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„Ne znam“ – Zeitschrift für Anarchismusfoschung 1/2015
Volins politischer Werdegang nicht genügend ausgeleuchtet
Die durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Neuausgabe von Volins Unbekannter Revolution, die der vergriffenen, vom Hamburger Verlag Association 1974 besorgten dreibändigen Ausgabe folgt, liegt nun, erweitert um zwei von Roman Danyluk und Philippe Kellermann verfasste Einleitungen (S.11-30), vor. Der Verlag weist darauf hin, dass das „Volinsche Zeitzeugnis einen neuen Blick auf die sozialrevolutionäre Bewegung Russlands und der Ukraine ermöglicht“. (S.9) Etliche Leser werden sich ob dieser Behauptung verwundert die Augen reiben. In der Kellermanns Einleitung angefügten Literaturliste (S.28-30) sucht man vergeblich Belege für die in Russland „mittlerweile weiter fortgeschrittene historisch-akademische Forschung“, von der Danyluk spricht (S.13), sie enthält keinen einzigen Hinweis auf die seit den 1990er Jahren im russischen Sprachraum publizierten Memoiren, Dokumenteneditionen und Monographien zu den Themenkreisen Anarchisten, Sozialisten-Revolutionäre oder Kronstadt.
Volin beklagte während der Niederschrift des Manuskriptes, keinen Zugang zu wichtigen russischsprachigen Quellen zu haben. (Vgl. sein Vorwort zur Ausgabe.) Ein vierter, angekündigter Band der Unbekannten Revolution, der Dokumente enthalten sollte, ist nie erschienen. Heute, da viele dieser Texte veröffentlicht sind hätte dies nachgeholt werden können. So sind in Russland, um nur die vom Rosspen-Verlag heraus-gegebenen Dokumenteneditionen zu nennen, Ausgaben zur Geschichte der Anarchisten (2 Bände), der Linken Sozialrevolutionäre (3 Bände), der Sozialrevolutionäre (4 Bände), der So-zialrevolutionäre-Maximalisten (1 Band) sowie des Kronstädter Aufstandes (3 Bände) erschienen. Ignoranz gegenüber dem abrufbaren Wissens-/Forschungsstand ist kein gutes Markenzeichen. Eigentlich sollte die Sprachbarriere für Editoren, die das Werk eines russischen Anarchisten in den Blick nehmen, kein unüberwindbares Hindernis sein.
Der Zugang zur Russischen Revolution, der mit dieser Ende 1939, nach den Schauprozessen und den Kämpfen in Spanien, entstandenen Publikation der antikapitalistischen Linken angeboten wird, so eine weitere These, welche in den Einleitungen Kellermanns und Danyluks vertreten wird, unterscheidet sich von den Vorgaben der Parteiikonen, denen die Linke angeblich bis auf den heutigen Tag folgt. Es ist an der Zeit, mit einer umfassenden „historischen Inspektion“ des sozialen Experimentes der Revolution zu beginnen. Dies schließt eine Abkehr von der parteizentrierten Untersuchung ein. Um im Bild zu bleiben: Trotzki sitzt einem Irrtum auf, wenn er Stalin vor wirft, die Revolution verraten zu haben. (S.359) Denn bereits mit Lenin beschritt die Kommunistische Partei einen falschen Weg. Die Aktualität des Buches, so wird hervorgehoben, ergil)1 sich aus dem von Volin vorausgesagten Zusammenbruch des Sowjetsystems.
Die Fragen, um deren Beantwortung der Emigrant Wsewo-lod Michailowitsch Eichenbaum (1882-1945) in den ersten zwei Teilen des Buches ringt, sind seither von Linken „lagerübergreifend“ diskutiert worden. Zu den ersten gehörte Victor Serge, der sie in seinen 1942/43 geschriebenen Erinnerungen aufgriff. Ihre vorläufigen Antworten gehören heute zum Allgemeinwissen jener Generation, der die Standardlektüre des „Kurzen Lehrgangs“ (S.9) erspart geblieben ist.
