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Zeitschrift „Vorwärts“ (Schweiz) v. 20.1. 2017

Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution wird uns eine Flut von Büchern erwarten, deren AutorIn-nen uns erklären werden, warum die Oktoberrevo­lution von Anfang an ein Verbrechen war. Charles Bettelheim gehörte nicht dazu. Der französische Soziologe hatte Bekanntheit errungen als linker Kritiker der Sowjetunion und des Realsozialismus und machte dabei immer deutlich, dass sein Ziel ein wirklicher Sozialismus ist. Eine Apologie der kapita­listischen Verhältnisse lag dem 1903 in Paris gebo­renen und dort 2006 verstorbenen engagierten In­tellektuellen fern. Bettelheims besondere Stärke war seine profunde Kenntnis der ökonomischen Verhält­nisse in der Sowjetunion und den realsozialistischen Staaten. Er begründete nicht moralisch, sondern mit seiner profunden Marx-Kenntnis, den Wider­spruch zwischen Anspruch und Realität in der real­sozialistischen Ökonomie. Wer heute das nur noch antiquarisch erhältliche 1970 erschienene Buch «Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen» liest, bekommt eine gute Einführung in die präzise Argumentationsweise von Bettelheim. Dort weist er überzeugend nach, dass es falsch ist, Sozialismus mit Planwirtschaft und Verstaatlichung sowie Kapi­talismus mit Markt gleichzusetzen. Bettelheim weist darauf hin, dass die formaljuristische Ebene noch keinen Aufschluss über die realen Produktionsver­hältnisse gibt und Staatseigentum keine wirkliche Vergesellschaftung bedeutet. Es können auch in einer verstaatlichen Ökonomie kapitalistische Pro­duktionsverhältnisse vorherrschen, so Bettelheims auf Texte von Marx und Engels gestützte Argumente.

Eine Form von Staatskapitalismus

In dem kürzlich im kleinen Berliner Verlag «Die Buchmacherei» erstmals in deutscher Sprache her­ausgegebenen Bände 3 und 4 seinen Monumental­werkes «Klassenkämpfe in der UdSSR» spitzt Bettel­heim seine Kritik am sowjetischen Modell fort. Er bezeichnet es als einen Staatskapitalismus, der wei­terhin auf Ausbeutung von Arbeitskraft basiert. Dabei kann sich der Soziologe nicht nur auf Marx, sondern auch auf Lenin berufen. Der hat mehrmals erklärt, dass die Bolschewiki in der Sowjetunion nicht den Sozialismus aufbauen, sondern den Kapitalismus entwickeln müssen. Das war nun keine miese Finte der Bolschewiki oder gar ein Betrug an den Massen, die die Revolution gemacht haben. Diese Entwick­lung war vielmehr der tragischen Einsamkeit der Bolschewiki geschuldet. Nachdem alle anderen Rä­terepubliken blutig zerschlagen worden waren, sollte ausgerechnet das kapitalistisch noch kaum entwi­ckelte Russland das Modell für den Aufbau des Sozi­alismus werden. Während Lenin diese Widersprüche noch benannte und sogar einmal davon sprach, dass eine neue kommunistische Partei gegründet werden müsste, die die ursprünglichen Ideen der Revolution nun gegen die Staatspartei erkämpfen müsse, haben seine NachfolgerInnen diese Widersprüche zunächst ausgeblendet und dann in der Stalin Ära blutig un­terdrückt. Die ersten Opfer wurden die ArbeiterInnen und die Mitglieder der Bolschewiki. Bettelheim weist überzeugend nach, wie mit der Etablierung eines besonderen Typs von Staatskapitalismus in der UdSSR die ArbeiterInnen mehr und mehr entmachtet wur­den. Dabei macht er aber auch deutlich, dass dieser Prozess keineswegs reibungslos vor sich ging und sich grosse Teile der bolschewistischen AktivistInnen gegen diesen Kurs wehrten.

