Zurück zu allen Rezensionen zu Macht und Recht im Betrieb - Der Fall BMW-Berlin

„Arbeit.Bewegung.Geschichte“ I/2016

Die Bedeutung gewerkschaftlicher Mikropolitik

Der von Frank Steger herausgegebene Dokumentenband ruft einen Betriebskampf ins Gedächtnis, der sich 1984 bis 1987 im BMW-Motorradwerk Berlin-Spandau abspielte. Zeitgenössische Bro­schüren und rückblickende Kommentare von Beteiligten rekonstruieren den geschei­terten Versuch der BMW-Konzernleitung, durch Eingriffe in Betriebsratswahlen zwei missliebige Gewerkschafter durch eine wirtschaftsfriedliche Beschäftigtenvertre­tung zu ersetzen, für die der Titel „Liste der Vernunft“ gefunden wurde.

Die dokumentierte Geschichte begann 1981 mit der Wahl eines neuen Betriebsra­tes, bei der mit Rainer Knirsch und Peter Vollmer zwei der drei freigestellten Posten an neue Kandidaten gingen. Knirsch war der Belegschaft bekannt als Leiter des Ver­trauenskörpers der IG Metall, Peter Vollmer kandidierte auf einer unabhängigen Liste mit drei zugewanderten Kollegen. Migranten waren ein wichtiger Teil der Belegschaft, der bisher kaum in gewerk­schaftliche Arbeit integriert war. Vollmer war zeitweise aus der IG Metall ausge­schlossen worden, weil er sich in der Ver­gangenheit als Teil einer Gruppe „Revolu­tionäre Gewerkschaftsopposition“ gegen sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftsar­beit gestellt hatte. Der Ausschluss wurde später zurückgenommen.

Im Betriebsrat arbeiteten er und Knirsch nicht als Ideologen, sondern schaften es durch eine ganze Reihe prag­matischer Maßnahmen, den Organisati­onsgrad von 45 auf 65 Prozent zu erhöhen. Das Betriebsratsbüro hatte nun ständige Öffnungszeiten, zustimmungsplichtigen Kündigungen wurde vom Betriebsrat standardmäßig widersprochen, in stritti­gen Fällen wurde arbeitsrechtliche Unter­stützung angeboten.

Abstufungen in nied­rigere Lohngruppen wurden verhindert, höhere Eingruppierungen für einige Beleg­schaftsteile erreicht – auch dies war wichtig für die niedrig bezahlten Einwanderer, die damals noch „Gastarbeiter“ hießen. Der neue Betriebsrat hielt sich streng an gelten­des Recht, Behauptungen des Unterneh­mens, es käme zu „wilden Streiks“, prallten ab, denn der Betriebsrat organisierte bei Beschwerden lediglich Anhörungen in der Pausenzeit, die sich zwar ausdehnten und die Produktion störten, aber keinen Streik im juristischen Sinne darstellten.

Doch gerade diese rechtlich nicht angreifbare Ausnutzung der gewerkschaft­lichen Spielräume war der Unternehmens­leitung ein Dorn im Auge, derlei stand der Kostensenkung im Wege. Besonders teuer war Peter Vollmer, der bei einer Berechnung von Urlaubsgeldansprüchen feststellte, dass BMW den bundesweiten Tarifvertrag falsch auslegte und jedem seiner 45 000 Beschäftigten in der BRD 72 DM zu wenig zahlte – Mehrkosten von über drei Millionen D-Mark ab 1983 waren die Folge.

BMW war das nun endgültig zu viel, und für die Betriebsratswahl 1984 wurde in Spandau eine „Liste der Vernunft“ zusammengestellt, die interessanterweise ebenfalls aus Mitgliedern der IG Metall bestand. Ofen positionierte sich die Firma in Ansprachen gegen Knirsch und Vollmer, der Belegschaft wurde mit Streichung von Lohnzulagen gedroht, da das Werk Ver­luste mache. Gleichzeitig wurde die „Liste der Vernunft“ durch Finanzierung von Hochglanzflugblättern unterstützt.

Die Intervention war zunächst erfolg­reich: Die „Vernunft“ setzte sich durch, Knirsch und Vollmer wurden abgewählt. Wegen der ofensichtlichen Beeinflussung, die nach deutschem Arbeitsrecht mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe sanktioniert wer­den kann, wollten beide die Wahl anfech­ten, wurden jedoch von der IG Metall zu ihrer großen Enttäuschung nicht unter­stützt. Sie wagten den Schritt dennoch, mit Unterstützung von Hans Köbrich, denn ein dritter Antragsteller ist juristisch erforder­lich. BMW reagierte mit einer Kündigung wegen „Störung des Betriebsfriedens“. Alle drei waren nun für Jahre ausgesperrt, durften den Betrieb nicht betreten, und es begann ein dreijähriger Prozessmarathon, bei dem Knirsch, Vollmer und Köbrich insgesamt 21-mal gekündigt wurden. Sie erhielten jetzt von der IG Metall gewerk­schaftlichen Rechtsschutz und klagten gegen jede erneute Kündigung, teilweise durch drei Instanzen. Dann, 1987, gewan­nen die Klagenden auf ganzer Linie und konnten auch eine Neuwahl der Betriebs­ratswahlen durchsetzen. Die Liste von Knirsch & Vollmer erreichte sechs von 15 Sitzen.

