Zurück zu allen Rezensionen zu Eine zweite Revolution? – Das Frühjahr 1919 in Deutschland und Europa
„Mitteilungen“ Nr. 58 / September 2020
„War das Frühjahr 1919 eine zweite Revolution? Nach dem Willen der Handelnden sicherlich. Aber sie hatten fast überall keine Chance.“
Die Geschichte der modernen Revolutionen seit der englischen Revolution 1640–1689 zeigt uns, dass Revolutionen relativ genau bestimmbare Phasen durchlaufen, Phasen der mobilisierenden Kämpfe, der Teilerfolge, der scheinbaren Stabilisierung, der Gegenrevolution und des neuen Anlaufs. Manchmal, wie das englische Beispiel und das Revolutionsjahr in Russland 1917 zeigen, sind es sogar zwei Revolutionen, die völlig unterschiedlichen Abläufen folgen und bei denen neue revolutionäre Akteure das Geschehen bestimmen. Die Frage, ob es sich bei den revolutionären und von der Rätebewegung bestimmten Kämpfen im Frühjahr 1919, die vor allem im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland, in Bayern und im Berliner Raum zur Durchsetzung der noch unerfüllt gebliebenen Forderungen des Novembers 1918 – Sozialisierung, Demilitarisierung, Rätedemokratie – geführt wurden, um eine zweite Revolution handelt, ist deshalb durchaus von wissenschaftlicher Relevanz. Und so fand am 9. März 2019, hundert Jahre nach dem Generalstreik in Berlin, im Rathaus Lichtenberg eine wissenschaftliche Tagung statt, durchgeführt vom Museum Lich-tenberg und von „Helle Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.
Der Generalstreik wurde in Berlin blutig niedergeschlagen, ausgelöst durch den Schießbefehl des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD), verschärft und zum bewussten grausamen Massaker eskaliert durch General Walther von Lüttwitz und ausgeführt von Regierungstruppen und Freikorps. Dass es sich bei Noskes Schießbefehl um eine Reaktion auf einen vermeintlichen Massenmord an Polizisten, um eine bewusst geäußerte Unwahrheit handelt, wird in den einleitenden Worten der Herausgeber vermerkt. Unsere Vereinsmitglieder Dietmar Lange und Axel Weipert haben sich in früheren Publikationen damit eingehend beschäftigt.1
Diese „Märzkämpfe“ forderten im Osten Berlins und in Lichtenberg mehr als 1200 Tote unter der Arbeiterschaft und den revolutionären Soldaten, die oft ohne Anlass und unter unmenschlichster Gewaltanwendung regelrecht hingerichtet wurden. Klaus Gietinger hat in seinem Buch „Blaue Jungs mit roten Fahnen“ an die Volksmarinedivision erinnert, gegen deren Mitglieder die Soldateska mit besonderer Grausamkeit vorging.2
An vielen Stätten in Berlin gedenkt man der Opfer des weißen Terrors. Auch das vorliegende Buch trägt zweifellos dazu bei. Der Leiter des Museums Lichtenberg, Thomas Thiele, würdigt die sozialen und demokratischen Hoffnungen der Streikenden und verurteilt die brutale Erstickung demokratischen Handelns mithilfe von Feldgeschützen, Mörsern und sogar Flugzeugen gegen die Wohnquartiere der eigenen Bevölkerung.
Die vier Herausgeber Axel Weipert, Stefan Bollinger, Dietmar Lange und Robert Schmieder, allesamt ausgewiesene Kenner und Publizisten der Materie, beschreiben die Absicht der Konferenz und mithin des Bandes: Die „Streiks, Unruhen, revolutionären Erhebun-gen und blutigen Auseinandersetzungen im Frühjahr 1919 in den Blick zu nehmen“. Zusätzlich betonen sie, dass im Frühjahr 1919 nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Staaten soziale Unruhen und politisch radikale Proteste einen neuen Anlauf nahmen. So wurde Großbritannien von einer Streikwelle erfasst und in Ungarn wurde die Räterepublik ausgerufen. Und zumindest in einer Hinsicht legen sich die Herausgeber und Autoren auf den Begriff der „zweiten Revolution“ fest. Dies widerspiegele die Erwartungen der jeweiligen Proteste, Streiks und Erhebungen: „Neben der Frage nach den Chancen und Möglichkeiten, die in diesen revolutionären Unruhen aufschienen, ging es aber auch um die gewaltsame und blutige Konterrevolution, mit der diese beendet wurden“.
