Zurück zu allen Rezensionen zu Sechs Tage der Selbstermächtigung

„Neue Rheinischen Zeitung“ vom 11.1.2006

Das Buch zum „wilden Streik“ bei Opel Bochum 2004 –
Selbstorganisation ist unverzichtbar
Im Oktober 2004 kam es zu einem sechstägigen Streik der Opelbelegschaft in Bochum. Die Konzernleitung wollte 10.000 Arbeiter und Arbeiterinnen in der Produktion loswerden. Die Produktion sei zu teuer, der Konzern zu wenig gewinnträchtig. Das war die Ausgangslage, der Anlass, der die Belegschaft auf die Palme brachte. Sie hörte einfach auf zu arbeiten.

Opel ist keine Ausnahme. In der gesamten Industrie werden Arbeitsplätze wegrationalisiert, auch in der Automobilindustrie stehen Tausende zur Disposition, bei Ford in Köln aktuell 1.200, bei Daimler-Chrysler über achttausend. Dass die Opelbelegschaft in Bochum mit einem selbst initiierten sechstägigen Streik reagierte, hatte eine Vorgeschichte. Das vorliegende Buch öffnet nun noch einmal das Drehbuch dieses Streiks.

Tiefe Spuren hinterlassen

Die LeserInnen erfahren, dass es in der Bundesrepublik seit ihrer Entstehung immer wieder so genannte wilde Streiks gegeben hat. Von 1949 bis 1980 über 2000 außerhalb der offiziellen Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden. Bis 1968 waren mehr als 80% der Arbeitsniederlegungen nicht durch das offizielle Streikverfahren der Gewerkschaften abgedeckt. Opel war 1973 einer von über 300 Metallbetrieben, wo es solche Streiks gab. Der Kampf um den Erhalt des Stahlstandortes in Rheinhausen, Ende der siebziger Jahre, hat viele Menschen im Ruhrgebiet geprägt. Dieser Kampf hinterließ tiefe Spuren einer „Autonomie des sozialen Handelns, die eine schnelle Befriedung der wütenden Stahlarbeiter über Wochen hinaus unmöglich machte.“

Das Opelwerk wurde in den sechziger Jahre in Bochum in Betrieb genommen. Der einsetzende Strukturwandel im Ruhrgebiet hatte zum Arbeitsplatzabbau im Bergbau und in der Stahlindustrie geführt. Ein Teil der Arbeiter wurde in der Automobilproduktion neu angelernt. Und die ersten „Gastarbeiter“ kamen, vor allen Dingen Spanier, die politischer waren als ihre deutschen Kollegen. Es gab mehr Widerstand gegen die Zumutungen der Konzernherren, aber auch gegen die Zugeständnisse aus der Betriebsratshierarchie.

Gruppe oppositioneller GewerkschafterInnen

Im Bochumer Opelwerk fand sich Anfang der siebziger Jahre eine Gruppe oppositioneller GewerkschafterInnen zusammen. Die GoG (heute nennt sich die Gruppe „Gegenwehr ohne Grenzen“) wurde bald zum Markenzeichen einer linksradikalen Kritik, die Gewerkschaften und Betriebsräten zu schaffen machte. Trotz massiver Angriffe von Seiten der Funktionäre gewannen die Oppositionellen an Ansehen, und immerhin wurden fünf von ihnen in den Betriebsrat gewählt. Im Kampf um menschlichere Arbeitsbedingungen, bessere Bezahlung und gegen Entlassungen hatten Betriebsratsmehrheit und IG Metall-Leitung immer dafür gesorgt, dass sich keine Flächenbrände entwickelten und Auseinandersetzungen schnell beendet wurden. Mit Hilfe der zentralistischen Organisationsstruktur behielten sie alles im Griff.

Die GoG setzte der gewerkschaftlichen Stellvertreterpolitik das Bemühen um ein selbst bestimmtes Handeln der Belegschaft entgegen. Damit war der Kampf gegen die Ausbeutungsinteressen des Konzerns auch immer eine Auseinandersetzung um Freiräume selbst bestimmten Handelns innerhalb wie außerhalb der gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen. Der Streik der Bochumer Opelbelegschaft im Oktober 2004 war nach Einschätzung der GoG-KollegInnen ein Ergebnis dieser jahrelangen Auseinandersetzung: Die Belegschaft hatte die Arbeit ohne gewerkschaftliche Urabstimmung und ohne das Wohlwollen der Betriebsratsmehrheit einfach niedergelegt.

Interviews mit den „alten Hasen“

Die Autoren haben Interviews geführt: mit den „alten Hasen“ der GoG, einer Jugendvertreterin und mit Aktiven, die inzwischen ausgeschieden sind. Vorgeschichte, Streikverlauf, Mut, Ängste, Wut und Hindernisse, offene Fragen, die die Zukunft stellt, all dies wird in den Berichten und Reflexionen, die teilweise in einen diskursiven Zusammenhang einmünden, anschaulich und spannend aufgegriffen. Die Positionen schwanken zwischen Skepsis und Zuversicht, was den Erfolg angeht. Denn die Taktik der Betriebsratsmehrheit und der örtlichen IG-Metallführung, das Heft wieder in die Hand zu bekommen, war am Ende doch aufgegangen. Am Ende kamen hohe Abfindungen für diejenigen heraus, die nun freiwillig gingen.