Die IG Metall tritt seitdem in Spandau mit zwei Gewerkschaftslisten an, ein seltener Vorgang, denn in der Regel wird ein solcher Strömungspluralismus in den Einheitsgewerkschaften des DGB nicht zugelassen. BMW versuchte noch in zwei Störmanövern, die unbequeme Beschäftigtenvertretung loszuwerden: Als 1987 zur 750-Jahrfeier Berlins eine Aus­stellung des DGB die Verwicklungen der Firma in die NS-Rüstungsindustrie nach­wies und nebenbei die aktuellen Praktiken kritisierte, wurden Vollmer, Knirsch und Köbrich auf einer Betriebsversammlung als vermeintliche Urheber angeprangert. Mit einer Unterschriftenkampagne wurde ihre Entlassung gefordert. Doch auch die­ses Manöver hielt vor Gericht nicht stand und verlief sich trotz anfänglicher Unter­stützung im Betrieb.

Im selben Jahr fand BMW dann durch eine Auskunftei her­aus, dass Peter Vollmer aus einer west­deutschen Industriellenfamilie stammte und über ein Unternehmensvermögen von 1,176 Millionen DM verfügte. Vollmer entschied sich jedoch gegen ein Leben als Unternehmer und ging als Sozialist in den Betrieb. Er verwendete über Jahre hinweg nichts von seinem Vermögen für private Ausgaben, sondern lebte von seinem Lohn als Arbeiter. Als sein Vermögen öffentlich wurde, war das ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse. Doch eine Kampa­gne gegen den „Arbeitermillionär“ Vollmer vering nicht, und auch eine erneute Kündigung und eine Klage wegen falscher Angaben im Einstellungsfragebogen schei­terte. Vollmer gründete später die „Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt“, um sein Vermögen einem gemeinnützigen Zweck zuzuführen. Die von ihm und Knirsch gegründete Betriebsratsliste „Fairness und Demokratie“ erreichte 1990 sechs Sitze im Betriebsrat, vier Jahre später die Mehrheit. Von 1994 bis 2002 amtierte daher Rai­ner Knirsch als Betriebsratsvorsitzender. Bis heute treten bei BMW in Spandau zwei alternative Listen der IG Metall an, der Band endet mit einigen Dokumenten zur Betriebsratswahl 2014, bei der die heu­tige basisorientierte Liste „Klare Linie“ der IG Metall vorwarf, die eher sozialpartner­schaftlich ausgerichtete Gegenliste einsei­tig unterstützt zu haben.

Leider sind die Flugblätter aus dem Konflikt von 2014 zunächst unkommentiert abgedruckt, gefolgt von einigen Arti­keln des basisgewerkschaftlichen Por­tals „Labournet“, die aber ebenfalls keine Zusammenfassung bieten. Diese Darstel­lungsform zieht sich durch den gesam­ten Band, der im Wesentlichen aus zwei zeitgenössischen Broschüren mit dem Titel „Gekaufte Vernunft“ und „Der Fall BMW“ aus den Jahren 1985 und 1986 besteht. Aktualisiert wird das Ganze durch einen vorangestellten Aufsatz von Bodo Zeuner mit dem Titel „Vierte Geschichte über Bürgerrechte im Betrieb“ aus dem Jahr 1991, der die Ereignisgeschichte des Betriebskonflikts, vor allem aber auch die juristischen Begründungszusammenhänge der Klagewelle von BMW darstellt und einordnet. Zeuners Aufsatz stellt die Ereig­nisse trotz langer juristischer Passagen am kompaktesten dar.

An anderen Stellen dagegen ist beim Lesen unklar, wie der jeweilige Text einzuordnen ist, da Auto­renname und Entstehungsdatum nicht am Textbeginn stehen, sondern am Ende oder nur im Inhaltsverzeichnis, und Quellen­angaben sich nur in der Einleitung inden. Dadurch ist es bisweilen schwierig, sich in den Dokumenten des Bandes zu orien­tieren. Viele Informationen doppeln sich zudem.

Dennoch zeigen die Beiträge des Ban­des, dass der „Fall BMW“ mehr als eine Personalie oder ein lokaler Betriebskrimi ist. Das eindrückliche Beispiel verdeutlicht die Wichtigkeit gewerkschaftlicher Mik­ropolitik für die Arbeitsbeziehungen auf überregionaler Ebene. Betriebliche Politik ist zentral für die Ausgestaltung und Aus­weitung gewerkschaftlicher Handlungs­spielräume, verkörpert etwa durch Mus­terprozesse, vor allem aber auch durch ihre öffentliche und mobilisierende Wirkung. In diesem Sinne wäre es spannend, den „Fall BMW“ in vergleichender Perspek­tive mit ähnlichen Konflikten der 1980er-Jahre diskutiert zu sehen. Was der Band nur andeutet, nämlich die lokal durchaus einflussreiche Rolle überregional eher frag­mentierter marxistischer Gruppen oder die Auswirkung von Interventionen aus dem linken Milieu in die Fabriken bei der Ein­beziehung von Migrantinnen und Migranten in gewerkschaftliche Kämpfe, wäre ein eigenes Forschungsthema, über das noch viel zu wenig bekannt ist.

Ralf Hoffrogge


Zurück zu allen Rezensionen zu Macht und Recht im Betrieb - Der Fall BMW-Berlin