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analyse & kritik Ausgabe 480, Februar 2013
„Der Kampf ist mehr als Geschichte“
Vom 13. bis 17. August des Jahres 1973 legten bis zu2.000 Arbeiter_innen in der Firma Pierburg in Neuss ohne gewerkschaftliche Unterstützung die Arbeit nieder. Als „wilder“ Streik war dies nach bundesdeutschem Recht einkrimineller Akt. Für die migrantischen Arbeiterinnen, die den Streik initiierten, war es hingegen der einzige Weg, die ihnen vorenthaltenen Rechte einzufordern und gegen eine doppelte Lohndiskriminierung als Frauen und Migrantinnen zu protestierten. Die kompromisslose Haltung des autoritär-patriarchalen Unternehmers Alfred Pierburg und das brutale Vorgehen der Polizei gegen die streikenden Frauen konnten nicht verhindern, dass er zu einem der erfolgreichsten Streiks der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte wurde – nicht nur, weil innerhalb von fünf Tagen nahezu alle Forderungen durchgesetzt werden konnten. Das eigentlich Bemerkenswerte war die übergreifende Solidarisierung innerhalb der Belegschaft, die sich zu 70 % aus migrantischen und zu 30 % aus deutschen Arbeitern und vor allem Arbeiterinnen zusammensetzte. Der Streik bei Pierburg wurde zu einem international bekannten Symbol der Solidarität als Basis für einen erfolgreichen Arbeitskampf, geriet jedoch im Zuge voranschreitender Neoliberalisierung in Vergessenheit.
Das Wissen um den Streik bei Pierburg wieder in Erinnerung zu bringen, macht die große Bedeutung der von Dieter Braeg herausgegebenen Materialien-Sammlung aus. In dem beim Verlag „Die Buchmacherei“ erschienenen Band sind vorrangig historische Dokumente aus dem Zeitraum 1973 bis 1977 abgedruckt. Sie ermöglichen es, der/dem Lesenden sich dem Ereignis vorrangig aus der Perspektive eines linken Betriebsratsmitglieds zu nähern, da der Herausgeber selbst von 1971 bis 2004 bei Pierburg in Neuss angestellt und in der betreffenden Zeit stellvertretender Betriebsratsvorsitzende sowie als Autor oder Mitautor an fast allen im Buch abgedruckten historischen Dokumenten beteiligt war. Ergänzt werden die Texte durch einen auf DVD beigelegten Dokumentarfilm, der unter dem Titel „Ihr Kampf ist unser Kampf“ den Streikverlauf in Bildern festhält und von Edith Schmidt und David Wittenberg zusammen mit den streikenden Arbeiter_innen von Pierburg erstellt wurde.
Das Buch dokumentiert chronologisch die betrieblichen Auseinandersetzungen zwischen Unternehmensleitung und Teilen der Belegschaft, die im August 1973 weder begannen noch endeten. Der Streik war nicht spontan, sondern Höhepunkt von seit Jahren sich zuspitzenden Konflikten und Resultat eines kollektiven Lern-, Kommunikations- und Mobilisierungsprozesses innerhalb der Belegschaft. Zudem war die Firma Pierburg einer der wenigen Betriebe in der Bundesrepublik in dem sich ein zur Hälfte migrantisch besetzter, linker Betriebsrat etablierte. Braeg zeigt in seinen Texten die Handlungsspielräume auf, die es für einen Betriebsrat durchaus geben konnte, sich trotz der Einschränkungen durch Betriebsverfassungsgesetz und der darin verordneten Friedenspflicht solidarisch mit den Streikenden zu zeigen und sich für die Interessen der migrantischenArbeiter_innen einzusetzen, die von den Gewerkschaften kaum repräsentiert wurden.
Die große Stärke dieser Materialiensammlung ist, den Streik bei Pierburg als Teil einer Geschichte migrantischen Widerstandes in der Bundesrepublik wieder in Erinnerung zu bringen. Der Pierburg-Streik ist im Kontext einer Reihe wilder Streiks zu betrachten, die überwiegend migrantisch geprägt waren und im Jahre 1973 ihren Höhepunkt erreichten. Aufgrund des erfolgreichen Ausgangs und der zeitweilig breiten gesellschaftlichen Solidarisierung stellt der Pierburg-Streik in dieser Streikwelle allerdings eine Ausnahme dar. Durch unermüdliche Anstrengungen konnten die migrantischen Arbeiterinnen ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen in den Protest einbinden. Strategisch gelang ihnen dies, in dem sie Forderungen formulierten, die auch die deutschen Arbeiterinnen und Facharbeiter betrafen: „Abschaffung der Lohngruppe 2“ und „Eine Mark mehr für alle!“ Kritik am Rassismus in und außerhalb der Fabrik wurde – obwohl mitunter entscheidender Auslöser der Arbeitskämpfe – explizit nicht in den Vordergrund gerückt.
Der Kampf bei Pierburg konnte nur erfolgreich geführt werden, „weil Herkunft und Position keine Rolle spielten“ (S. 8) schlussfolgertder Herausgeber. Die rassistische Spaltung der Pierburg-Belegschaft konnte für den Moment des gemeinsamen Kampfes überwunden werden – wie fragil diese Solidarität allerdings war, zeigte sich als mit zunehmender Arbeitsplatzunsicherheit im Kontext der Krise die deutschen Facharbeiter begannen „sich so langsam zu distanzieren“ (S. 112). Aufgeworfen ist damit die nicht nur historische Frage, ob Rassismus eben doch nicht auch Thema von Arbeitskämpfen sein muss, um Solidarität zu praktizieren.
Verstanden als Quellenedition eröffnet dieser Band neue Perspektiven auf die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung nach 1945 und ist eine wertvolle Ergänzung zu bereits vorliegenden Untersuchungen der migrantischenKämpfe von Manuela Bojadžijev (2008) und der wilden Streiks von Peter Birke (2007). Es kann zudem als Aufforderung verstanden werden, die bislang nur schwer zugänglichen Materialien zum Ausgangspunkt weiterer Diskussionen über die andere Arbeiter_innenbewegung zu machen. Empfohlen sei das Buch allen, die sich für eine genealogische Betrachtung sozialer Kämpfe in der Bundesrepublik interessieren: Denn – wie Peter Birke betont – dieser Kampf ist mehr als Geschichte!
Christiane Mende
Bojadžijev, Manuela 2008:Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster: Westfälisches Dampfboot.
Birke, Peter 2007: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main: Campus Verlag.
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