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„Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ vom 1. März 2020

„Kritik, so stellt Zeuner klar, muss nicht per se konstruktiv sein, denn wenn sie verändern und bewegen will, muss sie im positiven Sinne destruktiv sein können.“

Es ist eher ungewöhnlich, dass ein Wisenschaftler oder eine Politikerin einen „Vor-Nachlass“ publiziert und es nicht ausschließlich der Nachwelt überlässt, den Nachlass zu ordnen und zu bewerten. So strukturiert er/sie, in diesem Fall Bodo Zeuner, das Gedenken und das materielle und geistige Erbe des Schaffens vor und legt fest, was ihm oder ihr persönlich besonders wichtig ist.  Bodo Zeuner, das Urgestein des Otto-Suhr-Instituts (OSI) für Politikwissenschaften an der FU Berlin, geht diesen Weg mit seinem opulenten Sammelwerk „Kritik und Hoffnung“, das im Mai 2019 bei „Die Buchmacherei“ in Berlin erschienen ist.

Bodo Zeuner wurde 1942 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad in Russland, geboren, wuchs in Hamburg auf und strebte schon früh nach dem Journalismus. Als Redakteur einer Schülerzeitung an einem Hamburger „Elitegymnasium“ entdeckte er alsbald die Notwendigkeit der Kritik an den Zeitumständen, wie sie sich elitärer an dieser Schule kaum ausdrücken konnten. Überhaupt verweist er in seinem Stimmungsbild von dieser Schule auf Gepflogenheiten, wie sie auch viele Jahre später noch üblich waren: Soziale Selektion, Langeweile, Autoritarismus, Ausblenden der neuen kritischen Literatur, repetieren statt kritisieren, Verdrängung der NS-Vergangenheit. Vieles aus seinen Erinnerungen an seine Schulzeit kommt mir persönlich sehr bekannt vor, denn auch ich bin auf ein zunächst konservatives Gymnasium gegangen, an dem der alte muffelnde Geist wehte, aber nach und nach durch junge kritische Lehrer und eine aktive Juso-Schülergruppe mit einer sozialistischen Zeitung ausgelüftet wurde. Auch ich habe bei dieser linken Gegenpresse mein Schreibhandwerk gelernt. Mit der Einlassung, dass es weitere Gemeinsamkeiten gibt (Jusos, SHB, SPD-Linke, die Liebe zum Schreiben, zur Kritik, zur Hoffnung) will ich es aber bewenden lassen. So wurde aus dem Methodisten Bodo Zeuner ein Humanist, dann ein Sozialist. Begünstigt wurde diese Politisierung Ende der 1950er Jahre durch die „Anti-Atomtod-Bewegung“, die sich letztlich erfolgreich gegen die atomaren Bewaffnungspläne für die Bundeswehr wehrte, wie sie die Regierung Adenauer anstrebte.

Nach der Schule schien der Weg zum Journalismus geebnet zu sein. Am OSI studierte Zeuner  Politikwissenschaft und arbeitete während der Semesterferien beim NDR. Doch schnell erfuhr er die subtilen Mechanismen der Selbstzensur und der Zähmung der Kritik.  1969 ging er zum „Spiegel“ und kam mit Herrmann L. Gremliza, Otto Köhler und anderen wirklich linken Publizisten zusammen. Nach einem Konflikt mit Rudolf Augstein und seinen Anhängern wurde den Genannten und Zeuner Ende 1971 gekündigt. Er entschloss sich, am OSI weiter zu studieren und Politikwissenschaft nicht nur als abstrakte Disziplin zu verstehen, sondern als aktivierende Einheit von Theorie und Praxis. So kam er zum Sozialistischen Hochschulbund (SHB), später zu den Jusos und zum linken Flügel der Berliner SPD. 1972 wurde er am OSI zum Assistenzprofessor, 1977 zum Professor auf Lebenszeit berufen. All dies berichtet uns Zeuner  in seiner „autobi(bli)ographischen Einleitung“ auf den Seiten 13 bis 66. Es folgen fünf Abschnitte zu allen Haupttätigkeitsfeldern seines Wirkens als Politikwissenschaftler und politischer Publizist. I: Parteien und Parteiensysteme (S. 67-226), II: Gewerkschaften und Arbeiterbewegung (S. 227-532), III: Politikwissenschaft und Wissenschaftspolitik (S. 533-643), IV: Politische Bildung (S. 644-681) und V: Massenmedien (S. 682-701). Sein Schlusswort nennt er „Kritik und Hoffnung?“ (S. 702-706). Auf jeden Abschnitt möchte ich nun exemplarisch eingehen.