Die Frage, die sich die KollegInnen gegenseitig stellten: „Rechnest du schon oder arbeitest du noch?“ Aber die prekäre Situation blieb. Die Leute müssen für weniger Geld mehr arbeiten und wissen trotzdem nicht, wie es in Zukunft weiter bestellt ist um das Werk in Bochum. Die Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung ermöglicht es, Entlassungen auszusprechen, wenn nicht genügend Freiwillige gehen. Teile der Produktion sind ausgelagert oder werden noch ausgelagert.

Auf internationaler Ebene gab es Solidaritätsbekundungen. Der Bericht eines schwedischen Kollegen offenbarte aber auch die Doppelzüngigkeit der schwedischen Funktionäre, die sich offiziell solidarisch äußerten, in Wirklichkeit aber der Logik des Standortwettbewerbs nachgaben, statt einen Solidaritätsstreik zu initiieren. Durch die gewerkschaftliche Zurückhaltung auf internationaler wie nationaler Ebene blieb die Solidarität zu schwach, um die Konkurrenzlogik zu durchbrechen.

Kritik an den Gewerkschaften

Die Kritik an den Gewerkschaften richtet sich in den Interviews sowohl gegen die Verinnerlichung der kapitalistischen Konkurrenz- und Profitlogik als auch gegen die autoritären Organisationsstrukturen und das Verhalten maßgeblicher Funktionäre. Ein Interviewpartner meint gar, dass Gewerkschaften und Parteien auf den Müllhaufen der Geschichte gehörten, da sie für gesellschaftliche Bewusstseinsveränderungen nicht tauglich seien. Man müsse die Menschen selbst entscheiden und machen lassen. Der Streik habe gezeigt, dass dies möglich sei. Gewerkschaften verhinderten geradezu die für ein kritisches Selbstbewusstsein notwendige Autonomie der Handelnden. „Für mich ist Selbstorganisation der unverzichtbare Schritt, in dem die Leute Luft zum Atmen bekommen.“

Aber was ist ohne Gewerkschaften? Sind die Beschäftigten dann nicht gänzlich schutzlos gegenüber der Willkür der UnternehmerInnen? Eine andere Option wäre die Nutzung und Umfunktionierung betrieblicher Gewerkschaftsstrukturen. Eine Lehre aus dem Streik sei das Versäumnis, mit Hilfe der Vertrauensleute ein Streikkomitee aus der Belegschaft zu wählen und die Verhandlungen mit dem Vorstand nicht wieder dem Betriebsrat zu überlassen, meinen die damals Aktiven. Dadurch habe sich die Mehrheit der Leute wieder an den alten Interessensstrukturen orientiert und gehofft, dass die Mitbestimmer, die das Sagen haben, schon was Vernünftiges machen würden.

Frage nach einer gesellschaftlichen Alternative

Die Interviewtexte erzeugen eine Spannung, die die Frage nach einer gesellschaftlichen Alternative aufwirft. Es entsteht ein Anreiz, in Gedanken mitzudiskutieren. Die „Naturgesetzlichkeiten“ der kapitalistischen Produktion müssten in Frage gestellt werden, weil die ArbeiterInnen im Endeffekt sonst immer die VerliererInnen bleiben würden. Auch in den siebziger Jahren sei das System von „unwürdiger Arbeit und kapitalistischer Unterdrückung gezeichnet“ gewesen. Dass die ArbeiterInnenschaft trotz flächendeckender Vernichtung industrieller Arbeitsplätze nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, formuliert die Jugendvertreterin aus ihrem Streikerlebnis heraus: „Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, welche Kraft doch in diesen ‚unwichtigen und machtlosen‘ Arbeitern steckt.“ Dem steht an anderer Stelle allerdings die Aussage gegenüber, dass eine andere Denke bei den meisten kein Bedürfnis sei.

Wie eine andere Welt aussehen könnte, ist nicht das Thema des Buches. Um aber in eine Offensive zu gelangen, sei eine Perspektivdebatte notwendig, die das Bedürfnis für ein positives Ziel gesellschaftlicher Veränderung wecke. Ein Interviewpartner kritisiert, dass Vorstellungen von einem besseren Leben jenseits der Fabriken zu sehr von Nischen-Träumen geprägt seien. Aber mit den „Quantensprüngen in der Arbeitsproduktivität“ kommt die Frage zum Vorschein: und was kommt nach der Fabrik? Hier bleibt die Sicht auf selbst verwaltete, alternative Projekte noch verschlossen. Und: als Leser frage ich mich: warum nicht mehr Frauen in die Diskussion einbezogen wurden und Menschen, die außerhalb des Betriebes den Streik tatkräftig unterstützt hatten.

Trotzdem: Ich habe das Buch mit Spannung gelesen. Es aktualisiert die alte Frage nach dem Verhältnis von Organisation und ArbeiterInnen, aber nicht auf einer hoch theoretischen Ebene, sondern durch konkret handelnde Menschen mit ihren Biographien, Sorgen, Freuden und Ansichten.

Werner Ruhoff


Zurück zu allen Rezensionen zu Sechs Tage der Selbstermächtigung