lächerlicher Slogan. Genau wie dieser: «Die Privatheit der betrieblichen Sphäre wird abgeschafft» (S. 36) Klingt alles wunderschön simple, wir gründen alle irgendwelche Kollektive (womit?) – und stellen «die bürgerliche Demokratie vom Kopf auf die Füße». (S. 45) Vor allem dann, wenn Erbschaften abgeschafft werden sollen («Vermögen kann nicht vererbt werden», S. 62). Auch hier eine gewisse Unlogik – vererben kann Mensch nur, wenn er/sie vorher Reichtum erworben hat. Woher kommt das denn noch? Achso, wir reden hier plötzlich wieder über ein Übergangsstadium von der noch irgendwie kapitalistisch funktionieren zur libertären Gesellschaft?
Der Autor ist Deutscher – und eben kein Franzose, der die Geschichte der syndikalistischen Bewegung kennt. Er betreibt andere Studien und arbeitete in Mini-Kollektiven (Buchladen in Hamburg, Erwachsenenbildung in Hüll), die ich einfach als kleinbürgerliche Versuche betrachte, sich selbst ein schönes Leben auf dem Wege zur Anarchie zu bereiten. Das ist ja per se okay, aber keine gesellschaftliche Alternative für die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung.
Allein der Aufruf, sich vernetzende Kollektive zu gründen – die wie Longo Mai in Südfrankreich «solidarisch und ohne pekuniäre Aufrechnung von Gemeinschaft und Solidarität (ohne Geld) leben und sich untereinander austauschen» – und von Wohngebietsgemeinschaften und Basisgruppen von maximal 30-50 Personen (ebenso die «Arbeitsfelder Betriebe») zur lokalen Selbstverwaltung zu gelangen, das ist extrem dürftig und hilft als politisches Essay wenig weiter. Es ist ebenso belanglos wie überflüssig!
fm
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