Dass sich Zeuners Auseinandersetzungen mit den Parteien und Parteiensystemen vorwiegend um die SPD drehten, ist kaum verwunderlich. So charakterisierte er in seinem ersten Text aus dem Jahre 1965 über „Die sozialistischen Parteien in Europa“ verschiedene europäische sozialistische und sozialdemokratische Schwesterparteien der SPD und verglich sie miteinander. Schon damals  stellte er fest,  dass die SPD „rechts von Skandinavien“ stehe und es ihr an einem wirklichen linken Flügel fehle, zumal mit dem Ausschluss der Förderkreismitglieder des SDS um Wolfgang Abendroth der Marxismus faktisch kaltgestellt wurde. Seine Sympathien galten dabei eher den links stehenen Sozialisten wie in Italien oder Frankreich, insgesamt kritisierte er, dass die Sozialistische Internationale seit 1951 kein programmatisch-strategisches gemeinsames Konzept für einen eigenständigen Weg zwischen sowjetischem Kommunismus und amerikanischen Kapitalismus gefunden habe. Dass er sozialdemokratischer Integrationspolitik, also reformistischer Rhetorik und pragmatischer systemimmanenter Praxis, äußerst skeptisch gegenüberstand, verdeutlicht Zeuners zweiter Aufsatz aus dem Jahr 1974, den er gemeinsam mit Siegfried Heimann in der „ProKla“ veröffentlichte. Ausgerechnet Peter von Oertzen, der Kopf der Parteilinken in der SPD, bekommt den Unmut darüber zu spüren. Mag  von Oertzen insgesamt der falsche  Adressat gewesen sein, wie Zeuner einräumt, so weist er auf den prinzipiellen Widerspruch des Reformismus in der alten Sozialdemokratie hin, nämlich in einer Partei, deren Massenbasis die Lohnabhängigen darstellten, deren Führung aber den Bestand des sozial regulierten Kapitalismus bezweckte, also in einer Partei mit zwei Klassenlinien reine Integrationspolitik der Lohnabhänigen  zu betreiben. Besonders kritisch bewertete Zeuner die erste rotgrüne Regierungsperiode Schröder/Fischer. Im Jahr 2000 zog er eine ernüchterte Bilanz und warf dieser Regierung nach dem Ausscheiden von Oskar Lafontaine vor, das Ziel der Unterordnung der Politik unter das Kapital, also die neoliberale Wende, bewusst forciert zu haben. Von seinem Gegenentwurf zum Durchbrechen der damals noch nicht völlig durchgesetzten Hegemonie der Marktapotheose, nämlich der Durchsetzung einer umfassenden Demokratisierung durch eine internationalistische Linke, waren wir auch damals schon weit entfernt. Dass gerade die Schröder/Fischer-Regierung mit der Agenda 2010-Politik  das neoliberale Roll-back festzimmern sollte, stand sicherlich auch bei Bodo Zimmer noch außerhalb der politischen Vorstellungskraft. Man ahnt jedoch, welche Zerstörungskraft für die sozialdemokratische Seele diese Politik der Agenda 2010 in sich barg. Abschließend riet Zeuner der Berliner PDS 2001 zur Oppositionspolitik, denn diese böte ihr Zeit und Standort,  eine wirkliche Oppositionspartei gegen den Neoliberalismus zu werden und das strukturelle Problem der PDS, ostdeutsche Traditionspartei zu sein und gesamtdeutsche Linkspartei werden zu wollen, lösbarer zu machen. Wie wir wissen, ist die Parte DIE LINKE in dieser Frage noch lange nicht mit sich und der Welt im Reinen.