Vier der wichtigsten von Volin diskutierten Themen seien hier genannt: (1.) Nicht die Exzesse der Stalinschtschina sondern der Bolschewismus (und insbesondere die Partei neuen Typs) wurden zum Problem für die Emanzipationsbewegung in Russland. (2.) Der Oktoberumsturz im Jahre 1917 mündete nicht in ein sozialistisches sondern in ein staatskapitalistisches System. (S.306) (3.) Die Zerschlagung revolutionärer, nichtbolschewistischer Parteien und Organisationen gehört zu den schwerwiegendsten Verbrechen der Bolschewiki. (S.181) (4.) Die Sowjetunion stellt als totalitärer Staat (S.341) eine Variante des faschistischen Systems („roter Faschismus“) dar. (S.326)
Dass die Unbekannte Revolution weder „Patentrezepte“ noch einen „Generalschlüssel“ enthält, ist – eine Binsenweisheit. Im Vorwort zur deutschsprachigen Erstausgabe ist davon die Rede: „Die erste These, die wir in diesem Zusammenhang aufstellen würden“, merkten die Herausgeber 1974 an, „wäre die, dass er [Volin] gar keine [Alternative anzubieten] hat.“ (S.39) An diese, im Abschnitt „Kritik an Volin“ enthaltene Polemik knüpfen Danyluk und Kellermann jedoch nicht an – Kellermann belässt es beim Hinweis auf eine anarchistische Kritik, die sich durch eine „Fokussierung des Politischen“ auszeichne (S.24).
Anknüpfend an Victor Serges vorzügliche Darstellung der Situation und Befindlichkeit der russischen Anarchisten zwischen Oktoberumsturz und Kronstadt – „dem beklagenswerten Chaos von sektiererischem guten Willen“ – hätte ich mir eine biographische Skizze gewünscht, in der Volins politischer Werdegang sowie sein Wirken im französischen und amerikanischen Exil analysiert werden. Das wäre mehr als hilfreich gewesen, denn der von Volins Freunden verfasste Text (S.44-47) genügt heute nicht mehr. Als Sozialist-Revolutionär gehörte Wsewolod Eichenbaum 1905 zu den Mitbegründern des Pe-tersburger Sowjets. Er wurde verfolgt und verurteilt. Aus der Verbannung floh er nach Paris. Hier verließ er 1911, nach der Entlarvung von Asef, die Partei der Sozialisten-Revolutionäre und schloss sich bis 1914 den Anarcho-Kommunisten um Apollon Karelin an.
Rosa Luxemburg hatte „die Pariser Entlarvung“ kommentiert und mit einer Kritik anarchistischer Stimmungen in der sozialistischen Bewegung verbunden. Russland, die Geburtsstätte des Anarchismus sollte auch zur Grabesstätte für Bakunins Lehre werden, sagte sie in Auswertung der 1905er Revolution in Russland voraus. Georgi Plechanow veröffentlichte 1911 im Berliner Singerverlag eine Streitschrift Anarchismus und Sozialismus. Volin schlug einen anderen Weg ein. Als er im Juli 1917 aus Amerika nach Russland zurückkehrte, gehörte er zu den Wortführern der Anarcho-Syndikalisten und entwickelte ein originelles Programm der wirtschaftlichen Umgestaltung des Agrarlandes. (Davon handelt der 2. Teil des vorliegenden Buches.)
Leider werden sowohl die oben angedeutete Debatte als auch die Diskussion unter den russischen Emigranten in den Vereinigten Staaten völlig ausgeblendet. Trotzki und Bucha-rin, Nowomirski und Tschudnowski gehörten zur Redaktion der von Ingerman in New York herausgegebenen Zeitung Nowy mir. In diesem Blatt publizierte u. a. Bucharin (auf ihn geht Volin – S.212 – ein) seine von Lenin als „halbanarchistisch“ kritisierten Artikel.