In fünf Kapiteln wird der „zweiten Revolution“ nachgegangen. In „Schicksale der Revolution“ schreiben Marcel Bois, Mark Jones und Stefan Bollinger über die globale Perspektive, die Gewaltpolitik in Deutschland und über die historischen Erfahrungen aus zweiten Revolutionen. Bois geht dabei auf die Protestbewegungen ein, die hierzulande selten thematisiert werden, aber gravierende Folgen für die Vielvölkerreiche Österreich-Ungarn und Russland, für das Osmanische Reich und für Kolonialgebiete hatten. Jones entwickelt hier erneut, dass die ausgeübte Gewalt seitens des Staates sowohl Unterdrückungsinstrument als auch politische Botschaft war, um die staatliche Kontrolle über „die Straße“ zurück zu erlangen. Die Tragik zweiter Revolutionswellen wird bei Stefan Bollinger deutlich, wenn er problematisiert, dass die Bewegungen, die die uneingelösten radikaleren Revolutionsziele durchsetzen wollen, dabei von einer Verbindung der Gegenrevolution mit den neuen regierenden Kräften angegriffen wurden. In „Frauen und Revolutionen“ behandeln Gisela Notz linke Positionen der Frauenpolitik, Mirjam Sachse das – auch in der SPD nicht unbekannte – Leitbild der Frau als Staatsbürgerin im republikanischen Sinne und im Geist von 1848. Gisela Notz widmet sich vor allem den unzähligen vergessenen Revolutionärinnen wie Minna Faßhauer und Toni Sender (USPD) und weiteren Sozialistinnen, aber auch den bürgerlich-radikaleren Frauenrechtlerinnen wie Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, Helene Stöcker oder Rosa Kempf (DDP). „Frauen für die Räte, Frauen in den Räten“ ist ein weiterer Schwerpunkt ihrer verdienstvollen Ausführungen, die den Bogen von der Novemberrevolution bis zur heutigen Gefahr eines „roll back“ gegen die Frauen schlagen. Den beharrenden Kräften gilt das Augenmerk Miriam Sachses nachfolgend. Die europäische Perspektive wird in fünf Beiträgen vielfältig und sehr informationsreich bearbeitet. „Momente der Revolution“ beschreiben Pierro Di Paola (Italien), Péter Csunderlik (Ungarn), Reiner Tossdorff (Barcelonas Anarchisten), Simon Webb (Großbritannien) und Peter Haumer (Österreich). Klaus Wisotzky, Mario Hesselbarth und Sebastian Zehetmair beleuchten die „Chancen und Risiken des deutschen Frühlings 1919“ im Ruhrgebiet, in Mittel-deutschland und in Bayern. Abschließend untersuchen Axel Weipert, Klaus Gietinger und Dietmar Lange aus den Perspektiven der Rätebewegung, der Volksmarinedivision und der geschichtlichen Erinnerung die Märzkämpfe in Berlin. Weipert bilanziert: „Der Generalstreik stellte gleichermaßen den Höhe- und Wendepunkt der Berliner Rätebewegung dar. Zu keinem anderen Zeitpunkt gelang es ihr, eine derart breite Mobilisierung herbeizuführen. Angesichts der offenkundig veränderten Kräftever-hältnisse rückte danach die zweite Revolution in eine fernere Zukunft“. Gietinger ruft uns die Geschichte der Volksmarinedivision und ihrer Zerschlagung im März 1919 ins Gedächtnis. Lange beschäftigt sich in seiner Analyse der Geschichte des Gedenkens u.a. mit der tatsächlichen Zahl der Opfer, die sicher weit mehr als 1000 betragen dürfte. Außerdem führt er uns an Stätten des Gedenkens. In der Weimarer Republik polarisierte der März 1919 die Arbeiterschaft und die Gesellschaft. In der DDR gedachte man der Opfer auf vielfältige Weise, in der BRD überging man sie mehr oder weniger.
Der Band ist beim Verlag „Die Buchmacherei“ in Berlin erschienen, ein Verlag, der sich schon mehrfach um Publikationen zur Novemberrevolution und zum Kapp-Putsch verdient gemacht hat. War das Frühjahr 1919 eine zweite Revolution? Nach dem Willen der Handelnden sicherlich. Aber sie hatten fast überall keine Chance.
1 Dietmar_Lange: Massenstreik und Schießbefehl. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Berlin 2012; Axel Weipert: Die zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920, Berlin 2015.
2 Klaus Gietinger: Blaue Jungs mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19, Münster 2019.
Holger Czitrich-Stahl
„Mitteilungen“ – Herausg. vom Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V.
Dieser Beitrag erschien in einer verkürzten Version auch in der „jungen Welt“ vom 15.6.2020.
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