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„Archiv für Sozialgeschichte“ Band 59 / 2019
„Mitbestimmung im wahren Wortsinn“
Zwei mit viel Sympathie für den einfachen Arbeiter verfasste Sozialgeschichten wid-men sich dem Fabrikalltag und den Lebensbedingungen des Petrograder Proletariats: zum einen die grundlegend überarbeitete Neuauflage der an der Columbia University in New York bei Leopold Haimson entstandenen Dissertation des heute an der Universität von Quebec lehrenden Politologen Mark-David Mandel. In der Forschung fand die zweibändige, ursprünglich vor dreieinhalb Jahrzehnten publizierte Studie, die vor allem auf umfangreichen Recherchen von Fabrik- und Gewerkschaftsunterlagen in drei Leningrader Archiven basiert, ein überaus positives Echo. Auf die Neuauflage hat Mandel viel Zeit und Mühe verwendet. Zahlreiche Passagen sind neu geschrieben, die Bibliografie um einige wenige Neuerscheinungen ergänzt, die allerdings selten Eingang in die Anmerkungen finden. Der Duktus der Argumentation und eine partiell mangelnde Quellenkritik sind allerdings erhalten geblieben, auch sind die neuen Textpassagen nicht frei von indifferenten Formulierungen und auch Fehlern.
Zum zweiten ist auf die von dem Winterthurer Gewerkschaftler Rainer Thomann stam-mende Darstellung zu verweisen, die – wie Mandel auch – den Zeitraum vom Februar 1917 bis zum Sommer 1918 thematisiert. Eine Quellenedition ergänzt das Textkorpus, nämlich eine Übersetzung aus dem Russischen von Dokumenten der Arbeiterfabrikkomitees. Die Texte zeigen, wie die Arbeiter, ihre Fabrikräte und auch Gewerkschaften versuchten, sich in die wechselvollen revolutionären Zeitläufte einzubringen, aus der Not geboren, soziale Verantwortung zu übernehmen, um das wirtschaftliche Chaos zu minimieren und ihre Betriebe am Laufen zu erhalten. Sie mussten in ihnen bis dato unbekannte Sphären vordringen, sich im Prinzip »Herrschaftswissen« aneignen, um die Produktion zu organisieren. Sie taten dies weniger, um dem sozialistischen Endziel Rechnung zu tragen, als vielmehr das Überleben ihres Betriebs zu gewährleisten und die Interessen der Belegschaften zu wahren. Es handelte sich um Mitbestimmung im wahren Wortsinn. Mandels Quellenbasis ist umfassender, seine Herangehensweise professioneller, doch veranschaulichen beide Werke eindrucksvoll, wie das Petrograder Proletariat die Revolution 1917 initiierte, sie in nicht geringem Maße mitgestaltete, letztlich aber mehrheitlich kaum von dem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel, der sich nach dem Oktober 1917 vollzog, profitierte. Vielmehr folgten Fabrikschließungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, der Exodus aus den Städten und damit letztlich auch das Ende des »klassenbewußten« Petrograder Proletariats.
Lutz Häfner
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