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„AUGUSTIN“ (Wien) Nr. 425

Was von den Erich-Mühsam-Songs hängen bleibt

Wir wollen im Leben versinken!

Jeden Abend werfe ich/eine Zu­kunft hinter mich, die sich niemals mehr erhebt / denn sie hat im Geist gelebt / Neue Bilderr werden, wachsen; / Welten drehn um neue Achsen, / werden, ster­ben, lieben, schaffen. /Die Vergan­genheiten klaffen. / Tobend, wir­belnd stürzt die Zeit / in die Gruft. – Das Leben schreit! Erich-Mühsam-Lyrik, von Maren Rahmann vertont, zu hören auf einer CD mit dem Titel «Doch ob sie mich er­schlügen – sich fügen heißt lügen». Der Tonträger und die Liveauftrit­te der in Wien lebenden Schau­spielerin und Sängerin, zusam­men mit dem Musiker Didi Disko und dem Mühsam-Verehrer Die­ter Braeg, können als ein Beitrag zur Anarchismus-Renaissance durchgehen, die laut Feuilletonisten unter der verzweiflungsanfälligen Linken grassiert.

14 Mühsam-Gedichte hat Rah­mann vertont. Das oben zitier­te ist ihr Favorit, weil es in seiner poetischen Rätselhaftigkeit kei­nerlei Kampfrezepte liefert, son­dern nachdenklich über das Wie des Existierens macht. Nein, sie fantasiere im Prozess des Vertonens solcher Lieder nicht eine Zukunft herbei in der die in Be­wegung Geratenen ihre Mühsam-Songs auf den besetzten Plätzen singen, meint sie im Augustin-Ge­spräch; ihr genüge die Hoffnung, dass markante Passagen aus den Mühsam-Texten bei den ZuhörerIinnen quasi «hängenbleiben» und als neue Handlungsdevise in ihr zukünftiges Leben integriert wer­den. «Sich fügen heißt lügen» – das sei zum Beispiel so ein zivil-courageförderndes  Motto.

Sie liebe an Mühsam, dass er in vielen seiner Texte die Vision ei­ner Einheit von Leben, Genießen und Kämpfen im Jetzt ausstrahle. Im «Trinkerkerlied» geht es nicht um eine Oktoberfestsaufpropaganda, wie es oberflächlich aussieht, son­dern um den Imperativ des Bo­hemiens: «Wir wollen im Leben versinken!» So meilenweit das von der lebensfeindlichen KPD-Direktive «Ein denkender Arbei­ter trinkt nicht» entfernt ist und so suspekt den Kommunstinnen seine Vision der Einheit von Intel­lektuellen und Geächteten («Land­streicher, Huren, Verbrecher und Bettler») war – Mühsam hat sich doch nach einer Partnerschaft zwischen Anarchistinnen und Marxistinnen gesehnt Auch das ist eine Eigenschaft, die von Rah­mann und Braeg geteilt wird.  Ihr Mühsam-Projekt empfinden sie als einen Beitrag gegen die Zerspargelung der Linken.

Davon kann auch Dieter Braeg, der in der westdeutschen Ge­werkschaftsbewegung politisiert wurde, ein Lied singen. Die Re­daktion der KP-nahen Literatur­zeitung «Kürbiskern» meckerte über «anarchistische Tendenzen» eines Braeg-Textes. Der „Kürbiskern“ existiert nicht mehr, aber Mühsam, der sinnlichste Führer der Münchner Räterepublik, feiert in den Köpfen vieler Unzufriedener fröhliche Wiederaufstehung.

R. Sommer


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