Das umfangreichste Kapitel befasst sich mit den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung Vorab gibt Zeuner darüber Auskunft, wie er zum Marxisten wurde. Ausgehend von den Arbeitskonflikten beim „Spiegel“, für den er ja  1969-1971 gut zwei Jahre tätig war, wandte er sich der studentischen Protestbewegung und der APO zu, schrieb für die ProKla, wirkte als Hochschullehrer und betrachtete die Geschichte und  Gegenwart der Lohnabängigen und der Gewerkschaften nun von einem Klassenstandpunkt aus. In achtzehn  zum Teil durchaus langen Beiträgen setzt sich Zeuner mit politischen Theorien genau so auseinander wie mit praktischen Arbeitskämpfen  wie dem 1984er Streik im BMW-Motorenwerk in Berlin-Spandau, bei dem die Konzernleitung drei kritische Betriebräte durch widerrechtliche Kündigung loswerden wollte.  Das „Schröder-Blair-Papier“ von 1999 zerpflückt er kunstvoll und bewertet es zurecht, wie die folgenden zwanzig Jahre von SPD und Labour Party bewiesen haben, als Abschied von der Arbeiterbewegung und als Ende der politischen Koalition von SPD und Gewerkschaften. Eigentumsfragen, wie sie die Genossenschaftsidee und die Perspektive einer solidarischen Ökonomie formulieren, finden sich ebenfalls. Die Entdemokratisierung durch Globalisierung betrachtete  Zeuner in einem Festbeitrag zu Siegfried Mielkes 65. Geburtstag und fragte: „Die Goldfinger-Zukunft. Globale private Macht und national bornierte Demokratie?“ Sehr erhellend auch sein Blick auf 100 Jahre Novemberrevolution. Seine Rede am 8. November 2018 vor dem Brandenburger Tor anlässlich einer Kundgebung der „Koordination Unvollendete Revolution 1918“ habe ich selbst miterlebt und wie die anderen Teilnehmer der Kundgebung als Aufforderung verstanden, die noch offenen Fragen wie die Durchsetzung von umfassender Demokratie auch im Arbeits- und Wirtschaftsleben anzugehen.

Die folgenden Kapitel drei bis fünf fallen deutlich kürzer aus als das eben skizzierte. Dennoch sind auch sie sehr instruktiv. Im dritten Abschnitt „Politikwissenschaft und Wissenschaftspolitik“ erhält man einen interessanten Einblick in die entsprechende Praxis am OSI, vor allem auch in dessen Geschichte. Den Versuch, pluralistisch und kooperativ zu arbeiten, repräsentierten die Einführungsvorlesungen, die immer sowohl die marxistisch-linkssozialistische und sozialdemokratisch-sozialliberale Fraktion integrieren sollten. So sprach Zeuner beispielsweise gemeinsam mit Gesine Schwan. Weitere Köpfe des OSI werden genannt, für Johannes Agnoli und Elmar Altvater verfasste er hier nochmals abgedruckte Nachrufe, die 2004 in der IWK (Agnoli) und  2018 im Berliner Journal für Soziologie (Altvater) publiziert worden waren. Dass der Neoliberalismus auch die Wissenschaft erfasste und an die Börse trieb, kritisierte Zeuner 2007 in der ProKla. Seine Warnungen blieben unerhört, wie wir alle wissen und  bedauern. Sehr stark konzeptionell ausgerichtet sind seine drei Beiträge zur Politischen Bildung. Stellvertretend für seine Grundhaltung sei folgendes Zitat wiedergegeben: „Und was Selektion und Eliten betrifft: Sortieren der Menschen in Töpfchen nach den Anforderungen des Arbeitsmarktes (oder einer hanseatischen Patriziergesellschaft, die es ja so wohl auch nicht mehr gibt) hat mit Humanität nichts zu tun. Humanistische Bildung hat für alle da zu sein, oder sie ist nicht menschengerecht“. (S. 680)

Zwei Beiträge mit Bezug auf seinen frühen Ausflug in den Journalismus beenden die Sachkapitel. Der erste, „Zur Standesideologie der Journalisten“ stammt aus dem Jahr 1973 und reflektiert die Umstände und das Selbstverständnis der Arbeit der Berufsjournalisten im Mainstream zwischen Anspruch und Auflagenhöhe. Im letzten Beitrag gratulierte Zeuner seinem 1971 ebenfalls gefeuerten Kollegen Otto Köhler zum 80. Geburtstag.

Was bleibt? Kritik, so stellt Zeuner klar, muss nicht per se konstruktiv sein, denn wenn sie verändern und bewegen will, muss sie im positiven Sinne destruktiv sein können. Sie muss den Menschen, um die es geht, die zu überwindenden Hindernisse anzeigen, dazu führen, dass sich soziale Bewegungen bilden und neue Hoffnung geben. Sie muss aber auch falsche Hoffnungen zerstören und dann die Bewegungen stärken, die neue Lösungen im Sinne der Mehrheit suchen und formulieren. Dann gibt es Anlass zu der Hoffnung, dass aus der Kritik Aktivität wird, dass es diese „Kräfte des Widerspruchs und Widerstands nicht nur gibt, sondern, dass sie auch zu gemeinsamem und solidarischem Handeln in der Lage sind“. (S. 704)

Uns allen gibt Bodo Zeuner abschließend einen Rat, den man nur annehmen kann: „Wenn ich also meinem Enkel und meiner Enkelin erzähle, was wir vor und um 1968 wollten und was wir geschafft haben und was nicht, dann hoffe ich, dass sie begreifen, dass noch viel zu tun ist“.

Holger Czitrich-Stahl


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