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JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2014 / I
„ Eine durch den Streik zusammengewachsene und kämpferisch auftretende multinationale Belegschaft“
Von Frühjahr bis Sommer 1973 erlebte die Bundesrepublik eine der größten Wellen sogenannter „wilder“ Streiks in ihrer Geschichte. Insgesamt waren über 300.000 Menschen in mehr als 300 Betrieben in nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitsniederlegungen involviert. Die Streiks breiteten sich dabei von den traditionellen Kernbereichen der Montanindustrie auf die industrielle Massenfertigung in der Automobil-, Elektronik- und Konsumgüterproduktion aus. Sie erfassten damit insbesondere auch die un- und angelernten Arbeitskräfte an den Fließbändern, zu großen Teilen Frauen und Migranten, welche die bestehenden diskriminierenden Lohnhierarchien infrage zu stellen begannen. Zugleich wurde die Streikwelle von einer vergleichsweise breiten unterstützenden Öffentlichkeitsarbeit begleitet, die sich in Solidaritätskundgebungen, Flugblättern und Streikbroschüren, aber auch Filmproduktionen niederschlug. Eine der wohl bekanntesten und damals meistgesehenen, der Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“ über den Streik der zumeist migrantischen Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss, nahe Düsseldorf, wurde in überarbeiteter Fassung (Dieter Braeg und Raimund Kirschweger) auf DVD zusammen mit einem kleinen Sammelbändchen neu herausgegeben.
Der Sammelbd. selbst umfasst zumeist historische Dokumente sowie heute oft vergriffene Texte, die sich mit dem Streik und der Betriebsratsarbeit bei Pierburg befassen und von dem damaligen stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden Braeg zusammengestellt wurden. Eingeleitet wird das Bändchen von Peter Birke, welcher 2007 in seiner Arbeit zu wilden Streiks in Westdeutschland und Dänemark auch die Streikwelle von 1973 behandelt hatte (Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt/Main 2007). Birke ordnet diese Streiks in eine längere historische Tradition inoffizieller Arbeitskämpfe seit den 1950er-Jahren ein. Das „Scharnier“ zwischen der alten und der neuen Geschichte dieser Streiks sieht er in den Septemberstreiks 1969, die sowohl Widerstandsformen der traditionellen Arbeiterbewegung als auch einige neue Elemente der Jugendrevolten und weltweiten Arbeitskämpfe um 1968 verbanden. (S.11) Die Streikwelle von 1973, die unmittelbar vor Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise im Zuge des Ölpreisschocks aufstieg, bildete den Höhepunkt und Abschluss dieses Kampfzyklus’. Sie artikulierte noch einmal einen breiten, offensiven Entschluss der Lohnabhängigen, ihre Situation zu verbessern, stieß aber bereits auf heftigen Widerstand von Staat, Unternehmern und zum Teil Gewerkschaftsinstanzen.
Insbesondere die Migrantenstreiks waren häufig schwerer polizeilicher Repression ausgesetzt und scheiterten nicht selten an der Spaltung der Belegschaften. Hier bildete der Streik bei Pierburg ein bemerkenswertes Gegenbeispiel, vor allem zu dem bekannteren Streik bei Ford in Köln-Niehl. Bei Pierburg solidarisierten sich schließlich auch die überwiegend männlichen deutschen Facharbeiter mit dem Streik der zumeist weiblichen und migrantischen Bandarbeiterinnen und trugen so nicht unwesentlich zum Erfolg bei. Die Ereignisse rund um diesen Streik werden in den Texten und Dokumenten meist aus der noch frischen und unmittelbaren Sicht der 1970er-Jahre heraus beschrieben. Lediglich ein Interview mit der damaligen Jugendvertreterin Gabi Schemann ist im Vorfeld der Buchveröffentlichung entstanden.
