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„express“ 3-4 / 2021

Gegenseitige Hilfe in allen möglichen Bereichen

Das Buch zum »Mall of Shame«-Konflikt lässt die Arbeiter zu Wort kommen

Den meisten Leser:innen des express dürfte der Begriff »Mall of Shame« bekannt sein. Er steht für den Kampf um nicht ausgezahlte Löhne, den irregulär beschäftigte rumänische Arbeiter auf der Großbaustelle des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« ab November 2014 mit Unterstützung der syndikalistischen Basisgewerkschaft FAU Berlin führten und der ein Schlaglicht warf auf weit verbreitete illegale Beschäftigungspraktiken in der Bauindustrie. Dass Wanderarbeiter selbst für ihre Interessen kämpften – und eine breite Öffentlichkeit dafür geschaffen werden konnte – war angesichts ihrer prekären Lage keineswegs selbstverständlich.

Im November 2014 wandten sich zehn bis zwölf von insgesamt 120 um ihren Lohn gebrachten Arbeiter an die FAU Berlin, nachdem sie bereits selbst Protestaktionen durchgeführt und auch das Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte des DGB kontaktiert hatten. Dieses hatte Abschlagszahlungen für sie durchgesetzt, doch ihnen ging es um mehr: Sie wollten ihre Würde als ehrliche Arbeiter, die um ihren Lohn betrogen wurden, wieder herstellen. Die Aktivist:innen der FAU reagierten rasch, auch beeindruckt vom Willen der Betroffenen, sich zu wehren. Die gewählten Aktionsformen – Picketing, also Streikposten sowohl vor der Mall als auch vor den Büros der verantwortlichen Unternehmen, Flugblattaktionen, eine Demon­stration mit 500 Teilnehmer:innen – stellten Öffentlichkeit her, mit denen es gelang, das Gebaren der verantwortlichen Firmen zu skandalisieren. Erfolgreich war auch eine Spendenkampagne mit dem Ziel, die Grundversorgung und Unterkunft der Arbeiter während der Proteste zu gewährleisten, um es ihnen überhaupt zu ermöglichen, in Berlin zu bleiben. Es gelang allerdings– bis auf einzelne Ausnahmen – nicht, weitere auf der Mall Beschäftigte zum Mitmachen zu gewinnen.

2015 bis 2019 folgten gerichtliche Auseinandersetzungen bis hin zum Bundesarbeitsgericht. Ein Großteil der Lohnansprüche der Kläger wurde gerichtlich anerkannt. Dennoch erhielten sie nicht den ihnen zustehenden Lohn, weil die beklagten Firmen in Insolvenz gegangen waren.

Die Herausgeber:innen des vorliegenden Buches waren als politisch Interessierte und spätere FAU-Mitglieder selbst in den Konflikt involviert. Was den Band auszeichnet und ihn sehr eindrücklich macht, sind Interviews mit sechs Bauarbeitern, die den Protest gewagt haben. Enthalten sind zudem Gespräche mit damaligen Aktivist:innen der FAU Berlin und den beiden in die Auseinandersetzung einbezogenen Sprachmitt­ler:in­nen; ein rumänischer Aktivist berichtet über einen Protest chinesischer Bauarbeiter in Rumänien im Jahre 2008. Zu Wort kommt auch ein in England im Gefängnis sitzender Arbeiter, der die von ihm und seinem Trupp errichteten Gebäude wieder einriss, weil er vom Auftraggeber um die Bezahlung geprellt worden war.

Ergänzt werden diese Gespräche von einer Chronologie des Konflikts und kurzen, die migrationspolitischen und (arbeits-)rechtlichen Zusammenhänge erläuternden Aufsätzen. Last but not least steht ein Interview mit Karl-Heinz Roth, der auch für das Vorwort gewonnen werden konnte.

2018 und 2019, als die Gespräche mit den ehemaligen Arbeitern der Mall stattfanden, hatten die meisten Berlin wieder verlassen. Vier von ihnen lebten in Großbritannien, auch dort auf Arbeitsplätzen, an denen fast ausschließlich Migrant:innen beschäftigt sind. Einer der »Ehemaligen« lebte in der Obdachlosigkeit. Anschaulich werden die Beweggründe für die Migration und die mit ihr verbundenen Härten. Auf welche Arbeitsverhältnisse die Migranten treffen würden, war ihnen nicht bekannt. »Vorher wurde ich noch nie um meinen Lohn geprellt. Ich denke, es war das erste und das letzte Mal. In Rumänien habe ich zwar ohne Vertrag gearbeitet, aber ich habe jeden Monat mein Geld bekommen.« (Ovidiu Mîndrila, S. 64) Erlangen von Respekt und Gerechtigkeit waren wichtige Ziele des Protests; betont wird die Bedeutung von Unterstützung und Solidarität. Dennoch ist das Fazit oft bitter, weil materiell nichts erreicht werden konnte. So Elvis Iancu: »Der Kampf war für mich eine verlorene Zeit! Ich fühlte mich sehr erniedrigt!« (S. 33)

In den Gesprächen mit den Aktivist:innen der FAU wird deren außerordentliches Engagement deutlich. Sie halfen beim Ausfüllen von Anträgen, machten »Sozialarbeit« und hielten Kontakt zu den Arbeitern über die Aktionen hinaus. Dort kam es jedoch auch zum Zusammenprall zwischen »eher konservativen Werten und Anarcho-Punk-Werten«. (S. 90)

Der Anspruch, »gegenseitige Hilfe in allen möglichen Bereichen praktizieren zu können«, stieß an Grenzen: »Es braucht eben Leute, die Kapazitäten und Lust darauf haben, und das wurde mit der Zeit bei der komplexen und intensiven Kampagne immer dünner. Die Frustration darüber, dass der Fall sich ergebnislos immer weiter in die Länge zog, strapazierte auch die zwischenmenschlichen Beziehungen.« (S. 89)

Das vorliegende Buch kann nachdrücklich empfohlen werden, insbesondere auch deshalb, weil die handelnden Migranten, die nur äußerst selten Gelegenheit haben, selbst zu sprechen, so ausführlich zu Wort kommen.

Gabriele Pieri,Mitglied von ver.di


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