Es ist symptomatisch, dass Volin als Anhänger Kropotkins keine Sympathien für die in der Tradition von Proudhon und Stirner stehenden Anarcho-Individualisten hatte. Ob sich diese Haltung änderte, als Volin in Anbetracht der Krise des Anarchismus in Russland eine Sammlungsbewegung ins Leben rief, bleibt unbeantwortet. Volin zitiert im Buch ausgiebig aus der von ihm 1917/1918 herausgegebenen Zeitung Golos 7‘ru-da. Was die Besonderheit dieses Blattes gegenüber den anderen, von Anarchisten herausgegebenen Zeitungen ausmacht, erfährt der Leser nicht. Bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung überwogen die Gemeinsamkeiten in den Auffassungen russischer Revolutionäre. Volin konstatiert d ii• „vollkommene Parallelität“ seiner und Lenins Ideen, „ausge nommen dessen Vorstellungen über den Staat und die Macht“. (S.187) Ihn als „Lenin der russischen, anarchistischen Bewegung“ zu bezeichnen, wie es Franvois Lourbet im Vorwort zur französischen Neuauflage 1969 tut, ist jedenfalls völlig haltlos. Und nach dem Oktober traten die Differenzen deutlich hervor. Von 1918 bis 1920 kämpfte Volin an der Seite Machnos in der Ukraine. (Das ist der Gegenstand des 3. Teils des vorliegenden Buches.) In Sowjetrussland war er der Verfolgung durch die Bolschewiki ausgesetzt. Für März 1922 war ein Prozess gegen die Menschewiki geplant, im Juni/August 1922 fand ein Prozess gegen Sozialisten-Revolutionäre statt, im Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten wurde eine „Sonderberatung“ genannte Institution ins Leben gerufen, die das Recht hatte, Todesurteile in Verbannung oder Ausweisung abzuändern. Dies war eine Reaktion auf die nicht nur im Ausland zunehmenden Proteste gegen Verurteilungen zur Höchststrafe.
Bis in die Kominternführung hinein regte sich Widerspruch. Im Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands standen sich Befürworter und Kritiker des Roten Terrors gegenüber. Während die einen den Terror wörtlich nahmen, plädierten andere, es war die Minderheit in der Führung, für eine „politische Lösung“. Dritte wiederum traten als Bürgen für Verhaftete hervor, baten um die Entlassung ihrer Freunde aus vorrevolutionärer Zeit oder um die Umwandlung von Verbannung in Ausweisung.
Dutzende Eingaben, darunter von den Direktoren bzw. Arbeitskollektiven oder Angehörigen der Verhafteten, sind dokumentiert. Im Januar 1921, Eichenbaum saß im Butyrka-Gefängnis, leitete der Volkskommissar für Gesundheitswesen ein ihm zugegangenes Schreiben an den Volkskommissar für Innere Angelegenheiten weiter. Es enthielt, unter Hinweis auf den schlechten Gesundheitszustand des Gefangenen die Bitte um Hafterleichterung. Die Trauerfeiern für den im Februar 1921 verstorbenen Kropotkin nutzten die Anarchisten um ihrem Protest gegen die Bolschewiki Ausdruck zu verleihen. Sie folgten dem Beispiel der Menschewiki, die Plechanows Beisetzung in Petrograd auf vergleichbare Weise genutzt hatten. Am 5. Januar 1922 erfolgte Eichenbaums Ausweisung.
In Berlin angekommen, führte er seine Arbeit, unterstützt von der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union, weiter. Er übersetzte u. a. Arschinows Studie über die Mach-no-Bewegung, die dem 3. Teil des zu rezensierenden Buches zugrunde liegt. Für eine Bibliographie seiner im Exil (19221945) publizierten Artikel wäre im Band gewiss noch Platz gewesen. Im Unterschied zu seinem Freund und Kampfgefährten Pjotr Andrejewitsch Arschinow (1887-1938), der 1931 mit dem Anarchismus brach und Ende 1934 in die UdSSR zurückging, blieb Volin seinen Prinzipien treu.
Bleibt nur festzustellen, dass die vorliegende Nachauflage die von Volin angestoßene Debatte nicht auf neuer Stufenleiter weiterführt, sondern lediglich den Stand von 1975 dokumentiert. Herausgeber und Verlag hätten sich die Zeit nehmen sollen, eine am Forschungsstand orientierte und sachkundig kommentierte Ausgabe vorzulegen. Auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung hätte es gut zu Gesicht gestanden, im Vorfeld des 100. Jahrestages der Russischen Revolution ein solches Zeichen zu setzen. Doch diese Chance ist – warum auch immer – mit der vorliegenden Publikation nicht genutzt worden.
Wladislaw Hedeler (Berlin)
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