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„Graswurzelrevolution“ Nr. 414, Dezember 2016

Noch eine Begegnung der „feindlichen Brüder“

Ein so schön gestaltetes Buchcover lässt das anarchosyndikalistische Herz höher schlagen: Auf schwarz-rotem Hintergrund prangt komplementär ein ebensolcher Stern, geflankt von schwarzen und roten Sternen. Das so gestaltete Büchlein im praktischen Hosentaschenformat soll zur Solidarität zwischen Anarchist*innen und Marxist*innen aufrufen. Geschrieben haben es 2014 Olivier Besancenot und Michael Löwy.
Während mir ersterer bislang nichts sagte, hat Michael Löwy 1997 ein großartiges Buch über die jüdisch-anarchistische „Wahlverwandtschaft“ vorgelegt, „Erlösung und Utopie“ im Karin-Kramer-Verlag.

Um eine vermeintliche Wahlverwandtschaft geht es auch in vorliegendem Buch. Gemeinsamkeiten zwischen Anarchismus und Marxismus machen die beiden an historischen Ereignissen fest, wie der Ersten Internationalen und Commune de Paris, dem Haymarket Riot 1886, der syndikalistischen Charta von Amiens, der Spanischen Revolution, dem französischen Mai 1968, dem Aufstand der WEZLN seit 1994 und der Antiglobalisierungsbewegung.
Auch an entscheidenden Persönlichkeiten wie Louise Michel, Pierre Monatte, Rosa Luxemburg, Emma Goldman, Buenaventura Durutti, Benjamin Peret und Subcomandante Marcos, in – auch konflikthaften – Begegnungen, vor allem an Kronstadt und der daran anschließenden Rätediskussion sowie der Machnovsina. Vor allem an Theoretiker*innen, die aktiv versucht haben, die beiden wichtigsten Denkschulen der Arbeiter*innenbewegung zusammenzuführen: Walter Benjamin, André Breton und Daniel Guérin.

In einem letzten Teil benennen die beiden Autoren Konflikte: Individuum und Kollektiv, „Die Revolution machen, ohne die Macht zu übernehmen“ (eine Kritik an John Holloway), Autonomie und Föderalismus, direkte und repräsentative Demokratie, Gewerkschaft und Partei, Ökosozialismus und libertäre Ökologie (im Anschluss an Murray Bookchin, der offenbar gerade posthum einen zweiten Frühling erlebt).
So anregend und spannend einige der Beiträge sind – herausheben möchte ich vor allem die Würdigung der Charta von Amiens und die wagemutige libertäre Aneignung Rosa Luxemburgs. Auch die Autoren betonen, dass man Rosa Luxemburg nicht zur Anarchistin uminterpretieren kann, dass ihr Denken aber für den Anarchismus mehr als nur anregend ist – d‘accord, so hat man Gemeinsamkeiten zwischen Anarchist*innen und Marxist*innen schon mal plausibler gehört. Häufig merkt man den Autoren ihren trotzkistischen Background an – was eigentlich kein Nachteil sein müsste, denn erstens hat die Solidarität und Kooperation zwischen Trotzkismus und Anarchismus seit Spanien 1936 tatsächlich eine gewisse Tradition und zweitens entstammen dem Trotzkismus spannende Weiterentwicklungen des Marxismus, die durchaus libertär anmuten – vor allem und in erster Linie die französische Schule um die „Socialisme ou Barbarie“.

Hin und wieder ist dieser Trotzkismus jedoch sehr altbacken und führt zu Schlussfolgerungen, die Anarchist*innen seltsam vorkommen müssen. Das gilt vor allem für die Schilderung der Ereignisse von Kronstadt – auch wenn die Autoren die dortige Niederschlagung des Arbeiter- und Soldatenrats, verantwortet eben von Trotzki, moralisch verurteilen, mehr noch: die historische Schuld auf sich nehmen, so sehen sie in der bolschewistischen Konterrevolution doch einen Sachzwang und diese letztlich im Recht. Und anhand der Kritik an John Holloway exerzieren die Autoren einen orthodoxen Marxismus, der auf einer Machtübernahme beharrt (hier verwechseln sie möglicherweise, da sie die EZLN als Beispiel heranziehen, Machtumverteilung mit Machtübernahme); im Widerspruch zu Anton Pannekoek (der für viele Anarchist*innen inspirierend ist, sich aber auch nicht ideologisch eingemeinden lässt) beharren sie auf einer wichtigen Rolle von Partei und Gewerkschaft (die sie kaum voneinander differenzieren) und schreiben entsprechend von „Sektierertum“.
Zusammenfassend lässt sich das Problem der Besancenotschen/Löwyschen Position darauf reduzieren, dass sie als Trotzkisten die Leninsche Basis nicht verlassen. Ohne eine Distanzierung von und radikale Kritik am Leninschen Politikstil ist aber eine anarchistisch-marxistische Kollaboration nicht zu haben. Oder anders gesagt: Solche Kollaborationen lassen sich nur dann verwirklichen, wenn die Bündnisse und die Solidarität an und auf der Basis eines Arbeiterradikalismus entstehen ohne Rücksicht auf den einen oder anderen -ismus.

So wie Besancenot und Löwy – obwohl sie im Fazit deutlich von einer Vielzahl libertärer Marxismen schreiben – letztlich doch aus einer sehr spezifischen Warte von „ihrem“ Marxismus ausgehen, so bestätigen sich folgerichtig hier und da auch klassische marxistische Vorurteile gegen den Anarchismus, die zwar für einige Varianten zutreffen können und, das sei zugestanden, in Frankreich vielleicht eine andere Rolle spielen als hierzulande. Besonders deutlich wird das in ihrer Schilderung der Demokratie-Auseinandersetzung: Die Autoren beschreiben einen pragmatischen Umgang mit dem Parlamentarismus als für Anarchist*innen inakzeptabel und behaupten eine Ablehnung von Delegiertensystemen – dabei ist es eindeutig, dass Anarchist*innen durchaus immer wieder versuchten und versuchen, parlamentarische Politik zu beeinflussen (meist von der Straße und den Betrieben aus), und dass keine größere anarchistische Organisation ohne Delegierung funktioniert. Es ließe sich sagen, dass Anarchist*innen damit grundsätzlich vorsichtiger und skeptischer umgehen. Implizit werfen die Autoren dem Anarchismus auch eine Ablehnung von Planung vor – dabei sind die meisten anarchistischen Utopien letztlich und sinnvollerweise demokratische Planwirtschaften.

Trotz all dieser Einwände ist die Absicht Besancenots und Löwys lobenswert und in aktueller Zeit notwendig. Aber andere Autoren – allen voran Daniel Guérin – haben diesen Brückenschlag schon wesentlich besser hinbekommen. Den Austausch und die Solidarität herzustellen bleibt eine Aufgabe.

Gaspar Bartholic

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 414, Dezember 2016, www.graswurzel.net


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