Die Texte behandeln nicht nur den Streik selbst, sondern auch seine Vorgeschichte und die Auswirkungen. Bereits 1970 hatten die ersten 300 migrantischen Arbeiterinnen aus Jugoslawien gegen die schlechten Bedingungen in den betriebseigenen Wohnunterkünften und die niedrige Bezahlung gestreikt und mit der Beteiligung ihrer deutschen Kolleginnen die Abschaffung der untersten Lohngruppe 1 erreicht. Im Juni 1973 wurde ein erster Vorstoß von 200 migrantischen Arbeitskräften zur Abschaffung auch der Lohngruppe 2 und einer linearen Erhöhung der Stundenlöhne um 1 DM unternommen, scheiterte jedoch zunächst vor allem an den Manövern der Geschäftsleitung. Im August des gleichen Jahres kam es schließlich zu einem erneuten Anlauf durch eine Gruppe griechischer Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich zum Beginn der Frühschicht vor dem Werkstor versammelten und die übrigen Arbeitenden zum Anschluss aufforderten. Dieses Mal beteiligten sich schließlich bis zu 2.000 der rund 3.600 Beschäftigten des Werkes an dem Ausstand. Seinen Höhepunkt erreichte der Streik am dritten Tag. Nach einem Polizeiübergriff gegen die Streikenden und nachdem sich die Geschäftsleitung geweigert hatte, mit dem Betriebsrat zu verhandeln, legten auch die Facharbeiter die Arbeit nieder. Am fünften Streiktag gab die Geschäftsleitung schließlich nach, nachdem sich auch der Arbeitgeberverband in die Verhandlungen eingeschaltet hatte, da der Ausstand bereits die Produktion in der Automobilindustrie zu gefährden begann. Das Ergebnis bestand in der Abschaffung der Lohngruppe 2 und Stundenlohnerhöhungen um 53 und 63 Pfennige.
Die Texte, die zumeist aus einer linken Betriebsratsperspektive verfasst sind, legen ihr Augenmerk auf die Rolle, welche linke Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen bei der Entstehung und Unterstützung einer kämpferischen Betriebskultur gespielt haben. Das Selbstverständnis einer solchen Betriebsratspolitik wird im Wochenbericht eines anonymen Betriebsrates in dem Satz zusammengefasst: „Nicht Integrationsfunktionäre, sondern Initiatoren des Wegs, der es den Arbeitern ermöglicht zu handeln, haben wir zu sein.“ (S.90)
Die Hauptaufgabe wurde deshalb darin gesehen, eine möglichst breite und von sprachlichen Barrieren freie Informationsvermittlung zu gestalten und eine umfassende Partizipation der im Betrieb beschäftigten Migranten und Migrantinnen zu gewährleisten. Letztlich entsteht in den Berichten das Bild einer durch den Streik zusammengewachsenen und kämpferisch auftretenden multinationalen Belegschaft, die auch in den folgenden Jahren Angriffe und Racheaktionen des Unternehmens, wie versuchte Auftragsverlagerungen und eine Klage gegen drei Betriebsratsmitglieder, abwehren konnte. Zugleich werden aber auch die Schwierigkeiten einer solchen aktiven Betriebspolitik deutlich, der aufreibende Kleinkrieg bei alltäglichen Beschwerdeverfahren, die juristischen Gratwanderungen zwischen Unterstützung widerständiger Praxis und der gesetzlichen Verpflichtung auf das Betriebswohl sowie insbesondere die Hindernisse und Widerstände, die bei benachbarten Betriebsräten und den übergeordneten gewerkschaftlichen Verwaltungsstellen aufgebaut wurden.
Bis auf eine Textpassage, die einem Roman entnommen wurde, der den Streik behandelt, gibt es leider keine Texte oder Interviews, welche diesen aus Sicht der beteiligten Migranten und Migrantinnen selbst schildern, was wohl der Quellenlage geschuldet ist. Es wäre jedoch hilfreich gewesen, statt einiger weniger Angaben im Vorwort des Hrsg. einen genaueren Quellennachweis zu den verwendeten Texten und Interviews zu führen. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Belegschaft und der Kämpfe im Werk über das Jahr 1975 hinaus wäre zudem sicherlich für heutige Leser und Leserinnen eine nützliche Zusatzinformation gewesen. Nichtsdestotrotz ist mit den Texten im Sammelbd. ein spannender, gut lesbarer und informativer Einblick gelungen, der ein lebhaftes Interesse verdient. Nicht zuletzt die beigefügte Film-DVD lässt auch visuell und akustisch etwas vom kämpferischen Geist in den damaligen Auseinandersetzungen erspüren.
Dietmar Lange
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