Klassengesellschaft neuen Typs

Die profunden Kenntnisse der sowjetischen Verhältnisse und besonders der Ökonomie zeigen sich da, wo Bettelheim die Debatte über die Be-triebsleiterInnen nachzeichnet. Die hatten nach der Revolution massiv an Autorität eingebüsst. Statt­dessen haben die Arbeiterkomitees viel Einfluss gehabt, der immer mehr beschnitten wurde, doch auch dieser Prozess war keineswegs linear. Wenn die ArbeiterInnenrechte zu stark eingeschränkt wurden, initiierte die Partei wieder eine Kampagne gegen die Macht der TechnikerInnen. Zudem wurden die Ge­werkschaften aufgefordert, die Interessen der Arbei-terInnen besser zu vertreten. Ob solche Kampagnen reiner Populismus waren oder ob sie auch ein Aus­druck der improvisierten Politik der Bolschewiki war, die gegenüber ihrem eigenen Selbstbild und der Pro­paganda oft reagierten, lässt Bettelheim offen.

Sehr differenziert betrachtet Bettelheim auch die Stachanow-Bewegung. Dabei habe es sich zu­nächst um eine Initiative gehandelt, die bei Seg­menten der FacharbeiterInnen entstanden ist, die die Möglichkeiten der ArbeiterInnenmacht nutz­ten, die es nach der Oktoberrevolution gegeben hat. Doch bald wurde diese Initiative von der Staatspar­tei vereinnahmt und verfälscht. Auf einmal wurden überall Stachanow-Wettbewerbe ausgerufen, die meist keinerlei Erfolge brachten. So wurde eine In­itiative von unten abgewürgt. Teile des Proletariats reagierten darauf allergisch, weil damit die Arbeits­normen erhöht wurden. Bettelheim kommt auch zu dem Schluss, dass die bolschewistische Basis durch­aus aus einem Teil der FacharbeiterInnen bestand. Es gab erfolgreiche Kampagnen, um mehr Arbeiter-Innen in die Partei aufzunehmen. Allerdings sei ein Teil der Neumitglieder gleich in Funktionärsposten aufgerückt und habe sich so von der proletarischen Herkunft entfernt. Bettelheim zeigt auch auf, dass das Nomenklatura-System hierarchisch gegliedert war und es unterschiedliche Zugänge zu Vergüns­tigungen aller Art gab. So bildete sich eine Klassen­gesellschaft neuen Typs heraus. Ein Teil der alten FacharbeiterInnen wurde zur Nomenklatura und beutete andere ArbeiterInnensegmente aus, die oft erst aus der Landwirtschaft mehr oder weniger freiwillig abwanderten. Die rigide Politik gegen die Bäuerinnen und Bauern erinnert auch an die ur­sprüngliche Akkumulation im Kapitalismus, wo das Bauernlegen ein wichtiger Bestandteil dafür war. Diese Aspekte werden von Bettelheim in klarer Dik­tion benannt und werden für eine hoffentlich kont­roverse Debatte sorgen.

Einfluss der Neuen Philosophie

Doch leider bleibt das Buch nicht bei einer kommunistischen Kritik an der Sowjetunion stehen. An mehreren Stellen wird der Westen gelobt und gerade im zweiten Teil wird in eindeutig totalitaris-mustheoretischer Art und Weise über die Sowjetuni­on gesprochen. Hier wird deutlich, dass das Buch zumindest im zweiten Teil zunehmend von der so­genannten Neuen Philosophie kontaminiert ist, die sich bald als Vorkämpferin des freien Westens gegen den östlichen Despotismus aufspielte. Solche Töne kommen auch bei Bettelheim vor allem im hinteren Teil des Buches vor. Da hat er sein Fachgebiet verlas­sen und allerlei Theoriefragmente der Neuen Philo­sophie verwendet, deren Ziel ein Kampf gegen alle Formen linker Politik war. Einige der in dem Buch häufig zitierten WissenschaftlerInnen haben später das berüchtigte Schwarzbuch Kommunismus her­ausgegeben. So zeigt sich an diesem Buch ein zwei­facher Bettelheim: Der präzise argumentierende mit profunder Marx-Kenntnis operierende Ökonom und der von der Neuen Philosophie beeinflusste Totalitarismustheoretiker.

Peter Nowak


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