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„Junge Welt“ vom 22.11.2011

Buchmacherei gräbt fossil aus
Ein kleiner Berliner Verlag hat Richard Müllers »Geschichte der Novemberrevolution« neu herausgebracht»Wer ist Richard Müller?« fragte mich ein Kollege, der seit Jahrzehnten in der Redaktion der jungen Welt arbeitet. »Wußte ich bis vor ein paar Wochen auch nicht«, antwortete ich. Auf meinem Schreibtisch lag das druckfrische Rezensionsexemplar von Müllers dreibändiger »Geschichte der Novemberrevolution«, das nun dank der Initiative des kleinen linken Berliner Verlages »Die Buchmacherei« erstmals seit fast vierzig Jahren wieder in einer Neuauflage erscheint.

Nun ist »Richard Müller« vielleicht ein Allerweltsname, der sich im Gedächtnis nicht verhakt, aber bemerkenswert ist es schon, daß wir als gelernte und politgeschulte DDR-Bürger nie von ihm gehört hatten. Müller war 1918 Vorsitzender des Vollzugsrates der Arbeiter- und
Soldatenräte von Großberlin und damit immerhin einer der führenden Köpfe der Novemberrevolution. Seit 1914 war er als Leiter der Dreherbranche im Berliner Metallarbeiterverband auf dem linken Flügel der Gewerkschaften federführend an der Organisation eines oppositionellen Netzwerkes gegen den sozialdemokratischen Kriegskurs beteiligt. Im Juni 1916 organisierten diese »Revolutionären Obleute«, wie sie sich nannten, einen eintägigen Generalstreik gegen die Verhaftung Karl Liebknechts. Weitere politische Massenstreiks folgten.

Gemeinsam mit dem Spartakusbund und anderen USPD-Linken bildeten die Obleute das Rückgrat des Aufstands vom 9. November 1918. Müller kämpfte vehement für die volle Machtübernahme durch die Arbeiter- und Soldatenräte und lehnte die von den Mehrheitssozialdemokraten angestrebte Nationalversammlung ab.

Trotz politischer Übereinstimmung in zentralen Fragen sprach sich Müller 1919 noch gegen eine Beteiligung der Revolutionären Obleute an der KPD aus, solange diese nicht ihren »Putschismus« überwunden hätte. 1920 gehörte Müller zusammen mit Ernst Däumig zur linken USPD-Mehrheit, die sich für den Beitritt zur III. Internationale und die Vereinigung mit der KPD aussprachen. Schon 1922 wurde er, wie auch Däumig und der zeitweilige Parteivorsitzende Paul Levi, wieder ausgeschlossen, weil er die »Offensivstrategie«, die zur mißglückten Märzaktion von 1921 geführt hatte, und die sektiererische Linie der »Revolutionären Gewerkschaftsopposition« kritisiert hatte. Müllers drei Bände liegen nun zusammengefaßt in einem Buch wieder vor.
Der Historiker Ralf Hoffrogge, der Verleger und langjährige Aktivist der Berliner Gewerkschafslinken, Jochen Gester, und Rainer Knirsch als Lektor haben auf Grundlage der Originalausgaben des Malik-Verlages von 1924/25 eine behutsam editierte Neuauflage herausgebracht. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung gewährte einen Zuschuß zu den Druckkosten.

Müllers »Geschichte« ist wertvoll in dreifacher Hinsicht: Sie ist der erste umfassende Versuch, die deutsche Novemberrevolution aus marxistischer Sicht darzustellen. Sie ist zugleich ein packender Zeitzeugenbericht, geschrieben von einem ihrer Protagonisten (undähnelt in dieser Hinsicht Trotzkis »Geschichte der russischen Revolution«). Nicht zuletzt aber hat Müller eine reiche Sammlung von Zeitdokumenten und Quellen zusammengetragen, die ein lebendiges Bild dieser Revolution vermitteln. Bedauerlich ist, daß ein Personen- und vielleicht auch Stichwortregister im Anhang fehlt. Auch eine tabellarische Chronik wäre hilfreich gewesen. Die Ausstattung ist insgesamt spartanisch, aber akzeptabel. Es gibt kaum Druckfehler, die Typographie ist gelungen, die Umschlaggestaltung schlicht, aber ansprechend.

Jörn Boewe


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